Akademik

Antisemitismus
Judendiskriminierung; Judenfeindlichkeit; Judenhass

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An|ti|se|mi|tịs|mus 〈m.; -; unz.〉 Judenfeindschaft; Ggs Philosemitismus [→ Antisemit]

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An|ti|se|mi|tịs|mus, der; -, …men:
a) Abneigung od. Feindschaft gegenüber den Juden;
b) [politische] Bewegung mit ausgeprägt antisemitischen Tendenzen.

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I
Antisemitịsmus
 
der, -, seit etwa um 1880 verbreiteter politisch-ideologischer Begriff, bezeichnet sowohl die Abneigung oder Feindseligkeit gegen Juden als auch (nationalistische) Bewegungen mit ausgeprägten judenfeindlichen Tendenzen; heute v. a. als Sammelbegriff zur Kennzeichnung unterschiedlich motivierter individueller und kollektiver antijüd. Einstellungen und Handlungen verwendet. Von dem Publizisten Wilhelm Marr (* 1819, ✝ 1904) 1879 ursprünglich im Rahmen einer Ideologie der Zurückdrängung des jüdischen Einflusses im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben geprägt und gebraucht, knüpft die Bezeichnung Antisemitismus sprach- und sachlogisch an den Begriff Semitismus an, der, aus der theologisch-historischen Literatur kommend, im 19. Jahrhundert Eingang v. a. in Sprachwissenschaft und in Völkerkunde fand (Semiten) und sich im weiteren Sprachgebrauch verselbstständigte. Er wurde vielfach mit einem stark negativen Akzent versehen und als abwertende Bezeichnung für Geist und Lebensart des Judentums gebraucht, die es im Zeichen eines »Anti-Semitismus« zu bekämpfen gelte. Damit erfahren, vom Sprachwissenschaftlichen her gesehen, die Begriffe »Semitismus« und »Antisemitismus« besonders im politisch-ideologischen Raum eine Einengung auf das Jüdische; der Begriff ist somit irreführend, da nicht die Gesamtheit der semitischen Völker (z. B. auch Araber) gemeint ist.
 
 Ältere Formen der Judenfeindlichkeit
 
Bereits in der Spätantike, besonders jedoch im Hoch- und Spätmittelalter, lösten das aus dem Anspruch der Juden auf Exklusivität (Auserwähltheit des Volkes Israel; auserwähltes Volk) erwachsende innerjüdische Zusammengehörigkeitsgefühl sowie ihre Bemühungen, als Minderheit ihre kulturelle, v. a. religiöse Identität in Abgrenzung gegen die nichtjüdische Umwelt auch in der Diaspora zu bewahren, Diskriminierungen und Verfolgungen aus; religiöser Fanatismus christlicher Eiferer, die, unter Berufung auf verschiedene Bibelstellen (z. B. 1. Thessalonicherbrief 2, 15; Johannes 8, 44) in den jüdischen Zeitgenossen die Nachfahren derer sahen, die Jesus Christus getötet haben, und sie kollektiv dafür verantwortlich machten (»Gottesmord«-Vorwurf), provozierten in mehreren Ländern Europas starke Wellen des Judenhasses, die sich oft zu Pogromen und Vertreibungen steigerten (Judenverfolgung). Im Prinzip richtete sich die Judenfeindlichkeit gegen das religiös-kulturelle Sonderdasein der Juden in christlichen und in geringem Maße auch in muslimischen Kulturen; der Jude, der sich taufen ließ, wurde daher als vollgültiges Mitglied der Kirche anerkannt. Zwangsbekehrung der Juden zum »wahren« Glauben war so das vordergründige Ziel der mittelalterlichen (christlichen und seit dem 11./12. Jahrhundert auch der muslimischen) Gesellschaft.
 
Neben das religiöse Moment in der mittelalterlichen Judenfeindlichkeit im christlichen Europa trat in dieser Zeit auch ein wirtschaftliches. Da den Juden aufgrund von Konzilsbeschlüssen der Kirche Grundbesitzerwerb, Ackerbau und viele handwerkliche Berufe (Zünfte) untersagt waren, ihnen aber zugleich das den Christen verbotene Zinsnehmen erlaubt wurde, sahen sie sich hinfort oft aufgrund eines durch die christliche Umwelt erzwungenen Sozialverhaltens dem Vorwurf des Wuchers ausgesetzt; es entstand das (Zerr-)Bild vom »Schacher-« und »Wucherjuden«. Die Judenfeindlichkeit im hohen und ausgehenden Mittelalter entzündete sich somit primär an der religiösen und sozialen Absonderung der Juden in der (christlich geprägten) Gesellschaft und zielte bis ins 19. Jahrhundert hinein auf die religiöse und soziale Assimilation der jüdischen Minderheit; diese traditionelle, vom modernen (politischen) Antisemitismus zu unterscheidende Judenfeindschaft (Antijudaismus) blieb durch die Jahrhunderte geprägt vom »Gottesmord«-Vorwurf der christlichen Theologie und Kirche sowie dem von den Kirchenvätern mitgeschaffenen Bild vom »verstockten«, »verderbten« Juden, symbolisiert in der Gestalt des Ahasver, beziehungsweise vom »verworfenen Gottesvolk«. Der solcherart von mannigfachen Quellen gespeiste christlich-jüdische Antagonismus führte zu vielfältigen Formen der Diffamierung der Juden (u. a. Anschuldigungen der Brunnenvergiftung, der Hostienschändung oder des Blut- und Ritualmordes), zu Ausgrenzungen (u. a. Isolierung durch Getto, Judenkennzeichen, mindere rechtliche Stellung, mitunter aufgehoben durch Schutzbriefe) und schließlich zu ihrer Dämonisierung (personifizierter Teufel beziehungsweise Antichrist; Teufelssohnsschaft), verbunden mit vielfältigen abergläubischen Vorstellungen (Verteufelung des Talmud, der Kabbala usw.).
 
 Das Wesen des modernen Antisemitismus
 
Mit der Veränderung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen in Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Übergang zur entstehenden modernen Industriegesellschaft, Erstarken des Nationalstaats, verschärfter Nationalismus) entstand eine neue, stärker politische Form der Judenfeindschaft. Dieser moderne (völkisch-rassistische) Antisemitismus ist die säkular gewordene Form der traditionellen Judenfeindschaft und ihre Ideologie; sie richtet sich primär gegen den Menschen jüdischer Herkunft, erst sekundär gegen den Angehörigen der jüdischen Religion. Auch ein zum Christentum übergetretener Angehöriger der jüdischen Religion gilt dem modernen Antisemitismus weiterhin als Jude. Der moderne Antisemitismus wendet sich sowohl gegen assimilierte als auch gegen nichtassimilierte Menschen jüdischer Herkunft. Er bekämpft ihre politische, soziale und rechtliche Gleichstellung mit den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft. Der Begriff des Juden wurde für die Verfechter des Antisemitismus zum Inbegriff des Negativen, nicht so sehr im Gegensatz zum »Christen«, sondern zum Arier. In die Vorstellung vom Juden als Mensch von einer (abzulehnenden) Eigenart und Herkunft flossen viele der in der Tradition der abendländischen Judenfeindschaft erwachsenen negativen Anschauungen ein.
 
Der moderne Antisemitismus ist - historisch gesehen - eine feindliche Reaktion auf die Emanzipation (bürgerliche Gleichstellung) der Juden seit dem 18. Jahrhundert, wie sie besonders im westlich-abendländischen Bereich stattfand (Haskala), philosophisch-moralisch durch die Aufklärung vorbereitet, durch die Französische Revolution von 1789 politisch gefördert und bis ins 19. Jahrhundert hinein auf rechtlichem Gebiet weitgehend verwirklicht worden war (in Preußen seit 1810, in Deutschland durch die Emanzipationsgesetzgebung 1869/71). Der moderne Antisemitismus entsprach zugleich der kulturellen Symbiose, die sich seit dem 18. Jahrhundert in West- und Mitteleuropa herausgebildet hat und mit dem Übertritt vieler Angehöriger des jüdischen Glaubens zum Christentum einherging. Der entstehende moderne Antisemitismus sah in dem nach Emanzipation strebenden Juden den Exponenten einer von ihm missbilligten Entwicklung von Staat und Gesellschaft; er bekämpfte ihn als Repräsentanten moderner Staats- und Gesellschaftstheorien (Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus, Materialismus) sowie als Verantwortlichen u. a. für die Widersprüche der Gesellschaft und ihrer sich bildenden pluralistischen Struktur, für Traditionskritik und aufklärerisches Gedankenpotenzial, für den großen Einfluss einer kritischen Presse und den Mangel an nationaler Integrität. Die starke Stellung von Juden im Finanzwesen rief einen latenten, sozial motivierten Antisemitismus hervor, der in Perioden starker politischer Spannungen (z. B. 1819 oder 1848) in Ausschreitungen gegen Menschen jüdischer Herkunft umschlug. Größeren Einfluss gewann der moderne Antisemitismus aber erst im späten 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der durch die ernsten Wirtschaftskrisen der großen Depression (1873 bis 1895/96) verursachten Krise des Liberalismus und der durch die industrielle Revolution eingeleiteten sozialen Umschichtung. V. a. seit dieser Zeit verbanden sich antisemitische Vorstellungen in immer stärkerem Maße mit nationalistischen, aber auch mit monarchisch-konservativen, christlichen, antiliberalen und antikapitalistischen Vorstellungen: In (gefühlsmäßig-irrationaler oder auch radikaler) Ablehnung des als Bedrohung anmutenden Fortschritts wurde in fast allen europäischen Ländern das Judentum stigmatisiert zum fremden (»asiatisches«) Element, das als Quelle allen Übels und aller Beunruhigung galt (eine Chiffre, die bis in die Gegenwart - Osteuropa - wirkt); in Deutschland ersetzte pangermanisches Sendungsbewusstsein, fußend auch in der »Deutschtümelei« des frühen 19. Jahrhunderts (u. a. »Christlich-deutsche Tischgesellschaft«, um 1810), den Antagonismus Christentum - Judentum durch den Antagonismus Germanentum - Judentum. Gleichzeitig mit dem modernen Antisemitismus in Europa - und als Reaktion darauf - entstand Ende des 19. Jahrhunderts der Zionismus.
 
Vor diesem ideologischen Hintergrund entwickelten die Antisemiten ihre Lehre zu einem System, das ihnen die Erklärung und Lösung aller Weltprobleme bot, und verbanden es mit einer biologisch-deterministischen Rassenlehre. Unter Anknüpfung an bestimmte, im 19. Jahrhundert schon umstrittene Rassentheorien erhoben sie den Begriff der »Rasse« zum obersten Erklärungsprinzip der geschichtlichen Welt: Der Begriff der Rasse wurde als zentraler Schlüsselbegriff zunächst historisiert, später ideologisiert und zum Schluss politisiert. So erfuhr der Antisemitismus im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine starke Radikalisierung: Er forderte nicht allein die Zurückdrängung des jüdischen Einflusses, sondern darüber hinaus die Ausweisung und schließlich die Vernichtung von Menschen jüdischer Herkunft.
 
 Die Entwicklung des Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert
 
Das Scheitern der Bewegung von 1848 stärkte in Deutschland eine nationalistische Ideologie, die sich in Kultur und Ethik von »dem rassisch anders gearteten« jüdischen Wesen distanzieren zu müssen glaubte. In diese Richtung wies bereits R. Wagners Schrift »Das Judentum in der Musik« (1850). In den nächsten Jahren wuchs die antisemitische Literatur in Deutschland an. J. F. Fries, H. E. G. Paulus, Karl Streckfuss (* 1778, ✝ 1844) und E. Dühring (»Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage«, 1881), aber auch der Franzose E. Renan rechnen ebenso zu den geistigen Vätern des deutschen Antisemitismus wie P. A. de Lagarde, A. J. Langbehn und Éduard Adolphe Drumont (* 1844, ✝1917). Besondere agitatorische Wirksamkeit entfalteten Theodor Fritsch (* 1852, ✝ 1933; »Antisemiten-Katechismus«, 1887, erreichte bis 1940 als »Handbuch der Judenfrage« 40Auflagen), August Rohling (* 1839, ✝ 1931) und W. Marr (»Der Sieg des Judentums über das Germanentum«, 1879); sie trugen sehr zur Popularisierung des Antisemitismus bei. Die theoretischen Erörterungen, die sich besonders um die Rassenlehren von J. A. Comte de Gobineau (»Essai sur l'inégalité des races humaines«, 4 Bände, 1835-55, deutsch »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen«) und H. S. Chamberlain (u. a. »Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts«, 1899) entspannen, hatten großen Einfluss auf eine Entwicklung des Antisemitismus in Deutschland. Der mittelalterliche Judenhass erwies sich nun keineswegs als überwunden, wenngleich im Gegenzug auch vereinzelt philosemitisches Gedankengut zunahm.
 
Ab 1879/80 entwickelten sich in Deutschland antisemitische Parteien und Sammlungsbewegungen. 1879 hatte W. Marr die »Antisemitenliga« gegründet und ihr ein publizistisches Organ geschaffen. Doch erst die judenfeindlichen Reden des preußischen Hofpredigers A. Stoecker, der 1880 die »Berliner Bewegung« gründete, verhalfen in der Öffentlichkeit dem Antisemitismus zum Durchbruch. 1884 entstand der »Deutsche Antisemitenbund«, 1889 die »Antisemitische deutsch-soziale Partei«, 1890 die »Antisemitische Volkspartei« (seit 1893 »Deutsche Reformpartei«). Mit der Wahl von 16 Abgeordneten in den Deutschen Reichstag erreichte der ältere Antisemitismus in Deutschland seinen Höhepunkt. Der Antisemitismus fand jedoch besonders auch Eingang im Verbandswesen, v. a. im »Alldeutschen Verband«, aber auch im »Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband« oder im »Verband der Vereine Deutscher Studenten« (VVDSt). Der Historiker H. von Treitschke machte den Antisemitismus gesellschaftsfähig und löste an der Berliner Universität den »Antisemitismusstreit« mit seinem Fachkollegen T. Mommsen aus. Gegner des Antisemitismus sammelten sich im »Verein zur Abwehr des Antisemitismus« (1891-1933).
 
In Österreich entstand nach 1880 eine einflussreiche antisemitische Bewegung besonders durch Georg Ritter von Schönerer (»Pangermanische Bewegung«) und K. Lueger in der »Christlich-sozialen Partei«.
 
Im Zusammenhang mit der stark sozialdarwinistischen Strömung in Westeuropa gewann der rassistisch motivierte Antisemitismus auch in Frankreich an Einfluss (É. A. Drumont, »La France Juive«, 1886) und gelangte mit der Dreyfusaffäre auf einen Höhe- und Wendepunkt. Während im Westen die politische Wirksamkeit des Antisemitismus trotz verschiedener neu entstandener Organisationen (u. a. Action française) begrenzt blieb, fand er in Deutschland und Österreich-Ungarn, zum Teil durch den Einfluss angesehener Persönlichkeiten (z. B. durch R. Wagner und H. von Treitschke), sowie in Osteuropa, wo damals die Mehrheit der Juden lebte, starke Verbreitung, besonders in Polen, in Russland (antijüdische diskriminierende Gesetzgebung 1804 und 1882: Zusammendrängung der Juden in städtischen Gettos, in Handwerk und Kleinhandel; Pogrome 1881/82 und 1905/07) und in der Ukraine.
 
Nach der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg und der Verarmung und politischen Desorientierung breiter Schichten in diesen Ländern nahm der Antisemitismus an Umfang und Schärfe besonders in den extrem rechtsgerichteten, antiparlamentarischen Kreisen zu. Sie schoben den Menschen jüdischer Herkunft als angeblichen Anhängern des »Bolschewismus« die Schuld am Umsturz von 1918 (»Novemberrevolution«) zu; der Mord an dem deutschen Außenminister W. Rathenau (1922) stand in diesem Zusammenhang. Sie erklärten den Einfluss der Juden in Wirtschaft, Kunst und Literatur als »zersetzend«. Den antisemitischen Agitatoren galten Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus und Kommunismus nur als verschiedene Ausprägungen einer zielgerichteten, »parasitären« jüdischen Unterwanderung; »der Jude« galt ihnen als »Parasit am Volkskörper«. Der Antisemitismus verband sich nunmehr mit einem extremen Biologismus. Die von dem früheren General E. Ludendorff und seiner zweiten Frau Mathilde geführte Bewegung (»Tannenbergbund«) sowie der Nationalsozialismus nahmen diese Tendenzen auf. Die NSDAP stellte sich an die Spitze der antisemitischen Agitation und sog - aufgrund ihrer judenfeindlichen Radikalität - die übrigen antisemitischen Strömungen allmählich auf. Das Parteiprogramm der NSDAP von 1920 forderte, dass kein Jude deutscher Volksgenosse sein dürfe. A. Hitler, in seiner Jugend u. a. durch Schönerer und Lueger beeinflusst, bezeichnete den Antisemitismus als »Zement« der nationalsozialistischen Bewegung. A. Rosenberg, einer der führenden Ideologen der nationalsozialistischen Bewegung, legte eine erwiesene Fälschung vor: »Die Protokolle der Weisen von Zion«, entstanden in Russland (1905), um eine angeblich geplante »jüdische Weltverschwörung« zu dokumentieren, womit er an eine alte antijüdische Legende anknüpfte. Die konservative Kritik an dem stark von jüdischen Intellektuellen getragenen kulturellen Leben und die nach 1918 verstärkte Einwanderung von Menschen jüdischer Herkunft aus Ostmittel- und Osteuropa begünstigten - in Wechselwirkung - antijüdische Affekte und Agitationen im Deutschland der Weimarer Republik. Aber auch in Osteuropa, v. a. in Polen und im Baltikum sowie in Rumänien und Ungarn, kam es zur nationalistischen Radikalisierung des durch Aufklärung und Liberalismus nur oberflächlich überdeckten Antisemitismus und zu antijüdischen Ausschreitungen, zum Teil auch beeinflusst vom deutschen Antisemitismus, v. a. in der nationalsozialistischen Zeit. In der Sowjetunion wurde der Antisemitismus, nach Pogromen während der Oktoberrevolution und des Bürgerkrieges (1917/18-1920/21), v. a. in der Ukraine (Polnisch-Russischer Krieg), in den 1920/30er-Jahren im Zuge einer Liberalisierungspolitik (u. a. Aufhebung aller rechtlichen Beschränkungen für Juden, hoher Anteil von Juden in der Partei- und Staatsführung) zunächst bekämpft; erst ab Ende der 30er-Jahre fand der Antisemitismus wieder verstärkt Verbreitung und wurde parteiamtliche Regierungspolitik (u. a. Schließung aller jüdischen Einrichtungen, Unterdrückung der jüdischen Kultur im 1934 gebildeten Jüdischen Autonomen Gebiet um Birobidschan).
 
Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland (1933) und der Errichtung eines diktatorischen Regierungssystems (»Drittes Reich«) suchten Hitler sowie die von ihm geführten Regierungsorgane und Parteigliederungen Staat und Gesellschaft sowohl auf administrativ-gesetzlichem Wege (Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, 1933; Nürnberger Gesetze, 1935; u. a. ab 1933 Verpflichtung bestimmter Deutscher zum Ariernachweis, der Juden ab 1938 zur Annahme jüdischer Zwangsnamen und ab 1940 zum Tragen des Davidsterns) als auch unter dem Druck terroristischer Aktionen v. a. der SA (Boykott jüdischer Geschäfte, April 1933; judenfeindliche Ausschreitungen, v. a. in der Reichspogromnacht [Kristallnacht], 9./10. 11. 1938) im antisemitischen Sinne radikal und gewalttätig umzuformen. Mit einem »diskreten« Antisemitismus (G. Mann) suchte z. B. die neutrale Schweiz der zunehmenden Einwanderung von Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes zu begegnen (u. a. ab 1938 Kennzeichnung deutscher jüdischer Pässe mit J, ab 1941 Einbürgerungsbeschränkungen).
 
Nach der Besetzung fast ganz Europas durch Deutschland im Zweiten Weltkrieg (1939-45) fand der Antisemitismus mit der Ermordung eines Großteils der europäischen Juden v. a. in den Vernichtungslagern der SS (Holocaust) mit aktiver Unterstützung antisemitischer Kreise in den okkupierten Ländern (v. a. Polen, Litauen, Lettland, Ukraine, Österreich und Ungarn; in Frankreich nach der 1940 auf Veranlassung der deutschen Besatzungsbehörden erstellten »Judenkartei«) seine größte verbrecherische Ausprägung. Dieser nach der Wannseekonferenz (1942) forcierten gnadenlosen totalen Judenvernichtung (so genannte »Endlösung der Judenfrage«) fielen etwa sechs Mio. Menschen jüdischer Herkunft zum Opfer. Der Völkermord (Genozid) am europäischen Judentum deckte noch einmal die prinzipielle Amoralität des Antisemitismus auf; zu seinem Synonym wurde das Vernichtungslager Auschwitz(-Birkenau).
 
 Ächtung und Wiederaufleben des Antisemitismus
 
Der Genozid am europäischen Judentum, den der Nationalsozialismus in Europa in Gang setzte, führte zu einer weltweiten Ächtung des Antisemitismus. Er wird heute als Vorurteil gewertet, das in schwerwiegender Form gegen die Menschen- und Bürgerrechte verstößt, so wie diese v. a. in der Charta der UNO (1945) und in der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) niedergelegt sind.
 
In Deutschland entwickelten sich ernsthafte Bemühungen, den Antisemitismus zu überwinden. Seit 1946/47 entstanden in der (späteren) Bundesrepublik Deutschland Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Der Vermittlung persönlicher Kontakte und dem Gedankenaustausch zwischen Juden und Christen widmen sich auch verschiedene kirchliche Arbeitsgruppen. Antisemitische Handlungen und Äußerungen (z. B. Zeigen des »Hitlergrußes«, Verwendung nationalsozialistischer Embleme und insbesondere die Leugnung oder Verharmlosung des Genozids an den Juden während des Zweiten Weltkriegs (Auschwitz-Lüge) werden in der Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des grundgesetzlich verankerten Diskriminierungsverbots strafrechtlich verfolgt. Die vielfältigen Bemühungen um eine »Aufarbeitung« der nationalsozialistischen Vergangenheit - ob durch historische Forschung, philosophische und publizistische Auseinandersetzung oder strafrechtliche Ahndung des Völkermords - zielen letztlich auf eine Überwindung des Antisemitismus als nach wie vor virulentes Vorurteil (Vergangenheitsbewältigung). Dennoch offenbaren die v. a. seit 1989/90 im Zusammenhang mit zunehmender Ausländerfeindlichkeit wieder verstärkt aufgetretenen antisemitisch motivierten Ausschreitungen (z. B. Synagogen- und Grabschändungen) ein militantes judenfeindliches Potenzial (Neofaschismus, Rechtsextremismus), wenngleich in der deutschen Öffentlichkeit mangelnde Sensibilität - auf intellektueller wie auf politischer Ebene - im Umgang mit den Themen Judentum und v. a. Holocaust immer wieder zu heftigen Kontroversen führt. So ging es z. B. beim Historikerstreit 1986/87 um die Zulässigkeit einer »Historisierung« der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere des Holocaust, worin einige Historiker und Publizisten die Gefahr einer Relativierung des einzigartigen Genozids sahen. Die »Walser-Bubis-Debatte« 1998 entzündete sich an dem von M. Walser geäußerten Vorwurf einer politischen Instrumentalisierung von »Auschwitz«, was der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, I. Bubis, als »geistige Brandstiftung« wertete. Ein weiterer Bereich, der besonders in jüngerer Zeit dem Antisemitismusverdacht Auftrieb gibt, ist einseitige Kritik an der Politik Israels im Nahostkonflikt.
 
In Osteuropa und in der Sowjetunion wurde der Antisemitismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Stalinismus wiederholt taktisch zu innenparteilichen Säuberungen und Diskriminierung der Opposition ausgenutzt (Eliminierung der jüdischen Elite 1948-52/53 [Höhepunkt: so genannte Ärzteverschwörung], antisemitische Kampagnen in der Tschechoslowakei nach dem Slánský-Schauprozess 1952 und der Niederwerfung des »Prager Frühlings« 1968, antisemitische/antizionistische Hexenjagd in Polen 1958/59 sowie 1968 u. a.). Seit den gesellschaftlichen Umbrüchen 1989-92 ist in den nachkommunistischen Ländern Ost- und Südosteuropas, oft in völliger Unkenntnis des geringen Gewichtes der verbliebenen jüdischen Bevölkerung und verbunden mit einer instabilen Wirtschaftslage, ein erschreckendes neues Aufkeimen des ([partei]politischen) Antisemitismus zu verzeichnen, v. a. in Russland (u. a. Pamjat-Bewegung), Polen, Litauen, Rumänien und Ungarn.
 
Auch in den USA, in Großbritannien und anderen westlichen Ländern erhielt sich ein Antisemitismus religiösen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlich-diskriminierenden Charakters. In den islamisch-arabischen Ländern entstand, v. a. nach dem Sechstagekrieg 1967 (Nahostkonflikt), ein Antisemitismus eigener (ideologischer) Art im Kampf der Araber gegen den Zionismus und den Staat Israel; der islamische Fundamentalismus belebte auch die traditionelle Judenfeindschaft des Islam neu. Allgemein zeigen sich in neuerer Zeit Übergänge zwischen Antisemitismus und (politischem) Antizionismus; dessen Motive können dann (unbewusst oder aus ideologischen Gründen) zu antisemitischen Konsequenzen führen. Häufig hielten und halten sich aber antisemitische Vorstellungen hinter antikapitalistischen und antizionistischen Argumentationen verdeckt (z. B. die latente Agitation gegen Israel in der DDR).
 
Der Bekämpfung des Antisemitismus dienen u. a. die internationalen Verträge und die Bemühungen der UNO zur Gewährleistung der Menschenrechte sowie die entsprechenden innerstaatlichen Verbote der unterschiedlichen Behandlung wegen Abstammung, Rasse, Herkunft, Glauben, religiöser oder politischer Anschauung. In einer Resolution vom 9. 3. 1994 verurteilte die UNO-Menschenrechtskommission den Antisemitismus erstmals als eine verwerfliche Form rassischer Diskriminierung und zog damit Konsequenzen aus der im Dezember 1991 erfolgten Annullierung der als antisemitisch empfundenen Resolution zur Verurteilung des Zionismus von 1975.
 
Auch die christlichen Kirchen waren zu einer grundlegenden Überprüfung ihres früher uneinheitlichen Standpunktes bereit. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945) erklärte der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die Mitschuld der evangelischen Christenheit in Deutschland an den Vorgängen in der Zeit des Nationalsozialismus. Für die katholische Kirche verwarf das Plenum auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) in der Erklärung »Nostra aetate« vom 28. 10. 1965 den Antisemitismus. Einen bedeutenden Beitrag zur Überwindung religiös begründeter antijüdischer Vorurteile leistet seit 1946 der zwischen christlichen Kirchen und der jüdischen Religionsgemeinschaft geführte christlich-jüdische Dialog. Nachdem bereits 1928 in den USA die nichtkirchliche »National Conference of Christians and Jews« (NCCJ) gegründet worden war, kam es 1946 in Oxford zur ersten christlich-jüdischen Begegnung auf internationaler Ebene (International Conference of Christians und Jews). 1948 definierte die 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam den Antisemitismus als »Sünde gegen Gott und Menschen«. In der Folge versuchten verschiedene kirchliche Studien und Beschlüsse das Verhältnis zwischen Juden und Christen theologisch neu zu bestimmen; im August 1990 erklärten 14 europäische lutherische Kirchen, dieses v. a. durch Verzicht auf Judenmission im traditionell kirchengeschichtlichen Sinn und eine selbstkritische Auseinandersetzung mit antijüdischen Elementen der eigenen Theologie zu suchen (»Hannover-Erklärung« der Lutherischen Europäischen Kommission Kirche und Judentum). Am 12. 3. 2000 trug Papst Johannes Paul II. in der Peterskirche in Rom ein Schuldbekenntnis und die Vergebungsbitte für Verfehlungen und Irrtümer in der Geschichte der Kirche - darunter ausdrücklich auch für das den Juden zugefügte Leid - vor, und im Rahmen seiner darauf folgenden Reise ins Heilige Land vom 20. bis 26. 3. bezeigte er in der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem »tiefste Trauer« über die Rolle von Christen in der Geschichte des Antisemitismus und über ihren Anteil an der »entsetzlichen Tragödie der Schoah«.
 
Der Antisemitismus ist aber als kollektives Vorurteil weltweit noch keineswegs überwunden, seine Ächtung erschwert jedoch meist ein offenes Bekenntnis zu ihm; je stärker die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in den Hintergrund gedrängt wird, desto häufiger findet antisemitisches Vokabular - sei es absichtlich oder unabsichtlich - Anwendung. Die seit 1992 in Jahresberichten des Institute of Jewish Affairs, eines Forschungsinstituts des Jüdischen Weltkongresses, veröffentlichten Zahlen lassen ein Anwachsen des Antisemitismus in zahlreichen Staaten erkennen.
 
Literatur:
 
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Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Judenverfolgungen: Die Vernichtung der europäischen Juden
 
Antisemitismus: Ein Deutungsversuch
 
II
Antisemitismus
 
Judenfeindschaft und Judenverfolgungen kennzeichneten bereits seit den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt und das ganze Mittelalter hindurch den Alltag der in der Diaspora lebenden jüdischen Gemeinden, die an ihren religiösen und sozialen Eigenheiten festhielten. Erst die in der Zeit der Aufklärung einsetzende Säkularisierung des Lebens führte durch die Gewährung der Religionsfreiheit auch zu einer Auflockerung des bisherigen Zwanges zur Anpassung, der auf den Juden lastete. Von der Französischen Revolution beschleunigt, konnte im 19. Jahrhundert in ver schiedenen Ländern Europas schließlich die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Juden (Judenemanzipation) angestrebt werden. Mitte der Siebzigerjahre war die formale Emanzipation in Mitteleuropa abgeschlossen.
 
Dieser liberalen Entwicklung stellte sich der in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts aufkommende neue Nationalismus entgegen, der durch die sozialen Umwälzungen und den Verfall des bürgerlichen Liberalismus Auftrieb erhielt. Er strebte nach der in Abstammung und Sprache einheitlichen Nation und diskriminierte die jüdischen Mitbürger als Fremdkörper. In den Achtzigerjahren hatten antisemitische Ausschreitungen in Russland eine Massenemigration der Juden nach Mitteleuropa zur Folge, wo Agitatoren die fremdenfeindliche Stimmung ausnutzten. Der politische, rassisch motivierte Antisemitismus ist von der jahrhundertealten Judenfeindschaft zu trennen, wenn auch beides sozialpsychologisch als Reaktion auf das scheinbar bedrohliche »Andersartige« zu erklären wäre. Doch die antisemitische Propaganda richtete sich nun gegen das emanzipierte bzw. assimilierte Judentum; Kriterien der gesellschaftlichen Ächtung wurden Abstammung und »Rasse«, nicht mehr die Religion.
 
Geistig vorbereitet hatte den politischen Antisemitismus u. a. der französische Schriftsteller J. A. Graf von Gobineau, der in seinem »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen« (1853-55) die Überlegenheit der »arischen Rasse« behauptet hatte.
 
In Deutschland hatten die Hetzreden des Hofpredigers Adolf Stoecker große Wirkung auf den wirtschaftlich bedrohten Mittelstand. Seine Christlich-Sozialen und die »Berliner Bewegung« bekämpften sowohl den »jüdischen Kapitalismus« als auch die Sozialdemokratie. Seit den Neunzigerjahren stellte die völkische Ideologie den »Rassegedanken« in den Vordergrund ihrer Agitation.
 
Paul de Lagarde trat in seinen »Deutschen Schriften« (1896) für die Einheit des deutschen Volkes in Rasse und Religion ein; das Kulturelle sei die unüberbrückbare Trennlinie zwischen Deutschen und Juden. Houston Stewart Chamberlain, der spätere Schwiegersohn Richard Wagners, erhob in den »Grundlagen des 19. Jahrhunderts« (1899) die »germanische Rasse« Westeuropas zur einzig kulturell bedeutenden, die Juden dagegen seien von ausschließlich negativem Einfluss, sodass die »arische Rasse« aufgrund der vielen Vermischungen ihre Reinheit erst wiedererlangen müsse.
 
In Frankreich erlebte die Antisemitismuswelle ihren Höhepunkt in der Dreyfusaffäre; stärkere Verbreitung fand der Antisemitismus aber im Deutschen Reich und in Österreich-Ungarn, wo er parteibildend wirkte, sowie in den osteuropäischen Ländern. Judenfeindliche Parolen wurden auch von nationalistischen Parteien und Verbänden in ihre Programme aufgenommen. Im wirtschaftlichen Aufschwung des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts verlor der Antisemitismus deutlich an Boden, doch nach dem Ersten Weltkrieg gaben diese Gruppierungen in Deutschland und Österreich den Juden (und den Marxisten) die Schuld an der Niederlage und an der politischen und sozialen Krise. Darüber hinaus lieferten die jüdischen Akteure der Oktoberrevolution und der Münchener Räterepublik den Antisemiten den Anlass, nun gegen den »jüdischen Bolschewismus« zu hetzen. Die Nationalsozialisten in Deutschland konnten schließlich mit ihren absurden Thesen von der völkischen Reinheit des Blutes und der allgegenwärtigen jüdischen Weltverschwörung auf den vorhandenen Fundus antisemitischer Ressentiments zurückgreifen.

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An|ti|se|mi|tịs|mus, der; -: a) Abneigung od. Feindschaft gegenüber den Juden; b) [politische] Bewegung mit ausgeprägt antisemitischen Tendenzen.

Universal-Lexikon. 2012.