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Vor|ur|teil ['fo:ɐ̯|ʊrtai̮l], das; -s, -e:nicht objektive, meist von feindseligen Gefühlen bestimmte Meinung, die sich jmd. ohne Prüfung der Tatsachen voreilig, im Voraus über jmdn., etwas gebildet hat:
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Vor|ur|teil 〈n. 11〉 vorgefasste Meinung, Urteil ohne Prüfung der Tatsachen ● ein \Vorurteil gegen jmdn. od. etwas haben
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ohne Prüfung der objektiven Tatsachen voreilig gefasste od. übernommene, meist von feindseligen Gefühlen gegen jmdn. od. etw. geprägte Meinung:
ein altes, weitverbreitetes, unausrottbares V.;
-e gegen Ausländer, gegen den Islam;
-e hegen, ablegen, abbauen;
er hat ein V. gegen die Naturheilkunde;
gegen -e angehen, kämpfen;
jmdn. in seinem V. bestärken;
sich von seinen -en frei machen, befreien.
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I Vor|urteil,
Begriff der Philosophie, der Sozialwissenschaften und der Sozialpsychologie, der auch in der Alltagssprache, der Politik und der Selbstanalyse von Menschen einen zentralen Stellenwert einnimmt. Grundlegend gemeinsam ist allen Definitionsversuchen von Vorurteil, dass es sich - wie das Wort nahe legt - um ein Urteil handelt, das besteht, bevor die angenommene Vorstellung oder Einstellung an der Realität überprüft wurde, die Möglichkeit einer Korrektur durch Erfahrung also kaum gegeben ist oder verweigert wird. Je nach Standort und Kontext wird dabei entweder die Unausweichlichkeit von Vorurteilen betont (niemand kann alle Erfahrungen selbst machen) oder besonders der Täuschungs- und Verfälschungscharakter von Vorurteilen hervorgehoben (etwa wenn eine Eigenschaft, auf die jemand aufgrund des Verhaltens einer Person im menschlichen Zusammenleben schließt, auf eine ganze Gruppe übertragen und dann zu deren Diskriminierung gebraucht wird). Charakteristisch für Vorurteile ist ferner, dass sie kognitive und affektive Elemente miteinander verbinden, also ein Einstellungs-, Bewertungs- und Wahrnehmungsmuster in einem darstellen. Die Wirkungskraft dieser Verbindung kann nicht von einer Ebene aus - weder allein durch Argumentation oder Belehrung noch durch lediglich gefühlsmäßige Ansprache - gebrochen werden. Gerade in dieser Hinsicht stellen Vorurteile einen Stein des Anstoßes für jede Art von Aufklärung und politischer Bildung dar und erfordern zu ihrer kritischen Aufarbeitung die im Alltag notwendige Fähigkeit zur Differenzierung und Reflexion sowie eine lebenspraktische Vorsicht und Klugheit im Umgang mit vorurteilsgeprägten Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsstrukturen.
Im Wesentlichen lassen sich fünf Verwendungsweisen des Begriffs Vorurteil bestimmen: 1) In den Sozialwissenschaftenen und der Sozialpsychologie bezeichnet er ein vorgefasstes, emotional gefärbtes, durch neue Erfahrungen oder Informationen nur schwer veränderbares, aber für gültig erachtetes Urteil über (soziale) Sachverhalte (Personen, Geschlechterrollen, Gruppen, Religionsgemeinschaften, aber auch Ereignisse und Produkte, Ideensysteme und Ideologien), das ohne differenzierte Prüfung oder Begründung besteht und häufig die Abwertung und Diskriminierung der jeweiligen Personen oder Sachverhalte begründen soll. 2) In der Umgangssprache bezeichnet Vorurteil eine voreilige, oft gänzlich unbegründete, zumeist negative Voreinstellung gegenüber (auch Vorverurteilung von) Personen, sozialen Erscheinungen oder Gruppen. 3) Im allgemeinen Sprachgebrauch meint Vorurteil ein »Vorausverständnis«, das auf unzureichenden Kenntnissen oder Erfahrungen beruht, aber grundsätzlich durch geeignete Informationen berichtigt werden kann. 4) Daran schließt die eher wissenschaftsbezogene, im Sinne positivistischer Forschungsansprüche entwickelte Vorstellung an, dass bestimmte Vorannahmen beziehungsweise Vorverständnisse jedem Forschungsprozess und -entwurf vorausgehen müssen; die Grenze zum Vorurteil wird dann erreicht, wenn sich diese Hypothesen- und Theorienbildungen einer Prüfung, d. h. der Falsifikation durch die Erfahrung, verweigern und damit als »stabil gewordene Wahrnehmungstäuschungen« fungieren können. 5) Im philosophischen Sprachgebrauch, v. a. in der Hermeneutik H.-G. Gadamers, bezeichnet Vorurteil den durch Erfahrung, Wissen und geschichtliche Überlieferung vorgebildeten Verstehenshorizont, der jeder Texterschließung und jedem Sinnverstehen vorausliegt und dessen Verknüpfung mit dem zu interpretierenden Sachverhalt erst das Erschließen (im erkenntnistheoretischen Konstruktivismus: die Herstellung) von Sinn ermöglicht.
Stellen sich in einer eher konservativen Sicht Vorurteile so als unhintergehbar, möglicherweise sogar als entlastend und orientierend, ja als Bedingung von Erkenntnis dar, so sind sie in einer an die Vorurteilstheorie der Aufklärung anknüpfenden Sicht historisch gewordene oder bewusst geschaffene beziehungsweise instrumentalisierte Täuschungsmuster, deren Kritik oder Auflösung erst die Voraussetzungen zu wahrer Erkenntnis schafft. Diese Sicht der Vorurteile ist v. a. im politischen und sozialwissenschaftlichen Kontext anzutreffen, besonders in Bereichen wie der Erforschung des Antisemitismus oder der rassistischen Diskriminierung, die die sozialpsychologischen Mechanismen und Rechtfertigungen für Abwertung und Gewalt gegenüber Minderheiten aufdecken wollen. Demgegenüber stellt eine an F. Nietzsches Kritik der Aufklärung anknüpfende »postmoderne« Betrachtung der Vorurteile sowohl deren Unhintergehbarkeit und Unausweichlichkeit als auch - durchaus umstritten - den in Vorurteilen enthaltenen »ästhetischen Mehrwert« z. B. in Form von Bildbereichen des Grotesken, Schauerlichen oder Obszönen und deren damit verbundenen Spiel- und Entlastungscharakter heraus.
Begriffsgeschichte und neuere Forschungsansätze
Der dem lateinischen »praeiudicium« nachgebildete Begriff Vorurteil entstammt ursprünglich dem juristischen Sprachgebrauch; er bezeichnete ein gerichtliches Urteil, das dem endgültigen Urteil vorausging. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts wird dann der Terminus Vorurteil im heutigen Sinne gebraucht.
Vorläufer des Vorurteilsbegriffs finden sich in Abhandlungen von F. Bacon (»Novum organum scientiarum«, 1620) und R. Descartes (»Discours de la méthode. ..«, 1637). Bestimmend für die philosophische Beschäftigung mit dem Phänomen Vorurteil wurde zunächst Bacons systematische Analyse möglicher Urteilstäuschungen durch Trugbilder, der von ihm als »idola« (Idol) bezeichneten Hindernisse wissenschaftlicher Erkenntnis. In dieser negativen, menschlichen Denken einschränkenden Bedeutung kritisierte auch J. Locke die Idole als Folge der Trägheit des Denkens; diese Nachlässigkeit führe zu Aberglauben und Fanatismus. Symptomatisch für das ein selbstständiges, vernunftmäßiges Denken einfordernde Zeitalter der Aufklärung erscheint die in ihm vollzogene Wandlung des Idols zum Reizwort der geistigen Emanzipation. So nennt Voltaire in seinem Artikel »Idole, Idolâtre« in der von D. Diderot und J. le Rond d'Alembert herausgegebenen »Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers« (1751-80) den Glauben an Idole eine perspektiv. Selbsttäuschung; Louis de Jaucourt (* 1704, ✝ 1780) setzt in seinem Artikel »Préjugé« (»Vorurteil«) die Idole mit Vorurteil gleich: Der Begriff Vorurteil hatte den älteren Terminus »Idol« verdrängt.
Seine volle Entfaltung erfuhr der Vorurteilsbegriff in seinem modernen Bedeutungsspektrum jedoch erst mit der Entwicklung der Psychologie, durch Erkenntnisse von G. Le Bon und S. Freud. Vornehmlich zwei von Freud beschriebene seelische Abwehrmechanismen suchten ein tieferes Verständnis des Vorurteils zu erreichen: 1) »Rationalisierung«, also die Neigung des Menschen, vernünftige Gründe für Auffassungen und Handlungen vorzuschieben, die in Wirklichkeit individuellen Triebbedürfnissen folgen, und 2) »Projektion«, mittels deren ein verbotenes oder von der Person moralisch nicht zugelassenes Motiv anderen Personen zugeschrieben wird.
Im Rückgriff hierauf stand die Erforschung der Vorurteile in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts v. a. unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ihrem Versuch zur Auslöschung des europäischen Judentums und dem der Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkriegs und des stalinistischen Terrors. Mit unterschiedlichen Akzentsetzungen im Einzelnen verbanden sich nach 1945 Psychoanalyse, marxistische Gesellschaftstheorie und liberale Konzepte der Individual- und Sozialpsychologie, zumal US-amerikanischer Provenienz, zur Erforschung der Vorurteile und schufen damit einen bis heute in seinen Grundannahmen weit verbreiteten Konsens. Im Anschluss an Freud deutete A. Mitscherlich Vorurteile als Folge aggressiver Triebüberschüsse, die sich Entlastung in der Gewalt an »Sündenböcken« suchen, zu deren Identifizierung Vorurteile dann die Grundlage bieten können. Zugleich stellen Vorurteile einen wesentlichen Anpassungsmechanismus für die von Individuen geforderten Unterwerfungsleistungen unter die Mechanismen und Gesetze der Gesellschaft dar und haben in dieser Hinsicht sowohl eine orientierende als auch eine kompensierende Funktion. Ebenfalls an der Psychoanalyse orientiert, aber auch unter Berücksichtigung der mit dem Industriekapitalismus verknüpften Entfremdungs- und Verdinglichungserfahrungen und im Zuge einer Kritik der bürgerlich autoritären Erziehung, die auf Brechung von Selbstbewusstsein, Mitleidsfähigkeit und Widerstandsgeist ziele, entwarfen M. Horkheimer und T. W. Adorno in den 1940er-Jahren das Modell des durch Autoritätsgebundenheit, Konventionalismus und Starre des Denkens gekennzeichneten »autoritären Charakters«. Diesen erkannten sie nicht nur als Prototyp eines vorurteilsbeladenen und undifferenzierten Zugangs zur Welt, sondern in sozialpsychologischer Perspektive als Akteur faschistischen beziehungsweise totalitären Handelns (und seiner Rechtfertigung). Hinzu traten in den 50er-Jahren, angeregt v. a. aus den USA, Studien, in denen sich die Erforschung der politischen Kultur mit Fragen einer Erziehung zur Demokratie sowie mit neueren Konzepten der Gruppensoziologie und der Erziehungswissenschaften (Lerntheorien) verband. So wurden Gruppenverhalten und Gruppenkonkurrenz (G. W. Allport) ebenso zur Erklärung von Vorurteilen herangezogen wie Interessenkonflikte (M. Sherif) und nicht zuletzt die Bedeutung der Massenmedien und der Sozialstruktur für die Entwicklung und Verbreitung von Vorurteilen herausgearbeitet. Ende der 60er-Jahre gingen Impulse zur Erforschung von Vorurteilen von der marxistisch beeinflussten Untersuchung und Kritik gesellschaftlicher Ideologien aus, in deren Rahmen Vorurteile als Ausdruck systematisch verzerrten gesellschaftlichen Bewusstseins gewertet wurden. Diese Vorstellungen wurden in den 80er-Jahren durch komplexere Ansätze und differenziertere Analysen abgelöst.
In der Gegenwart wird der Vorurteilsthematik v. a. im Rahmen der Erforschung des Antisemitismus, von Ethnozentrismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sowie generell hinsichtlich der Einstellungen von Menschen zu Konflikten, Umbrüchen und anderen Belastungen sowie gegenüber gesellschaftlichen Minderheiten Raum gewährt; dabei verbinden sich sozial- und individualpsychologische Ansätze mit diskursanalytischen, sprachwissenschaftlichen geprägten Zugängen. Auch der Bedeutung sozialer Ungleichheit und historischer Semantiken und den Leitbildern und Mustern im Erziehungsverhalten sowie den Erscheinungsformen öffentlicher, massenmedialer Kommunikation und gesellschaftlicher Machtstrukturen (kulturelle Hegemonie bestimmter Normen und Gruppenvorstellungen) wird verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet. Die Belastung durch Vorurteile und die Orientierung an Vorurteilen werden so auch als Folgen der in den 90er-Jahren erneut und verstärkt in Erscheinung tretenden Formen sozialer Desintegration und als damit verbundene Verhaltensmuster verstanden und analysiert (W. Heitmeyer).
Verringerung und Abbau von Vorurteilen
In dem Maße, in dem das Vorhandensein von Vorurteilen sowohl den Ansprüchen einer empirisch prüfbaren Wissenschaftlichkeit als auch einer in der demokratischen Kultur erforderlichen diskursiven Verschränkung und Relativierung von Urteilen als Wahrheitsaussagen zuwiderläuft, werden Vorurteile als anachronistische Hindernisse auf dem Weg zu einer vernünftigen, reflexiven und kommunikativ veränderbaren Gesellschaft gesehen. Als Muster und Grundlage von Diskriminierung widersprechen sie den mit der modernen Gesellschaft verbundenen Gleichheitsversprechen und konterkarieren mit ihrer Subsumierung von Individuen unter Gruppeneigenschaften das auf das Individuum als »mündigen Bürger« bezogene Menschenbild und Selbstverständnis westlicher Gesellschaften. Indem sie auf häufig undurchschaute Weise Gefühle und Ansichten miteinander verschränken, stellen sie allerdings ein der direkten Erfahrung, Ansprache und Aufklärung kaum zugängliches, gleichwohl erhebliches soziales Spannungs- und Konfliktpotenzial im Alltag wie in politischen Prozessen dar. Der Kampf gegen Vorurteile zieht sich daher seit der Aufklärung durch die pädagogischen, politischen und gesellschaftlichen Diskussionen moderner Gesellschaften, wobei sich im 20. Jahrhundert zunehmend komplexe Ansätze gegenüber eindimensionalen Erklärungs- und Bearbeitungsmodellen durchgesetzt haben. Während in hermeneutischen Prozessen ebenso wie in der wissenschaftlichen Hypothesenbildung begleitende Reflexion und bewusst gewählte Verfahrensformen die Gewähr dafür bieten sollen, dass sich Vorannahmen nicht zu Vorurteilen verselbstständigen können, stellen besonders die sozialen Vorurteile (zumal solche, die entweder nicht als Vorurteile erkannt werden oder bereits von der Vorstellung ausgehen, alle Vorurteile überwunden zu haben) eine Herausforderung, ja eine Bedrohung der Möglichkeiten ihres Abbaus beziehungsweise ihrer reflexiven Aufarbeitung dar.
Wegen der Komplexität der Zusammenhänge müssen hierfür mehrere Ebenen - die der Erfahrung, die der rationalen Bearbeitung dieser Erfahrungen, die der gefühlsmäßigen Besetzung - sowie verschiedener Rahmenbedingungen (z. B. soziale Schicht, Kultur, Region, Alter, Geschlecht, Religion) berücksichtigt werden. Zugleich ist von mehreren Ansatzpunkten für die Aufarbeitung von Vorurteilen auszugehen: Hierzu gehören 1) die Individuen ebenso als Träger der Vorurteilen wie als deren Objekte und als Akteure oder Opfer entsprechender Handlungen und Zuschreibungen; 2) die Gesellschaft und die sie konstituierenden Gruppen, in deren Rahmen Vorurteile transportiert oder auch infrage gestellt werden können; 3) Massenmedien und andere Steuerungseinrichtungen der öffentlichen Meinung (z. B. Eliten, Meinungsführer), über die Gefühle, Einstellungen und Bilder, mithin auch Vorurteile vermittelt werden; 4) soziale Institutionen und Sektoren wie Familie, Schule, Militär, Arbeitswelt und Freizeitgruppen, in denen in mehr oder weniger expliziter oder vermittelter Form Vorurteile eingeübt oder verbreitet werden.
In sozialpsychologischer Sicht spielt die Phase der frühen Kindheit und die damit verbundene Enkulturation in die Gesellschaft, mithin auch in deren Vorurteilsstrukturen eine zentrale Rolle. Vorurteile werden in dem Maße übernommen, möglicherweise noch verstärkt, in dem es den Individuen in dieser Konstellation nicht gelingt beziehungsweise nicht angeboten wird, sich selbstständig und selbstbestimmt so zu entwickeln, dass die Möglichkeit, eigene Erfahrungen zu machen und diese jeweils neu zu interpretieren, zu den Bestimmungsmerkmalen und Chancen eines eigenen Lebens zählt. Gegenüber der Entwicklung individueller Ichstärke und Selbstbestimmung als Ansatzpunkt zur Verminderung von Vorurteilen geht ein soziostrukturell und politisch-kulturell orientierter Ansatz von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und institutionell vermitteltem Handeln aus. Damit treten die Prozesse kultureller und institutioneller Zuschreibungen als soziale Grundlagen für die Entstehung und Verbreitung von Vorurteilen ebenso hervor wie die Formen und Folgen sozialer Desintegration, z. B. mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt, das Fehlen sozialer Anerkennung, von Bildungschancen und politischer Partizipation. Neben persönlichkeitsbildenden Zielsetzungen und Interventionen (Einübung von Toleranz und Empathie, reflektiertes Selbstbewusstsein, Kompetenzen im Umgang mit Stress, Innovation, Fremdheit) v. a. in Familie, Schule, Jugendgruppen und Berufsbildung kommt dem Abbau gesellschaftlicher Desintegrationserfahrungen also eine ebenso große Bedeutung zu wie einem vorurteilskritischen und zurückhaltenden Verhalten der gesellschaftlichen Eliten, der Medien, der Wissenschaften und anderer sozialer Institutionen, die hinsichtlich der Ausbildung von Vorurteilen, aber auch ihres Abbaus als »Prägestöcke« wirken können.
Auch die politische Kultur einer Gesellschaft, namentlich die Frage des Umgangs mit politischen Gegnern, mit Minderheiten, in ihren Außenbeziehungen und im Verhältnis zu ihren politischen Nachbarn kann je nach ihrer Ausprägung zur Verfestigung oder Auflösung von Vorurteilen beitragen. Für beides finden sich sowohl in den innergesellschaftlichen Entwicklungen der westlichen Gesellschaften nach 1945 als auch in den internationalen Beziehungen zahlreiche Beispiele. So stehen Stärke und Verbreitung antisemitischer Vorurteile in einer deutlichen Abhängigkeit von einem die pluralistische Gesellschaften kennzeichnenden Wechselspiel zwischen öffentlicher Meinung, institutionellem Handeln und individuellen Erfahrungen (W. Bergmann, R. Erb), das allerdings seinerseits an die soziostrukturelle Entwicklung zurückgekoppelt werden muss. Hier sind besonders auch solche Desintegrationsprozesse zu berücksichtigen, wie sie im Anschluss an die deutsche Vereinigung 1990 verschärft in Erscheinung getreten sind. Auch hinsichtlich der innereuropäischen Beziehungen und im Weltmaßstab lassen sich vergleichbare Entwicklungen zeigen: So werden zum Ende des 20. Jahrhunderts Ansätze zur Reduktion von Vorurteilen - auf institutioneller Ebene etwa in den deutsch-französischen Beziehungen (z. B. Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerks 1963), aber auch in den deutschen-polnischen Beziehungen - von Problemen des Arbeitsmarktes und der sozialen Sicherung überlagert und unter Umständen verdrängt. Während sich auf der Ebene von Bildungsprozessen, Alltagswissen und Mobilität durchaus auch pragmatische Orientierungen gegen Vorurteile durchzusetzen scheinen, werden diese gerade angesichts mangelnder institutioneller Absicherungen unter sozialem Druck und in Situationen sozialer Desorientierung und Desintegration erneut gestärkt; dies betrifft namentlich die Vorurteile, die etwa im Zusammenhang von Rassendiskriminierung und Migration, allerdings auch wieder im Geschlechterverhältnis auftreten.
Differenzierte Diskussionen, in denen Vorurteile benannt werden und kontroverse Argumente zur Sprache kommen können, bilden die Voraussetzung für die Bewältigung von Vorurteilen in der politischen Öffentlichkeit. Der Selbstkontrolle der Massenmedien und ihrer kritischen Beobachtung wird hierbei eine herausragende Rolle zugeschrieben. Ihre Darstellung und Bewertung von Ereignissen, die der unmittelbaren Wahrnehmung der meisten Zeitgenossen entzogen sind, vermögen Erfahrungen zur Korrektur von Vorurteilen zu vermitteln, auch wenn bei den Konsumenten andererseits die Tendenz besteht, sich in ihren Vorurteilen durch die Medien bestärken zu lassen (selektive Wahrnehmung). Besonderes Gewicht scheint hierbei nicht nur den der (dann bewusst wahrgenommenen) Information dienenden Berichten, sondern auch der unterschwelligen Vermittlung durch Filme oder Unterhaltungssendungen zuzukommen.
Da Vorurteile vornehmlich in Konflikten mit ungleichgewichtigen Kontrahenten gewalteskalierend wirken, können Maßnahmen zur sozialpolitischen Umverteilung sowie die Beachtung und Sicherung demokratischer und rechtsstaatlicher Normen den Auswirkungen und der Ausweitung von Vorurteilen vorbeugen, indem der Status und die Rechte etwa von nationalen oder religiösen Minderheiten, Arbeitslosen, Behinderten, Homosexuellen, Asyl Suchenden oder Frauen gestärkt werden, also derjenigen, die von vorurteilsgeleitetem Handeln unmittelbar bedroht sind.
Hoffnungen, Vorurteile und die aus ihnen erwachsenden Diskriminierungen ließen sich ein für alle Mal bannen, sind allerdings unrealistisch. Die Effektivität der Anstrengungen gegen das Wirken von Vorurteilen hängt gerade deshalb von der (gesellschaftlichen wie politischen) Bereitschaft ab, Vorurteile als dauerhafte, in konkreten Konflikten immer wieder neu zu bewältigende Probleme zu erkennen und ihnen entgegenzutreten, bevor sie spürbare Folgen nach sich gezogen haben.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Diskriminierung · Frieden · Gewalt · Manipulation · Minderheit · multikulturelle Gesellschaft · Propaganda · Solidarität · Stereotyp · Toleranz
M. Horkheimer: Über das V. (1963);
M. Sherif: In common predicament. Social psychology of intergroup conflict and cooperation (Boston, Mass., 1966);
G. W. Allport: Die Natur des V. (a. d. Amerikan., 1971);
W. Bergmann u. R. Erb: Kommunikationslatenz, Moral u. öffentl. Meinung, in: Kölner Ztschr. für Soziologie u. Sozialpsychologie (1986), H. 38; H.-G. Gadamer: Wahrheit u. Methode. Grundzüge einer philosoph. Hermeneutik (61990);
Argumente gegen den Haß. Über V., Fremdenfeindlichkeit u. Rechtsextremismus, Beitrr. v. K. Ahlheim u. a., 2 Bde. (1993);
Feindbilder in der dt. Gesch. Studien zur Vorurteilsgesch. im 19. u. 20. Jh., hg. v. C. Jahr u. a. (1994);
M. Markefka: V. - Minderheiten - Diskriminierung. Ein Beitr. zum Verständnis sozialer Gegensätze (71995);
A. Silbermann: Alle Kreter lügen. Die Kunst, mit V. zu leben (Neuausg. 1995);
W. Benz: Feindbild u. V. Beitrr. über Ausgrenzung u. Verfolgung (1996);
A. Mitscherlich: Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie (Neuausg. 101996);
Der Umgang mit dem »Anderen«, hg. v. K. Hödl (Wien 1996);
Bundesrepublik Dtl. Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft, hg. v. W. Heitmeyer, 2 Bde. (1997);
Vorurteil,
Viele Menschen bleiben starr bei einem vorgefassten Urteil, ohne dieses an der Realität auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Sie halten z. B. jeden Schotten für geizig, jeden Italiener für musikalisch und jeden Deutschen für fleißig. Von der Psychologie wurden insbesondere diejenigen Vorurteile untersucht, die politische oder rassische Minderheiten betreffen (z. B. Vorurteile gegenüber Farbigen). Dabei interessierte zum einen das Zustandekommen von Vorurteilen im Rahmen der Persönlichkeitsentwicklung und zum anderen die Funktion von Vorurteilen bei verschiedenen sozialen Gruppen.
Vorurteile können auch als sich selbst erfüllende Prophezeiungen wirksam werden. Wer z. B. Juden oder Schwarzen aufgrund seiner Vorurteile ablehnend gegenübertritt, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit dann auch im Umgang mit Leuten aus diesem Personenkreis Erfahrungen machen, die ihn in seiner vorgefassten Meinung bestätigen. Verhängnisvoll kann sich die immer wieder zu beobachtende Erscheinung auswirken, dass ein Individuum, dem man mit einem Vorurteil gegenübertritt, dieses Vorurteil für sich übernimmt und sein Erleben und Verhalten dann entsprechend ausrichtet.
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Vor|ur|teil, das; -s, -e [mhd. vorurteil für (m)lat. praeiudicium]: ohne Prüfung der objektiven Tatsachen voreilig gefasste od. übernommene, meist von feindseligen Gefühlen gegen jmdn. od. etw. geprägte Meinung: ein altes, weit verbreitetes, unausrottbares V.; -e gegen Ausländer, gegen den Islam; -e hegen, ablegen, abbauen; er hat ein V. gegen die Naturheilkunde; Dies betreffe auch jenes positive V., dem zufolge die Roma allesamt musikalisch seien (FAZ 17. 7. 99, 44); gegen -e angehen, kämpfen; jmdn. in seinem V. bestärken; Dabei waren Klementine und Leo ... in dem V. (der irrigen Annahme) befangen, dass sie ... voneinander abhingen (Musil, Mann 206); Es sei doch unglaublich, dass selbst ein als modern geltendes ... Heilinstitut mit philiströsen -en nicht ganz gebrochen habe (Brod, Annerl 185); Übrigens sieht er das Mädchen nicht ohne V. an, genau wie sie ihn (Chr. Wolf, Nachdenken 131); sich von seinen -en frei machen, befreien.
Universal-Lexikon. 2012.