Ethnologie
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Vọ̈l|ker|kun|de 〈f. 19; unz.〉 Erforschung der Kultur der Völker, besonders der traditionellen Völker; Sy Ethnologie
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Vọ̈l|ker|kun|de, die:
Wissenschaft von den Kultur- u. Lebensformen der [Natur]völker.
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Völkerkunde,
Ethnologie, Disziplin der Kulturanthropologie, die Unterschiede und Übereinstimmungen in der Lebensweise menschlicher Gemeinschaften beschreibt und zu erklären versucht. Im Wesentlichen beschränkt sich die Völkerkunde dabei auf außereuropäische Kulturen, nichtindustrielle Gesellschaften, schriftlose Völker und Ethnien »geringer Naturbeherrschung« (Naturvölker). Auf der Basis der Gleichwertigkeit aller Menschen und angesichts der hohen Erkenntnisleistungen der Naturvölker (die jedoch mit anderen Methoden als in Industriegesellschaften erzielt werden) werden solche Eingrenzungen immer häufiger hinterfragt und Kulturvergleiche auf globaler Ebene, d. h. unter Einbeziehung komplexer Gesellschaften (Hochkulturen) außerhalb und innerhalb Europas (europäische Ethnologie; Volkskunde), angestellt. Die Begriffe Völkerkunde und Ethnographie (Kulturbeschreibung) wurden um 1770 in Deutschland (Universität Göttingen) geprägt, die Bezeichnung Ethnologie etwa zur gleichen Zeit im französischen Sprachraum. Erste ethnologische Gesellschaften formierten sich in Frankreich (Société Ethnologique, Paris, 1839), den USA (American Ethnological Society, New York, 1842), Großbritannien (Ethnological Society of London, 1843) und Deutschland (Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, 1869); die ersten Völkerkundemuseen entstanden in Sankt Petersburg (1837), Kopenhagen (1848) und Berlin (1868).
Aufgezeichnete Beobachtungen und Charakterisierungen fremder Völker sind seit der Antike belegt. Mit der »Erdbeschreibung« des Griechen Hekataios von Milet (um 500 v. Chr.) liegt der erste Versuch vor, regionale Einzeldarstellungen zu einer ethnographisch-geographischen Gesamtschau zusammenzufügen. In allen Werken antiker Autoren wird das Bekannte, die eigene Kultur, zum Maßstab des Fremden. Daraus entstand mit der Kulturvolk-Barbaren-Antithese ein ethnographischer Leitmotiv, das bis ins Mittelalter (und darüber hinaus) die völkerkundliche Sichtweise bestimmte. Die bis heute übliche Sprachtrennung in Kultur- und Naturvölker, Zivilisierte und »Primitive« wurzelt in dieser Sicht. Noch im Zeitalter der Entdeckungen färbte die Suche nach dem Absonderlichen, Monströsen und Exotischen (Exotismus) ethnologischen Perspektiven. Als Ausweis scheinbarer Minderwertigkeit lieferte die Kuriosität fremden Brauchtums eine Legitimation zu kolonialer Unterwerfung. Den europäischen Mächten dienten die Ergebnisse der Völkerkunde als Datenbasis und nützliches Instrument der Verwaltung in den Kolonien. Seit ihrer Profilierung als ernsthafte Wissenschaft im 19. Jahrhundert trug die Völkerkunde aber auch entscheidend zur Klärung der Fragen nach Entwicklung und Kultur des Menschen bei. Es entstanden Schulen und Forschungseinrichtungen, die über Möglichkeiten, Bedingtheiten und Beschränkungen kultureller Ausformungen spekulierten. Suchte man in Evolutionismus und Materialismus (marxistische Ethnologie, neomarxistische Ethnologie) nach biologischen oder ökonomischen Determinanten bei der kulturellen Entfaltung, betonten Historismus (Kulturhistorie, Kulturkreislehre, Diffusionismus) und Relativismus (Partikularismus) die Eigendynamik einzelner Kulturen oder Kulturgruppen, während Funktionalismus und Strukturalismus die Funktion bestimmter Kulturelemente, ihre Interdependenz oder das strukturale Regelwerk innerhalb einer Kultur ausloteten. Neuere Forschungsansätze widmen sich der Historiographie außereuropäischer Völker (Historische Ethnologie), bevorzugen wie die kognitive Anthropologie den emischen Blickwinkel (»von innen heraus«) oder bringen ökologische Leitsätze in das Fach ein (Kulturökologie). Eine Reihe von Ethnologen arbeiten mit gestaltpsychologischen Methoden, andere entwickelten Konzepte, die sie der Psychoanalyse entlehnten. Die meisten Forschungsrichtungen bestehen heute nebeneinander.
Angesichts des weiten Aufgabenfeldes tendiert die Völkerkunde zu geographischer und sachlicher Spezialisierung. An die Stelle früherer Sammeltätigkeit und reiner Faktenbeschreibung sind jetzt Problemorientiertheit, ausgefeiltere Methodik (sozialwissenschaftliche Erhebungsverfahren, Wiederholungs- und Langzeitstudien) sowie bessere theoretische Absicherung der Feldforschung getreten. Mit den zahlreichen Veränderungen in der Situation außereuropäischer Gemeinschaften (Akkulturation, Assimilierung, Ethnozid) vollzog sich partiell eine Neudefinition des Untersuchungsgegenstandes. Hier gewinnt die Einbeziehung von Urbanisierungsprozessen, von Subkulturen oder Phänomenen des Kulturwandels zunehmende Bedeutung. In diesem Zusammenhang stellte sich auch die Frage nach der Relevanz völkerkundlicher Forschung überhaupt, etwa der Berücksichtigung legitimer Interessen von Untersuchten. Entsprechende Antworten suchen die »Applied anthropology« (angewandte Völkerkunde) und die Aktionsethnologie, bei der sich der Forscher in den Dienst seiner Gastgeber stellt und diesen z. B. bei der Historiographie, der Durchsetzung rechtlicher Belange oder der Öffentlichkeitsarbeit hilft.
Ethnologie als Sozialwiss., hg. v. Ernst W. Müller u. a. (1984);
Wb. der Ethnologie, hg. v. B. Streck (1987);
J. F. Thiel: Grundbegriffe der Ethnologie (51992);
Grundfragen der Ethnologie. Beitrr. zur gegenwärtigen Theorie-Diskussion, hg. v. W. Schmied-Kowarzik u. J. Stagl (21993);
Lex. der Ethnologie, hg. v. Klaus E. Müller (1993);
T. Bargatzky: Ethnologie. Eine Einf. in die Wiss. von den unproduktiven Gesellschaften (1997);
B. Streck: Fröhl. Wiss. der Ethnologie (1997).
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Vọ̈l|ker|kun|de, die <o. Pl.>: Wissenschaft von den Kultur- u. Lebensformen der [Natur]völker.
Universal-Lexikon. 2012.