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Sprachwissenschaft
Linguistik

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Sprach|wis|sen|schaft 〈f. 20; unz.〉 Wissenschaft von der Sprache als solcher u. den verschiedenen Sprachen ● allgemeine \Sprachwissenschaft Wissenschaft von den Vorgängen beim Sprechen (Phonetik), der Wort- u. Satzbildung (Grammatik), der Sprachgeschichte (Etymologie, Semasiologie), Sprachgeografie, Stilistik u. a.; vergleichende \Sprachwissenschaft Erforschung der Verwandtschaft der Sprachen untereinander mithilfe des Vergleichs

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Sprach|wis|sen|schaft, die:
Wissenschaft, die eine Sprache, Sprachen in Bezug auf Aufbau u. Funktion beschreibt u. analysiert.

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Sprachwissenschaft,
 
die Wissenschaft, die auf eine möglichst umfassende und vollständige Erfassung, Beschreibung und Erklärung von Sprache und Sprachen zielt. Daneben beschäftigen sich auch zahlreiche andere Wissenschaften mit Sprache (u. a. Literaturwissenschaft, Philosophie, Kommunikations- und Medienwissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Biologie, Anthropologie oder Informatik), doch thematisieren sie Sprache immer nur unter bestimmten Aspekten von ihren jeweiligen fachlichen Interessen her. In vielen Fällen kooperiert die Sprachwissenschaft mit diesen benachbarten Wissenschaften in interdisziplinärer Weise (z. B. Psycholinguistik, Soziolinguistik). Anstelle von Sprachwissenschaft ist im im deutschsprachigen Raum seit den 1960er-Jahren auch die Bezeichnung Linguistik gebräuchlich, die auf die Rezeption der modernen, auf dem Strukturalismus basierenden Sprachwissenschaft zurückgeht.
 
Im Zentrum der heutigen Sprachwissenschaft steht die Beschäftigung mit dem »System« Sprache und seinen verschiedenen Teilsystemen. Gegenstand der Phonologie ist das lautliche System von Sprachen. Die Basis für die Phonologie liefert die Phonetik, die die Sprachlaute an sich, d. h. die Gesamtheit der möglichen Laute aller Sprachen im Hinblick auf ihre artikulatorischen, akustischen und auditiven Eigenschaften untersucht. Der Phonologie entspricht in Bezug auf die schriftliche Realisierung von Sprache die Graphemik als diejenige Teildisziplin, die sich mit den Schriftsystemen von Sprachen, den Graphemen und ihren Kombinationsregularitäten befasst; analog zur Phonetik dient hier die Graphetik als Wissenschaft von den Verschriftungssystemen als Grundlage. Von der Graphemik zu unterscheiden ist die Rechtschreibung, deren Gegenstand normierte, in der Regel kodifizierte Schriftsysteme sind. Untersuchungsobjekt der Morphologie ist der Aufbau, die innere Struktur von Wörtern sowohl im Hinblick auf die Bildung unterschiedlicher Wortformen (Flexionsmorphologie) als auch im Hinblick auf die Bildung neuer Wörter (Wortbildung). Aufgabe der Syntax ist die Erfassung und Beschreibung der Regeln für die Kombination von Wörtern zu größeren Einheiten bis hin zu Sätzen als den größten syntaktischen Einheiten. Die Wissenschaft von den Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke ist die Semantik. Morphologie und Syntax, teilweise auch Phonologie, verschiedentlich auch die Graphemik werden oft unter dem Begriff Grammatik zusammengefasst; der Grammatik in diesem Sinne wird dann die Lexikologie als die Lehre vom Lexikon (Wortschatz) einer Sprache gegenübergestellt.
 
Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit sprachlichen Erscheinungen lassen sich grundsätzlich die auf einen Sprachzustand bezogene (synchron.) und die auf die Sprachentwicklung, die Veränderung von Sprache in der Zeit bezogene (diachron.) Vorgehensweise unterscheiden. Die Diachronie von Sprachen ist Gegenstand der historischen Sprachwissenschaft, die darüber hinaus jedoch auch noch einzelne Sprachzustände der Vergangenheit (unter synchron. Perspektive) untersucht und beschreibt (z. B. Alt-, Mittel-, Frühneuhochdeutsch, das Deutsch des 18. Jahrhunderts) sowie sich den Bedingungen und Ursachen des Sprachwandels widmet. Dabei werden oft auch außersprachliche Faktoren mit einbezogen - so auch in der Etymologie als der Teildisziplin, die sich mit der Herkunft, Grundbedeutung und Entwicklung einzelner Wörter sowie ihrer Verwandtschaft mit Wörtern gleichen Ursprungs in anderen Sprachen beschäftigt.
 
Hinsichtlich des jeweiligen Untersuchungsgegenstands lässt sich die Sprachwissenschaft darüber hinaus einteilen in die auf einzelne Sprachen beziehungsweise Sprachgruppen bezogene Sprachwissenschaft (z. B. germanistische, anglistische, romanistische, slawistische Sprachwissenschaft), die vergleichende Sprachwissenschaft und die allgemeine Sprachwissenschaft. In der vergleichenden Sprachwissenschaft werden die Beziehungen verschiedener Sprachen entweder im Hinblick auf ihre genetische Verwandtschaft (historisch-vergleichende Sprachwissenschaft) oder (unabhängig von historisch-genetischen Zusammenhängen) im Hinblick auf Gemeinsamkeiten ihrer grammatischen Eigenschaften untersucht und klassifiziert (Sprachtypologie), während sich die allgemeine Sprachwissenschaft mit den generellen Eigenschaften von Sprache sowie den theoretischen Grundlagen für die Beschreibung einzelner Sprachen beziehungsweise Sprachgruppen (Sprachtheorie) befasst.
 
Besonders seit den 1960er-Jahren sind weitere Teildisziplinen der Sprachwissenschaft entstanden, die sich - interdisziplinär orientiert - mit dem Verhältnis und den Zusammenhängen von Sprache und den zahlreichen außersprachlichen Faktoren beschäftigen, mit denen Sprache in enger Beziehung steht. Die Modalitäten und Regularitäten des Gebrauchs von Sprache, die Verwendungsaspekte von Sprache werden in der Pragmatik (Pragmalinguistik) thematisiert. Die Textlinguistik beschäftigt sich mit dem Aufbau sowie den Konstitutions- und Verwendungsbedingungen von Texten, die Soziolinguistik untersucht die vielfältigen Beziehungen zwischen Sprache und Gesellschaft (u. a. Sprachvarietäten, Sprachkontakt, Mehrsprachigkeit, Sprachbarrieren, Sprachnormen, Sprachplanung, Sprachpolitik). Die Erforschung von Dialekten wird heute vielfach im Überschneidungsbereich von Soziolinguistik und Dialektologie (Dialektsoziologie) gesehen, während die Dialektologie als Mundartforschung früher ausschließlich am Verhältnis sprachlicher Ausdrücke zu ihrer räumlichen Verbreitung orientiert war (Dialektgeographie).
 
Sprache als psychisches Phänomen ist Ausgangspunkt der Psycholinguistik, für die die Erforschung der bei der Sprachproduktion und -rezeption ablaufenden Prozesse (Sprachverarbeitung), der Speicherung des sprachlichen Wissens im Gehirn sowie des Spracherwerbs im Mittelpunkt steht. Enge Beziehungen bestehen zur Neurolinguistik, die sich mit den neurophysiologischen Grundlagen der Sprache, mit der Repräsentation von Sprache im Gehirn und den für die Sprachverarbeitung sowie den Spracherwerb relevanten Gehirnfunktionen beschäftigt, sowie zur Computerlinguistik, die u. a. die Simulation der bei der Sprachverarbeitung ablaufenden Prozesse zum Ziel hat.
 
Während die bisher genannten Teildisziplinen der Sprachwissenschaft (von Ausnahmen abgesehen) im Wesentlichen theoretisch, auf die Erfassung, Beschreibung und Erklärung von Sprache, Sprachen und sprachlicher Kommunikation ausgerichtet sind, gibt es eine Reihe von Disziplinen, die sich - oft unter der globalen Bezeichnung angewandte Sprachwissenschaft - mit spezifischen Anwendungsbereichen von Sprachwissenschaft beschäftigen. Zu nennen sind hier u. a. die Sprachdidaktik, deren Gegenstand der Primär- beziehungsweise Fremdsprachenunterricht ist (Letzteres auch Sprachlehrforschung genannt), die v. a. im Hinblick auf den Fremdsprachenunterricht betriebene kontrastive Linguistik, bei der es v. a. um die Erfassung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen (in der Regel zwei) Sprachen geht, die Übersetzungswissenschaft, die Lexikographie, die sich (im Unterschied zur Lexikologie) mit der Erstellung von Wörterbüchern beschäftigt, sowie die Patholinguistik, die Sprach-, Sprech- und Sprachentwicklungsstörungen untersucht.
 
Einen etwas anderen Status hat die oft zur angewandten Sprachwissenschaft gerechnete Computerlinguistik, da sie zum einen - etwa im Zusammenhang mit der Erforschung der bei der Sprachverarbeitung ablaufenden Prozesse - linguistische Grundlagenforschung leistet und zum anderen vielfach Beiträge zu Anwendungsbereichen anderer Teildisziplinen liefert, denen nur gemeinsam ist, dass bei ihnen der Computer eingesetzt wird. Wichtige Anwendungsbereiche der Computerlinguistik sind die maschinelle Übersetzung, die computergestützte Lexikographie, die automatische Generierung und Erkennung von Sprache sowie die Erstellung von Konkordanzen und Textdatenbanken. Enge Beziehungen zur Computerlinguistik hat die statistische Linguistik, die sprachliche Regularitäten unter quantitativen Aspekten untersucht und damit die Grundlagen u. a. für die Herstellung von Häufigkeitswörterbüchern oder für stilistische Textanalysen bereitstellt. Außer für die genannten Anwendungsbereiche sind Ergebnisse der Sprachwissenschaft auch für alle anderen mit Sprache befassten Wissenschaften von Bedeutung, aber auch für Aufgaben der Sprachberatung und Sprachplanung und nicht zuletzt für die alltägliche Sprachpraxis.
 
 Geschichte
 
Die Sprachwissenschaft als eigenständige wissenschaftliche Disziplin ist eine relativ junge Wissenschaft, denn erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts kann man von Sprachwissenschaft in dem eingangs erläuterten Sinne sprechen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache und Sprachen ist dagegen wesentlich älter - allerdings immer »von außen« motiviert, d. h. durch andere Zusammenhänge, in denen Sprache, Sprachen und sprachliche Phänomene genauerer Untersuchungen bedurften. Diese Untersuchungen entfernten sich zum Teil aber so weit vom eigentlichen Anlass, dass man in diesen Fällen durchaus schon von Sprachwissenschaft sprechen kann, wenn auch noch nicht von einer wissenschaftlichen Disziplin im modernen Sinne.
 
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache hat sich unabhängig voneinander in mehreren Kulturkreisen entwickelt, wobei die Anstöße jeweils v. a. von bestimmten Problemen im Umgang mit älteren Texten, teilweise aber auch von philosophischen Fragestellungen ausgingen. Die frühesten Bemühungen dieser Art sind aus Mesopotamien bekannt, wo das Sumerische, dessen erste Schriftdokumente aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. datieren, zwar nur bis um 2300 v. Chr. gesprochen und dann vom Akkadischen abgelöst wurde, aber noch weitere zwei Jahrtausende als Schriftsprache im Gebrauch blieb, was u. a. zu einer zweisprachigen Lexikographie führte. In Indien hatte die wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache religiöse Ursprünge: Die rituell motivierte Notwendigkeit, einerseits die mündlich überlieferten heiligen Texte des Hinduismus, die aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. stammenden Veden, bei den religiösen Zeremonien in ihrem ursprünglichen Wortlaut wiederzugeben, und andererseits der im Lauf der Jahrhunderte erfolgte Sprachwandel einschließlich der regionalen Differenzierung machten es erforderlich, das Verständnis der alten Texte zu sichern sowie die alte klassische Literatursprache, das Sanskrit, zu erhalten und entsprechende Normen - auch für die Ausbildung der Priester - festzulegen. Diesem Zweck diente auch das älteste erhaltene Dokument der Beschäftigung mit Sprache in Indien, die Sanskritgrammatik des Panini (6./5. Jahrhundert v. Chr.), die erkennen lässt, dass sie schon auf einer langen Tradition aufbauen konnte. Die zunehmend auch unabhängig von ihrem ursprünglichen, religiösen Kontext betriebenen Studien zur Semantik, Grammatik, Phonologie und Phonetik lassen es gerechtfertigt erscheinen, hier schon von Sprachwissenschaft im eigentlichen Sinne zu sprechen. Gleichfalls im Sprachwandel lag auch die intensivere Beschäftigung mit Sprache in China begründet; die Veränderungen im Wortschatz, die das Verständnis der alten Klassiker der chinesischen Literatur in zunehmendem Maße erschwerten, machten die Erarbeitung von Wörterbüchern (seit dem 2. Jahrhundert n. Chr.) notwendig. Die Sprachwissenschaft in China nahm im 3. und 4. Jahrhundert durch die Begegnung mit dem Buddhismus, die eine Auseinandersetzung mit fremden, phonetisch wiedergegebenen Termini und die Reflexion auf die eigene Sprache erzwang, einen raschen Aufschwung. Im arabischen Kulturkreis war die Beschäftigung mit Sprache wesentlich religiös motiviert: zum einen durch das Verbot, den Koran zu übersetzen, sodass alle Nichtaraber, die zum Islam konvertierten, auch Arabisch lernen mussten, zum andern durch die Tradition der sprachlichen Exegese und Kommentierung des Koran. Ihren Höhepunkt erreichte die arabische Sprachwissenschaft, die sich v. a. mit Grammatik, aber auch mit Phonetik und Lexikographie beschäftigte, Ende des 8. Jahrhunderts n. Chr. in der Grammatik des Sibawaih.
 
Die abendländische Tradition geht auf die griechische Antike zurück. Ausgangspunkt waren hier v. a. philosophische Fragestellungen wie die, ob den Wörtern ihre Bedeutungen von Natur aus oder durch Konvention zukommen und ob Sprache eher etwas grundsätzlich Regelmäßiges oder eher von Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet sei (Analogisten beziehungsweise Anomalisten). Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen, u. a. durch Platon, Aristoteles und die Stoiker, führte zu weit reichenden und bis heute nachwirkenden Ergebnissen besonders in der Grammatik und der Etymologie. Dem Verständnis von älteren Texten dienende Funktion hatte die Beschäftigung mit sprachlichen Phänomenen im Hellenismus in der alexandrinischen Schule, der auch die erste erhaltene griechische Grammatik überhaupt, die des Dionysios Thrax (2. Jahrhundert v. Chr.), zu verdanken ist; ihre Begrifflichkeit wirkt ebenso wie die der Grammatik des ebenfalls in Alexandria wirkenden Apollonios Dyskolos (2. Jahrhundert n. Chr.) noch heute nach. In der röm. Antike traten die philosophischen Probleme eher in den Hintergrund, im Mittelpunkt stand die (normativ verstandene) Grammatik für Zwecke des Unterrichts und der Rhetorik. Die wichtigste Leistung dieser Epoche für die weitere Entwicklung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache besteht darin, dass sie mit den ganz der griechischen Tradition verpflichteten lateinischen Grammatiken des Donatus (4. Jahrhundert n. Chr.) und des Priscianus (5./6. Jahrhundert) ein Modell bereitstellte, das den Sprachunterricht vom Mittelalter bis heute sowie das Alltagsverständnis von Grammatik als »traditionelle Grammatik« beziehungsweise als »lateinische Schulgrammatik« entscheidend prägte.
 
Charakteristisch für das Mittelalter sind zum einen die zahlreichen grammatischen Traktate für den Lateinunterricht, zum andern die scholastische spekulative Grammatik des 13. und 14. Jahrhunderts, in der es um die Analyse der Struktur der Wirklichkeit mithilfe der Sprache ging. Die Renaissance ist im Hinblick auf die Beschäftigung mit Sprache v. a. durch die Ablösung des Lateinischen als der allein dominierenden Sprache geprägt; neben das Latein traten Griechisch und Hebräisch als weitere klassische Sprachen ins Blickfeld, ferner die europäischen Volkssprachen sowie - im Zeitalter der Entdeckungen - auch außereuropäischen Sprachen. Dies führte zu zahlreichen Grammatiken, Lehr- und Wörterbüchern sowie bei den europäischen Volkssprachen in Zusammenhang mit dem Loslösungsprozess vom Latein zur Standardisierung, Normierung und Kodifizierung dieser Sprachen. Im Zeitalter der Aufklärung erlangten daneben philosophische Fragestellungen bei der Beschäftigung mit Sprache wieder stärkere Bedeutung. Beispiele hierfür sind die rationalistischen allgemeinen (logischen) Grammatiken, insbesondere in Frankreich (Grammatik von Port-Royal), die Idee einer Universalsprache bei G. W. Leibniz, aber auch die Beschäftigung mit dem Problem des Sprachursprungs im 18. Jahrhundert (É. B. de Condillac, J. G. Herder).
 
Ausgangspunkt für die Entwicklung der Sprachwissenschaft als selbstständige wissenschaftliche Disziplin war die erstmals von W. Jones 1786 vorgetragene Hypothese, dass das Sanskrit, das Griechische, das Lateinische sowie das Gotische und Keltische eine gemeinsame Quelle haben, die man in der Folgezeit das Indoeuropäische oder Indogermanische nannte. Insbesondere R. Rask, J. Grimm und F. Bopp gelang es, durch den Vergleich verschiedener indogermanischer Sprachen (v. a. im Hinblick auf ihre lautlichen und morphologischen Eigenschaften) den Nachweis der genetischen Verwandtschaft zu erbringen (Indogermanistik) und durch ihre historisch-vergleichende Methode die Sprachwissenschaft von der noch im 18. Jahrhundert bestimmenden Sprachphilosophie und der Logik sowie von der normativen Ausrichtung früherer Grammatiken zu lösen und sie als eigenständige deskriptive Wissenschaft zu etablieren. Bedeutsam für den Beginn der Sprachwissenschaft ist auch W. von Humboldt, der Sprache nicht als Produkt (Ergon), sondern als Tätigkeit (Energeia) betrachtete und die menschliche Sprachfähigkeit (Kreativität) in den Mittelpunkt stellte.
 
War die historische Sprachwissenschaft der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts noch stark geistesgeschichtlich ausgerichtet, da sie Sprache primär als Äußerung des menschlichen Geistes betrachtete und mit der Erforschung einer Sprache auch das Wesen und die Kultur des jeweiligen Volkes beziehungsweise der jeweiligen Epoche erfassen wollte, so war die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts von einer naturwissenschaftlichen Sicht auf den Gegenstand »Sprache« geprägt. Bedeutsam sind hier zum einen A. Schleicher, der (unter dem Einfluss der Evolutionstheorie C. Darwins) Sprache als Organismus ansah, der wächst, blüht und verfällt, und dies in Form seiner Stammbaumtheorie darstellte, sowie zum andern die Junggrammatiker, die den Sprachwandel durch Gesetze im naturwissenschaftlichen Sinn (Lautgesetze) erklären wollten, die Sprachwissenschaft allerdings nicht als Natur-, sondern als Kulturwissenschaft verstanden.
 
Im Gegensatz zu der eindeutig historisch ausgerichteten Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts ist die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts im Wesentlichen synchronisch orientiert, wobei nicht die Erforschung früherer Sprachzustände, sondern die Beschäftigung mit der Gegenwartssprache im Mittelpunkt steht. Entscheidend geprägt wurde diese Neuorientierung durch F. de Saussure, der mit seinen der junggrammatischen Konzeption diametral entgegengesetzten Auffassungen, dass nicht die einzelnen sprachlichen Äußerungen, sondern das den Äußerungen zugrunde liegende System der Gegenstand der Sprachwissenschaft sei und dass jegliche Untersuchung von Sprachwandel (Diachronie) die Untersuchung von Sprachzuständen (Synchronie) voraussetze, den linguistischen Strukturalismus begründete; dieser beeinflusst die Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein stark und wird oft verkürzt mit moderner Sprachwissenschaft gleichgesetzt. Wichtige Zentren des Strukturalismus waren Genf (Genfer Schule), Prag (Prager Schule) und Kopenhagen (Glossematik). Der amerikanische Strukturalismus (L. Bloomfield u.a.) stimmt zwar in vielen Punkten mit dem europäischen Strukturalismus überein, ist jedoch weniger von de Saussure als vielmehr vom psychologischen Behaviorismus und der amerikanischen Tradition der Erforschung der Indianersprachen beeinflusst. Die Sprachwissenschaft in Deutschland hat sich diesen Entwicklungen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) erst in den 1960er-Jahren angeschlossen. Stattdessen hat die junggrammatische Tradition der historischen Sprachwissenschaft noch sehr lange nachgewirkt. Daneben haben andere Strömungen die deutsche Sprachwissenschaft bestimmt, u. a. die geistesgeschichtlich orientierte neoidealistische Sprachwissenschaft (K. Vossler), die unterschiedlichen Ausprägungen der Mundartforschung (u. a. F. Wrede), die kulturmorphologische Richtung (u. a. T. Frings) oder die inhaltbezogene Grammatik (L. Weisgerber).
 
Einen Meilenstein in der Geschichte der Sprachwissenschaft des 20. Jahrhunderts bedeutete die von N. Chomsky Mitte der 50er-Jahre entwickelte generative Grammatik, deren Ziel es ist, durch ein System von expliziten, formalen Regeln das dem aktuellen Sprachgebrauch zugrunde liegende Wissen (Kompetenz) der Sprecher einer Sprache zu erfassen. Die generative Grammatik hat im Laufe der Jahrzehnte bedeutsame Veränderungen erfahren und bildet heute als Theorie von der Sprachfähigkeit des Menschen das Zentrum einer kognitiv orientierten Linguistik, d. h. einer Linguistik, die Sprache als mentales Phänomen untersucht, das nur im Rahmen einer Gesamttheorie des menschlichen Geistes (der Kognition) zu verstehen ist und die außer der Sprachkenntnis auch den Spracherwerbsprozess sowie die bei der Sprachproduktion und der -rezeption ablaufenden Prozesse berücksichtigt (kognitive Linguistik). Die starke Konzentration sowohl des Strukturalismus als auch der generativen Grammatik auf das Sprachsystem führte Anfang der 70er-Jahre zur »pragmatischen Wende« in der Sprachwissenschaft, d. h. zur stärkeren Hinwendung zu Fragen der Sprachverwendung, des Sprachgebrauchs, die sich in der Herausbildung einer linguistischen Pragmatik sowie zahlreicher interdisziplinärer Teildisziplinen (Textlinguistik, Soziolinguistik u. a.) niederschlug.
 
Die heutige Situation ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl konkurrierender Auffassungen, Theorien und Interessen, wobei neben der kognitiven Linguistik (einschließlich der generativen Grammatik) und den verschiedenen pragmatisch-funktional orientierten Richtungen auch noch strukturalistische sowie eher traditionelle Positionen vertreten werden. Auch die Erforschung von Sprachwandel und Sprachgeschichte findet - in unterschiedlichen theoretischen Zusammenhängen - wieder stärkere Beachtung.
 
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Sprach|wis|sen|schaft, die: Wissenschaft, die eine Sprache, Sprachen in Bezug auf Aufbau u. Funktion beschreibt u. analysiert.

Universal-Lexikon. 2012.