Dichtkunst
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Po|e|tik 〈f. 20; unz.〉 Lehre von der Poesie; Sy Poetologie [<grch. poietike (techne) „Dichtkunst“; → Poesie]
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a) <o. Pl.> Lehre von der Dichtkunst:
die P. der Klassik, des Manierismus;
ein Lehrstuhl für P.;
b) Lehrbuch der Dichtkunst:
der Verfasser einer P.
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Poetik
[lateinisch poetica, von griechisch poiētike̅́ (téchnē) »Dichtkunst«] die, -, die Lehre von der Dichtkunst, ihrem Wesen und ihrer Wirkung, ihren Erscheinungsweisen, ihren Form- und Gestaltungsgesetzen und ihren Gestaltungsmitteln. Als Theorie der Poesie gehört sie in den Bereich der Literaturwissenschaft, als Reflexion über den Charakter von Kunstwerken ist sie Teil der Ästhetik, während sie sich in der Untersuchung der Darstellungsmittel der Dichtung vielfach mit Stilistik und Rhetorik berührt. Soweit die Poetik normativen Anspruch erhebt, liefert sie einerseits Anweisungen zum »richtigen« Dichten und andererseits Maßstäbe für die kritische Beurteilung der Werke.
Am Beginn der europäischen Poetik steht, neben den kritischen Äußerungen Platons zum Wahrheitsgehalt der Dichtung (»Politeia«, 10. Buch), die im Wesentlichen als Gattungspoetik angelegte und für die weitere Geschichte der Poetik nachhaltig wirksame, jedoch nur fragmentarisch überlieferte Poetik des Aristoteles (»Peri poietikes«, Über die Dichtkunst). Hierin definierte Aristoteles Kunst als »mimesis« (Mimesis) von »praxis«, eine Formulierung, die, als »Nachahmung von Handlung« übersetzt, in der Folgezeit immer wieder irreführende Deutungen begünstigte. Am folgenreichsten für die Geschichte der Poetik war der von Aristoteles postulierte wirkungsästhetische Aspekt der Tragödie, die durch Erregung von »phobos« (Schauder) und »eleos« (Jammer) die Katharsis (Reinigung) dieser Affekte bewirke. Die sich häufig auf Aristoteles berufende Lehre von den drei Einheiten (Ort, Zeit, Handlung) geht allerdings nicht auf diesen zurück, sondern wurde erst von dem Renaissancedramatiker L. Castelvetro formuliert. Aristoteles selbst forderte nur die Einheit der Handlung. - In der nacharistotelischen Zeit nahm der Einfluss der Rhetorik auf die Poetik zu. So wurde etwa Theophrasts Forderung nach Stilqualität des »prepon« (lateinisch aptum, das Angemessene) nachhaltig für die römische Poetik wirksam, v. a. in der häufig als »Ars poetica« zitierten »Epistula ad Pisones« des Horaz. Die »Angemessenheit« wurde bei Horaz zum dominierenden Prinzip, das Stimmigkeit und Harmonie eines Kunstwerkes ermöglichen und die geforderte Wahrscheinlichkeit ebenso wie die gewünschte Freiheit der Fiktion garantieren sollte. Wirkungsgeschichtlich von besonderer Bedeutung war Horaz' Definition von »delectare et prodesse« (Vergnügen bereiten und nützen) als Aufgabe der Dichtung. - Die weiterhin wichtigste poetologische Schrift der römischen Antike ist die Abhandlung »De sublimate« (Vom Erhabenen) des Pseudo-Longinus (1. Jahrhundert n. Chr.). Dieses Werk operiert mit rethorischer Begrifflichkeit, hat aber selbst eine deutlich antirhetorische Tendenz. Gegen den hellenistischen Dichter Kallimachos, der für klassizistische Formstrenge plädiert hatte, votierte der Verfasser dieser erst im 18. Jahrhundert wieder zu Bedeutung gelangten Schrift für das Wunderbare, Ungewöhnliche und Staunen Erweckende. Daneben wirkten auf die spätere Entwicklung der Poetik die rethorischen Lehrbücher der Antike ein, u. a. Cicero (»De inventione«), Dionysios von Halikarnassos, die »Rhetorica ad Herennium« (1. Jahrhundert v. Chr.) und Quintilian (»Institutio oratoria«). - Seit der Spätantike verschob sich das Interesse von Grundsatzfragen auf Fragen des Stils, hin zu einem normativen Regelkanon. Dichtkunst wurde zu einer erlernbaren »Kunstfertigkeit«.
Im Mittelalter war die Poetik des Aristoteles weitgehend unbekannt. Rezipiert wurden u. a. Platon, Cicero, die »Rhetorica ad Herennium«, Horaz, Quintilian und Dionysios. Die mittelalterliche Poetik sind Verslehren nach rethorischen Regeln und als solche z. B. in der »Ars versificatoria« des Mattheus von Vendôme, dem »Laborintus« (vor 1250) Eberhards des Deutschen und der »Poetria Parisiana« des Johannes de Garlandia Regelanweisungen für Stil und Redeschmuck. - Den Übergang vom Mittelalter zu Humanismus und Renaissance markieren die Werke von Dante Alighieri, F. Petrarca, A. Mussato und G. Boccaccio. Erst bei ihnen gelang die Herauslösung der Poetik aus dem System der Artes liberales. Zentrales Anliegen war ihnen der »poeta eruditus«, der gelehrte Dichter, sowie die Etablierung der (volkssprachlichen) Dichtkunst als eigenständige Lehre (doctrina).
Renaissance, Humanismus
und Barock: Bedeutendste Vertreter der von der Wiederentdeckung und Übersetzung der Poetik des Aristoteles beeinflussten italienischen Renaissancepoetik sind J. C. Scaliger (»Poetices libri septem«, herausgegeben 1561) und Antonio Minturno (* 1500 ?, ✝ 1574; »De poeta«, 1559; »L'arte poetica«, 1563). Zu den wesentlichen Charakteristika dieser Werke gehören das normative Regelsystem und die Orientierung an der Rhetorik. Ende des 16. Jahrhunderts entstand in Italien als Gegenbewegung die den Übergang zum Barock kennzeichnende Poetik des Manierismus. Hauptvertreter waren v. a. G. Marino, Pietro Sforza Pallavicino (* 1607, ✝ 1677) und Emanuele Tesauro (* 1591, ✝ 1675; »Il cannocchiale Aristotelico«, 1654). - Ähnlich verlief die Entwicklung in Frankreich, wo im 16. Jahrhundert die bewusste Orientierung an der Formensprache der Antike einherging mit der Besinnung auf die Nationalsprache, v. a. durch die Dichterschule der Pléiade (J. Du Bellay, »Défense et illustration de la langue française«, 1549). Im 17. Jahrhundert erreichte, nach den Vorleistungen von F. de Malherbe (»Commentaire sur Desportes«, 1625), die klassizistische Dichtungstheorie durch N. Boileau-Despréaux (»L'art poétique«, 1674) ihren Höhepunkt. Gefordert wurde eine vom Geist der Ordnung und der Vernunft geleitete Dichtung, d. h. besonders technisches Können, Einfachheit und Klarheit des Ausdrucks sowie strenge Beachtung von Regeln der Vers- und Reimtechnik. Nach diesen Prinzipien waren die Tragödien von P. Corneille und J. Racine gebaut; die Poetik des Boileau-Despréaux kodifizierte danach die Regeln für die klassizistische Tragödie, die bis weit ins 18. Jahrhundert modellhaft für Europa war. Die Gegenbewegung wurde durch C. Perrault ausgelöst (»Parallèle des anciens et des modernes«, 4 Bände, 1688-97), der den idealtypischen Charakter der antiken Muster bestritt (Querelle des anciens et des modernes). - Von der italienischen und französischen Renaissance, von den humanistischen Poetik u. a. der Niederländer D. Heinsius und G. J. Vossius kamen die Anregungen für die Ausbildung der deutschen Barockpoetik: An ihrem Beginn steht M. Opitz' »Buch von der deutschen Poeterey« (1624), das eine klassizistisch-höfische Position vertritt. In seiner Nachfolge sind u. a. P. von Zesen, C. Weise, A. Tscherning, J. Klaj und P. Harsdörffer zu nennen. - Auch in Spanien etablierte sich im 17. Jahrhundert die manieristische Poetik (B. Gracián y Morales, »Arte de ingenio«, 1642, erweitert 1648 unter dem Titel »Agudeza y arte de ingenio«). In der englischen Poetik des 16. und 17. Jahrhunderts vermochte sich der klassizistische (»aristotelische«) Standpunkt (Hauptvertreter P. Sidney, »The defence of poesie«, 1595) angesichts des shakespeareschen Dramas der offenen Form nie ganz durchzusetzen. Es entstand vielmehr eine Poetik, die zwischen dem klassizistischen Regelkanon und der These von der Einmaligkeit und Individualität jedes Kunstwerks einen vermittelnden Standpunkt bezog (J. Dryden, »Of dramatic poesy. An essay«, 1668; A. Pope, »An essay on criticism«, 1711).
In den Mittelpunkt der Diskussion des 18. Jahrhunderts trat das Problem des Geschmacks: »Bon goût« und »bel esprit« wurden zu Maßstäben der Poesie. Bedeutend für die französische Poetik wurden Jean-Baptiste Dubos (* 1670, ✝ 1742; »Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture«, 2 Bände, 1719) und C. Batteux (»Traité sur les beaux-arts reduits à un même principe«, 1746), der die Vernunft (»raison«) als oberstes Kriterium postulierte. Ein früher Vertreter einer am Geschmacksurteil orientierten deutschen Poetik war C. Thomasius (»Welcher Gestalt man denen Franzosen im allgemeinen Leben und Wandel nachahmen soll«, 1687). Der Gegensatz zwischen vernunft- und gefühlsbezogener Poetik brach auf im Literaturstreit zwischen J. C. Gottsched (»Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen«, 1730) und den Zürchern J. J. Bodmer und J. J. Breitinger (»Critische Dichtkunst«, 1740): Gottsched war der letzte große Vertreter einer normativen und klassizistischen Poetik, die den gesamten Bereich der Poesie von der Vernunft her zu regeln suchte. Bodmer und Breitinger erweiterten, unter dem Einfluss des englischen Sensualismus (J. Addison, S. Johnson), diesen Ansatz um den Aspekt des Wunderbaren. Auch die Brüder J. E. und J. A. Schlegel wandten sich vom strengen klassizistischen Standpunkt ihres Lehrers Gottsched ab. Der entscheidende Anstoß für die antiklassizistische Poetik in der deutschen Literatur kam jedoch von G. E. Lessing: Er stellte im berühmten »17. Literaturbrief« der »Hamburgischen Dramaturgie« (1767) der Regelakribie des (französischen) Klassizismus eine neue Aristotelesrezeption sowie die Vorbildhaftigkeit der shakespeareschen Dramen entgegen. Er belebte Katharsis- und Affektenlehre neu und rückte vom rationalistischen Mimesisbegriff ab. Diese Überlegungen griffen dann die Vertreter des Sturm und Drang auf und radikalisierten sie im Leitbegriff des Geniegedankens.
Vom Sturm und Drang bis zur Gegenwart:
Der erwachende Subjektivismus der Spätaufklärung (in Deutschland des Sturm und Drang) leiteten eine grundsätzliche Wende in der Geschichte der Dichtungstheorie ein. Es vollzog sich die endgültige Absage an das poetologische System und die Hinwendung zu dichterischer Subjektivität, die sich in Empfindung, Begeisterung und Inspiration sowie individueller und nationaler Originalität ausdrücken sollte. Poetische Vorbilder waren v. a. Shakespeare und J. Macphersons »Ossian«. Diese neue Poetik wurde in Deutschland von J. G. Herder, H. W. Gerstenberg (»Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur«, 3 Bände, 1766-70), dem jungen Goethe (»Zum Schäkespears Tag«, entstanden 1771, herausgegeben 1854) und J. M. R. Lenz (»Anmerkungen übers Theater«, 1774) begründet. - Nach der Abkehr von einem poetologischen System folgten einerseits praxisorientierte Stellungnahmen (Essays, Aphorismen) der Schriftsteller zu Fragen ihrer Kunst oder andererseits abstrakt-theoretische Entwürfe im Rahmen der allgemeinen Ästhetik (z. B. Schiller, F. W. Schelling, R. Solger, G. W. F. Hegel, Jean Paul, W. Dilthey). Hinzu kam, seit der akademischen Etablierung der Philologien im 19. Jahrhundert, mit zunehmendem Gewicht die literaturwissenschaftliche Forschung (K. Lachmann, W. Scherer u. a.). Konservative und progressive Richtungen der verschiedensten Art setzten dabei auf internationalen Ebene die seit dem italienischen Manierismus aktuelle Kontroverse in der Poetik fort. So wurde die Auffassung der Manieristen, Sprache sei nicht als Abbildung von Wirklichkeit zu verstehen, durch die Poetik der Romantik (F. von Schlegel, Novalis, Theorie von der »progressiven Universalpoesie«, S. T. Coleridge, W. Wordsworth) und der frühen Moderne (E. A. Poe, P. Verlaine) erneut vertreten. Entgegengesetzte Strömungen repräsentieren v. a. Realismus und Naturalismus (A. Holz, »Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze«, 2 Bände, 1891-92).
Zu den im engeren Sinn poetologischen Problemen, mit denen sich die Poetik seit Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigt, gehört als zentrales Thema die Gattungstheorie, um die sich v. a. die Poetik der Weimarer Klassik bemühte. Die in Goethes Lehre von den Naturformen der Dichtung erstmals festgehaltene Gattungstrias (Epik, Lyrik, Dramatik) wurde dabei bis in die Gegenwart häufig diskutiert (E. Staiger, »Grundbegriffe der Poetik«, 1946; Käte Hamburger, »Die Logik der Dichtung«, 1957).
Für die Autoren des 20. Jahrhunderts hat Poetik im Sinne einer allgemeinen normativen Ordnung jede Bedeutung verloren; die Schreibkonzeption äußert sich in Individualpoetiken, die durch die Werke, in denen sie praktiziert werden, weiterwirken und nachgeahmt werden (z. B. die poetologischen Manifeste des Surrealismus, das epische Theater B. Brechts oder die konkrete Poesie). Als literaturwissenschaftliche Disziplin erhielt sie neue Impulse durch den sprachtheoretischen Strukturalismus, durch die Text- und Kommunikationstheorie und die Hermeneutik.
B. Markwardt: Gesch. der dt. P., 5 Bde. (1-31959-71);
Dichtungslehren der Romania aus der Zeit der Renaissance u. des Barock, hg. v. A. Buck u. a. (1972);
H. Wiegmann: Gesch. der P. (1977);
P. Klopsch: Einf. in die Dichtungslehren des lat. MA. (1980);
Texte zur Gesch. der P. in Dtl., hg. v. H. G. Rötzer (1982);
M. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike (21992);
W. Jung: Kleine Gesch. der P. (1997).
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Universal-Lexikon. 2012.