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Schelling
Schẹlling,
 
1) Dorothea Caroline Albertine von, Schriftstellerin, * Göttingen 2. 9. 1763, ✝ Maulbronn 7. 9. 1809, Tochter des Orientalisten Johann David Michaelis (* 1717, ✝ 1791), 1803-09 Ȋ mit 2). Schelling heiratete 1784 den Bergarzt Johann Franz Wilhelm Böhmer in Clausthal (heute zu Clausthal-Zellerfeld). Nach dessen Tod (1788) lebte sie in Göttingen und Marburg und ging 1792 nach Mainz, wo sie, beeinflusst von J. G. A. Forster, der mit der revolutionären französischen Besatzungsmacht sympathisierenden Partei nahe trat; deswegen wurde sie 1793 in Königstein im Taunus gefangen gesetzt. Mit F. Schlegel verband sie eine freundschaftliche Beziehung. 1796 verheiratete sie sich mit A. W. Schlegel, von dem sie 1803 geschieden wurde. Im gleichen Jahr heiratete sie F. W. J. von Schelling. - Schelling und ihr Haus waren Mittelpunkt der geselligen Geistigkeit des frühromantischen Jenaer Kreises. Sie hatte Anteil an mehreren unter A. W. Schlegels Namen erschienenen Aufsätzen und dessen erster Shakespeare-Übersetzung; verfasste Besprechungen belletristischer Werke; bedeutender Briefwechsel.
 
Ausgaben: Briefe aus der Frühromantik, herausgegeben von E. Schmidt, 2 Bände (1913-21, Nachdruck 1970); Lieber Freund, ich komme weit her schon an diesem frühen Morgen. C. Schlegel-Schelling in ihren Briefen, herausgegeben von S. Damm (1980).
 
Literatur:
 
G. F. Ritchie: C. Schlegel-S. in Wahrheit u. Dichtung (1968);
 E. Mangold: C. Ihr Leben, ihre Zeit, ihre Briefe (1973);
 G. Dischner: C. u. der Jenaer Kreis (1979);
 E. Kleßmann: »Ich war kühn, aber nicht frevelhaft«. Das Leben der C. Schlegel-S. (Neuausg. 1992).
 
 2) Friedrich Wilhelm Joseph von, Philosoph, * Leonberg 27. 1. 1775, ✝ Bad Ragaz 20. 8. 1854, 1803-09 Ȋ mit 1); väterlicher- und mütterlicherseits aus Pastorenfamilien stammend, trat Schelling schon früh durch seine außerordentliche Begabung hervor, sodass er bereits im Alter von 15 Jahren am Tübinger Stift ein Theologiestudium beginnen konnte. Dort befreundete er sich mit F. Hölderlin und G. W. F. Hegel. Die späte Aufklärung nahm einen prägenden Einfluss: durch die als konkrete Realisierung des rousseauschen Denkens verstandenen politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen der Französischen Revolution, aber auch in der Rezeption der Lehren I. Kants von der Autonomie der Person und der theoretischen Unbeweisbarkeit der Existenz Gottes und der Philosophie J. G. Fichtes. Hinzu kam die durch F. von Schiller und J. J. Winckelmann vermittelte Begeisterung für die klassische griechische Philosophie. Angeregt durch Fichtes Schrift »Über den Begriff der Wissenschaftslehre oder der sogenannten Philosophie« (1794) verfasste Schelling seine ersten philosophischen Abhandlungen (»Über die Möglichkeit einer Form der Philosophie überhaupt«, 1795, und »Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen«, 1795). Nach seinem Examen (1795) wurde Schelling Hauslehrer der Barone von Riedesel (Ludwig Georg Friedrich Karl German und Friedrich Ludwig Karl Wilhelm), die er 1796 an die Universität Leipzig begleitete, wo er intensive Studien der Mathematik und Naturwissenschaften betrieb. Seine Kenntnisse fanden Eingang in seine Entwürfe zu einer Naturphilosophie (beginnend mit »Ideen zu einer Philosophie der Natur«, 1797). 1798 wurde Schelling auf Vermittlung von Goethe, Fichte und Schiller Professor in Jena, wo zu dieser Zeit Fichte und (seit 1801) Hegel lehrten. Schelling schloss sich dem romantischen Freundeskreis um Caroline Schlegel an. Er veröffentlichte weitere Entwürfe einer Naturphilosophie (u. a. »System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere«, 1804) und begründete sein Identitätssystem (u. a. »Darstellung meines Systems der Philosophie«, in: »Zeitschrift für speculative Physik«, Band 2, 1801). 1802/03 gab Schelling gemeinsam mit Hegel das »Kritische Journal der Philosophie« (2 Bände) heraus. 1803 wurde er Professor in Würzburg; im selben Jahr heiratete er Caroline. Mit dem Mediziner Adalbert Friedrich Marcus (* 1753, ✝ 1816) gab Schelling die »Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft« (1805-08) heraus. 1806-20 und 1827-41 wirkte Schelling in München als Mitglied und als Vorstand der Akademie der Wissenschaften, 1807-23 als Direktor der Akademie der bildenden Künste. 1820-27 las er an der Universität Erlangen, seit 1827 war er Professor an der Universität in München. 1812 heiratete Schelling Pauline Gotter (* 1786, ✝ 1854). Schelling öffnete sich in dieser Zeit, angeregt durch F. von Baader (durch ihn entdeckte er J. Böhme), zunehmend religiösem und theosophisch-mystischem Denken, das er in seine Philosophie einzubeziehen suchte. 1809 erschienen die »Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit«. 1841 wurde Schelling - durch den preußischen König als Gegengewicht zum herrschenden Hegelianismus berufen - Professor in Berlin. Zu seinen Hörern zählten u. a. S. Kierkegaard, F. Engels, M. Bakunin. Seine mystisch-spekulative Spätphilosophie wurde kaum verstanden, sodass sich Schelling 1846 vereinsamt zurückzog.
 
Schellings Philosophie, die - zwischen Fichte und Hegel eingeordnet - allgemein als »objektiver Idealismus« bezeichnet wird, orientiert sich primär an den Leitbegriffen »Natur«, »Freiheit« und »Geschichte«. Die eigentliche Frage der Philosophie gilt dabei nicht der gegenständlichen Wirklichkeit, sondern sie lautet: »Wie muss eine Welt für ein moralisches (das heißt aus Freiheit handelndes) Wesen beschaffen sein?« Mit dieser Einbettung theoretischer Reflexion in ein sie bestimmendes praktisches Interesse radikalisiert Schelling den Ansatz Kants, der die Rechtmäßigkeit des Glaubens an Gott, Freiheit und Unsterblichkeit durch »Postulate der praktischen Vernunft« abzusichern suchte, deren Wahrheitsanspruch sich wiederum durch konkretes moralisches Handeln erfüllen muss. - Ausgehend von Fichtes Transzendentalphilosophie bestimmt der junge Schelling, auf der Suche nach dem Unbedingten in der Philosophie, das Absolute, das sowohl von den wissbaren Gegenständen als auch von der subjektiven Weise (empirisches Ich) des Wissens verschieden sein müsse, als »absolutes Ich«, das zugleich reine Identität und Freiheit und nur in einem mystischen Erfahrungen ähnlichen Akt »intellektueller Anschauung« zugänglich sei. »Intellektuelle Anschauung« ist nicht lehr- und lernbar, sondern als eine Selbstaufgabe der Individualität einzuüben, wobei das Wesen der Dinge aus der nichtgegenständlichen Welt heraus erfasst werden soll. Die in diesem Zusammenhang (gegen Fichte und bis zum persönlichen Bruch mit ihm) gestellte Frage nach der Möglichkeit des Ichbewusstseins und des dieses konstituierenden Aktes der Freiheit betrachtet Schelling als Ausgangspunkt der Naturphilosophie, die er der transzendentalen Frage als gleichrangig beiordnet (»System des transcendentalen Idealismus«, 1800). Dabei orientiert Schelling die Naturphilosophie u. a. an der Naturmystik (z. B. an der Böhmes), an der neuplatonischen Spekulation und an der zeitgenössischen Naturwissenschaft (z. B. »Ideen zu einer Philosophie der Natur«, 1797).
 
In scharfer Wendung gegen die mathematisch und mechanistisch orientierte Naturwissenschaft in der Folge von I. Newton und R. Descartes und gegen die abstrakt-logische Behandlung der Natur im philosophischen System v. a. bei Fichte fasst Schelling Natur als eine lebendige, produktive Wirklichkeit auf. Aufgabe der Naturphilosophie ist es, zu begreifen, wie Natur aus sich selbst wirksam ist und sich in einer dynamischen Stufenfolge in ihre Naturprodukte zu entfalten vermag. Schelling unterscheidet Natur als bloßes Produkt (natura naturata) oder als Objekt (auf diese allein gehe alle Empirie) und Natur als Produktivität (natura naturans) oder als Subjekt (auf diese gehe alle Theorie). Das Naturgeschehen sieht Schelling somit als einen dialektischen Prozess des Werdens an, wobei die Prinzipien der Polarität und der Steigerung eine bestimmende Rolle spielen; die Welt stellt sich als ein fortwährender Schöpfungsprozess und als Manifestation des Göttlichen dar. - Den Beginn der Geschichte des Menschen bildet ein als »mythisches Bewusstsein« bezeichneter Ur- und Naturzustand, der sich im Gefühl der Einheit mit der Welt ausdrückt. In Analogie zum biblischen Sündenfall wird dieser Zustand durch einen Akt der »Entzweiung« mit der Natur aufgehoben. Philosophie als Reflexion des Bewusstseins ist Folge seiner verlorenen Identität mit der Natur. Die Aufgabe der Philosophie besteht demnach darin, in den ursprünglichen Zustand der Einheit von Mensch und Natur zurückzuführen und sich so überflüssig zu machen durch das Begreifen der Natur, insbesondere der Organismen als unbewusster Vorform der Subjektivität und ihrer Entwicklung zum Selbstbewusstsein. Welt ist so sowohl Naturgeschichte als auch Geschichte des Geistes. - Die erreichte Erweiterung des subjektiven Bewusstseins wird als Identitätsphilosophie oder Realidealismus bezeichnet. Der Kunst fällt eine entscheidende Rolle in der historischen Überwindung der Entzweiung des Menschen von der Natur zu, insofern sie eine Vorwegnahme der Einheit von unbewusster und bewusster Tätigkeit, von Natur und Vernunft darstellt. - Die »Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit« (1809), die letzte von Schelling selbst publizierte systematische Schrift, markieren den Wandel zur Spätphilosophie. Freiheit als Vermögen des Guten und des Bösen steht danach in Gefahr, die individuelle wie die gesellschaftliche Menschheitsentwicklung zum Bösen hin entarten zu lassen, indem sie die naturhafte Komponente des Ich der Vernunft überordnet. Wille, als naturhafter »Drang« gefasst, ist für die Unordnung in Geschichte und Natur bestimmend. Besonders die Spätphilosophie Schellings (Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung) versucht eine philosophische Durchdringung der christlichen Grundlehren, wobei die Freiheitsthematik und die unvollendet gebliebene Philosophie der »Weltalter« (seit 1810), mit der Schelling sich christlichen Spekulation zugewandt hatte, wieder aufgegriffen werden. »Positive Philosophie« ist nur unter der Voraussetzung einer »negativen Philosophie« möglich, das heißt der Einsicht, dass sich das Ich nicht selbst in seiner Gewissheit begründen kann und daher die absolute Transzendenz Gottes voraussetzen muss. Diese Selbstbegrenzung der Vernunft kann als »Vollendung« der Philosophie des deutschen Idealismus betrachtet werden, sofern die Forderung nach individuellem vernünftigem Begreifen ihre Grenzen durch die Vernunft selbst erfasst.
 
Schellings Einfluss erstreckte sich, wenngleich nicht schulebildend, auf eine Reihe einzelner Denker, in der Naturphilosophie auf L. Oken, H. C. Ørsted, H. Steffens und auf K. C. F. Krause. Insbesondere die Spätphilosophie Schellings wirkte auf die russische Religionsphilosophie (W. S. Solowjow); in neuerer Zeit findet die Frage nach ihrer Stellung im Zusammenhang von Schellings Denkentwicklung Beachtung. Schellings Denken ist auch für die Auffassung des Willens in philosophischer Anthropologie und Psychologie (A. Schopenhauer, F. Nietzsche, S. Freud, M. Scheler), für die Existenzphilosophie (S. Kierkegaard, K. Jaspers, M. Heidegger) und die Lebensphilosophie (H. Bergson) bedeutsam gewesen. Unter ökologischen Gesichtspunkten gewinnen die naturphilosophischen Überlegungen Schellings zur Einheit von Mensch und Natur besondere Aktualität. Seine Auffassung von Kunst wurde in der neueren Ästhetik als Antizipation einer menschlich gewordenen Natur und eines natürlich gewordenen Menschen wieder aufgegriffen (T. W. Adorno, E. Bloch).
 
Weitere Werke: Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799); Bruno, oder über göttliche und natürliche Principien der Dinge. .. (1802); Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803); Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zu der verbesserten Fichte'schen Welt (1806).
 
Ausgaben: Sämmtliche Werke, 14 Bände (1856-61); Werke, herausgegeben von M. Schröter u. a., 6 Bände, 6 Ergänzungsbände und 1 Nachlassband (1927-59, Nachdruck 1965-68); Briefe und Dokumente, herausgegeben von H. Fuhrmans, 3 Bände (1962-75); Initia philosophiae universae, herausgegeben von demselben (1969); Grundlegung der positiven Philosophie, herausgegeben von demselben (1972); Fichte - Schelling. Briefwechsel, Einführung von Walter Schulz (1968); Historisch-kritische Ausgabe, herausgegeben von H. M. Baumgartner u. a., auf 80 Bände berechnet (1976 folgende); Philosophie der Offenbarung, herausgegeben von M. Frank (1977); System der Weltalter. Münchner Vorlesung 1827/28. .., herausgegeben von S. Peetz (1990).
 
Literatur:
 
R. Haym: Die romant. Schule (1870, Nachdr. 1977);
 H. Fuhrmans: S.s letzte Philosophie. Die negative u. positive Philosophie im Einsatz des Spätidealismus (1940);
 G. Schneeberger: F. W. J. v. S. Eine Bibliogr. (Bern 1954);
 K. Jaspers: S. Größe u. Verhängnis (1955, Nachdr. 1986);
 H. J. Sandkühler: F. W. J. S. (1970);
 H. Holz: Spekulation u. Faktizität. Zum Freiheitsbegriff des mittleren u. späten S. (1970);
 M. Heidegger: S.s Abh. »Über das Wesen der menschl. Freiheit« (1971);
 
S. im Spiegel seiner Zeitgenossen, hg. v. X. Tilliette, 3 Bde. (Turin 1974-88);
 
S. Einf. in seine Philosophie, hg. v. H. M. Baumgartner (1975);
 J. Kirchhoff: F. W. J. v. S. (1982);
 M. Frank: Eine Einf. in S.s Philosophie (1985);
 H. Kuhlmann: S.s früher Idealismus (1993);
 F. J. Wetz: F. W. J. S. zur Einf. (1996);
 
F. W. J. S., hg. v. H. J. Sandkühler (1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Schelling und die Philosophie der Romantik
 

Universal-Lexikon. 2012.