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Dilthey
Dịlthey,
 
Wilhelm, Philosoph, * Biebrich (heute zu Wiesbaden) 19. 11. 1833, ✝ Seis (bei Bozen) 1. 10. 1911; studierte u. a. Theologie und Philosophie in Heidelberg und Berlin, war 1867/68 Professor in Basel, 1868-71 in Kiel, 1871-82 in Breslau, seit 1882 in Berlin. Dilthey ist Begründer der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften und einer der Hauptvertreter der hermeneutischen Wissenschaften (»historische Schule«); er versuchte, eine »Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen« (1910) aufzubauen und methodisch zu sichern: Im Unterschied zu den Naturwissenschaften, in denen unabhängig vom menschlichen Handeln gegebene Ereignisse durch theoretische Entwürfe (Hypothesen) systematisiert und erklärt werden, muss der Geisteswissenschaftler seinen Gegenstandsbereich - dessen Teil er selbst ist -, die symbolischen Zusammenhänge der gesellschaftlichen und geschichtlichen Wirklichkeit des Menschen, durch Nachvollziehen dieser Lebensäußerungen verstehen. Seinen Objektbereich findet er immer schon gegliedert (organisiert) vor, seine Analyse geht von den Bedeutungen aus, die Menschen ihrer Welt gegeben haben und die sich u. a. in Institutionen, Konventionen des Redens und Handelns, geltenden moralischen Wertvorstellungen, Kunstwerken dokumentiert haben. Durch das Erleben fremder Sinnformen und die nachfolgende Rekonstruktion ihrer Entstehung, das heißt durch das hermeneutische Sinnverstehen, das sich auf die drei Klassen menschlicher Lebensäußerungen, nämlich sprachliche Ausdrücke, Handlungen und Erlebnisausdrücke (mimische, gestische und physiognomische Expressionen) richtet, erlangt der Mensch ein Verständnis seiner eigenen Geschichtlichkeit, das ihm den Bezugsrahmen für eine systematische Interpretation seiner Erfahrung in der Gegenwart liefern soll.
 
Durch neuere Editionen aus dem Nachlass ist die Bedeutung Diltheys als Wissenschaftstheoretiker, Wissenschaftsforscher und Psychologe seit den 70er-Jahren deutlicher sichtbar geworden. Nicht nur seine Wirkungen auf die so genannte Dilthey-Schule (G. Misch, H. Nohl, E. Spranger, O. F. Bollnow), sondern auch seine Bedeutung für E. Husserl, M. Heidegger, H. Plessner sowie für die Kultur- und Sozialwissenschaften und für die Wissenschaftsforschung sind beachtlich. In weiteren Kreisen war Dilthey v. a. bekannt durch seine literarischen Studien. (Hermeneutik)
 
Weitere Werke: Das Leben Schleiermachers, 2 Bände (1879-1922); Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883); Über die Möglichkeit einer allgemeingültigen Pädagogik (1888); Beiträge zur Lösung der Frage vom Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt (1890); Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894); Jugendgeschichte Hegels (1905); Das Erlebnis und die Dichtung (1906); Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910); Von deutscher Dichtung und Musik (herausgegeben 1933); Die große Phantasiedichtung (herausgegeben 1954).
 
Ausgabe: Gesammelte Schriften, herausgegeben von E. Weniger u. a., 20 Bände (1-111966-94).
 
Literatur:
 
K. T. Glock: W. D.s Grundlegung einer wiss. Lebensphilosophie (1939);
 G. Misch: Vom Lebens- u. Gedankenkreis W. D.s (1947);
 H. Diwald: W. D. Erkenntnistheorie u. Philosophie der Gesch. (1963);
 O. F. Bollnow: D. Eine Einf. in seine Philosophie (31967);
 P. Krausser: Kritik der endl. Vernunft. W. D.s Revolution der allgemeinen Wissenschafts- u. Handlungstheorie (1968);
 U. Herrmann: Die Pädagogik W. D.s (1971);
 
D. u. die Philosophie der Gegenwart, hg. v. E. W. Orth (1985);
 T. Herfurth: D.s Schriften zur Ethik (1992);
 A. Homann: D.s Bruch mit der Metaphysik (1995).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Dilthey: Plädoyer für die Geisteswissenschaften
 

Universal-Lexikon. 2012.