Wissenschaft der Deutung
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Her|me|neu|tik 〈f.; -; unz.〉 Kunst der Auslegung, Deutung von Schriften, Kunstwerken usw. [zu grch. hermeneutes „Ausleger, Erklärer“; zu hermeneuein „auslegen, erklären“]
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Her|me|neu|tik, die; - [griech. hermēneutike̅̓ (téchnē), zu: hermēneutikós = auf die Erklärung, Interpretation bezüglich, zu: hermēneúein = deuten, auslegen]:
1. Lehre von der Auslegung u. Erklärung eines Textes od. eines Kunst- od. Musikwerks.
2. das Verstehen von Sinnzusammenhängen in Lebensäußerungen aller Art aus sich selbst heraus (z. B. in Kunstwerken, Handlungen, geschichtlichen Ereignissen).
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I Hermeneutik,
Unter Hermeneutik wird die wissenschaftliche Auslegung und Erklärung bedeutungs- beziehungsweise sinnhaltiger menschlicher Äußerungen verstanden, die aktuelle Vollzüge (z. B. alltägliche Interaktions- und Kommunikationsformen) oder Objektivierungen (z. B. von Texten, Kunstwerken, Bauten) sein können.
Hermeneutik
[griechisch, zu hermēneúein »aussagen«, »auslegen«, »erklären« (als Symbolfigur gilt der Götterbote Hermes)] die, -, im engeren Sinn die Kunst der Interpretation von Texten, im weiteren Sinn das Verstehen von Sinnzusammenhängen in Lebensäußerungen aller Art (z. B. in Kunstwerken, Handlungen und geschichtlichen Ereignissen). Unterstellt wird dabei, dass solche Sinnzusammenhänge von einer oder mehreren Personen, die in der Regel vom Interpreten verschieden sind, in die fraglichen Äußerungen hineingelegt wurden. Es gilt darum, sich auf die Sache einzulassen und sich in sie einzufühlen.
Die Hermeneutik zielt auf die Gewinnung von Erkenntnissen. Sie steht neben der erfahrungswissenschaftlichen Vorgehensweise, welche u. a. durch Distanz zu ihren Gegenständen gekennzeichnet und auf (kausale) Erklärungen aus ist. In der Neuzeit wurden an die Hermeneutik immer wieder die Maßstäbe v. a. naturwissenschaftlichen Denkens herangetragen. Ihr wurde Subjektivität (die Beiträge des Erkennenden und des Erkannten lassen sich nicht scharf trennen, weshalb intersubjektive Übereinstimmung nicht immer erreicht wird) und Beliebigkeit (im Sinne des Fehlens methodologischen Standards) vorgeworfen. Die hermeneutisch orientierte Philosophie macht demgegenüber geltend, dass jedes Erkennen, also auch das naturwissenschaftliche, immer schon in ein nur hermeneutisch zu erschließendes Vorverständnis eingebettet ist. Dieser »hermeneutische Zirkel« lässt sich nicht durchbrechen. Die Hermeneutik gilt seit W. Dilthey als die Methode der Geisteswissenschaften. Auch in den historischen Wissenschaften spielt sie eine Rolle, insofern sich diese nicht auf die Aufzeichnung von Fakten anhand von Quellen beschränken.
Zu einer eigentlichen Disziplin wurde die Hermeneutik in der frühen Kirche. Neben die Exegese trat die Hermeneutik als die selbstständige Kunst der Kommentierung der Bibel. Der Kirchenvater Tertullian entwickelte in Anknüpfung an die antike Rhetorik eine technische Hermeneutik mit eigenem Regelkanon. Lang bewährte rethorische Prinzipien, wie die Erklärung des Einzelnen aus dem Ganzen und der »dunklen« Stellen aus den »hellen«, finden sich bei ihm wieder. Als Erster formulierte Origenes eine in platonischer Tradition stehende, auch philosophische Fragen berücksichtigende Theorie der Schriftauslegung. Er löste sich von der buchstäblichen Interpretation der Schrift, öffnete aber die Bibel über die allegorische Interpretation der philosophisch-mystischen Spekulation. Bei Augustinus fand die patristische Hermeneutik ihren Höhepunkt und Abschluss. Er verschmolz die antike Rhetorik, den Neuplatonismus und die christliche Dogmatik zu einer Einheit, die im ganzen Mittelalter Geltung behalten sollte.
Mit M. Luther setzte die moderne biblische Hermeneutik ein. Sein Prinzip, die Bibel müsse aus sich heraus begriffen werden, führte zum alleinigen Vorrang der Schrift (sola scriptura). Luther reflektierte die dogmatischen und methodologischen Voraussetzungen seiner Hermeneutik jedoch noch nicht. Der Humanismus entwickelte in seinem Bestreben, die Quellen abendländischer Kultur in den antiken Texten zu erschließen, eine weltliche (profane) Hermeneutik.
Im 17. und 18. Jahrhundert wurden unter dem Eindruck des von R. Descartes formulierten Methodenideals verschiedene Versuche unternommen, die Hermeneutik als Methode zu entwickeln. In der Theologie gab zuerst J. A. Turretti den hermeneutischen Vorrang der Bibel auf. J. A. Ernesti entwickelte eine streng am Text orientierte grammatische Hermeneutik; J. S. Semler berücksichtigte als Erster die historische Dimension der Bibel. In der Philosophie unterzog B. Spinoza die Bibel der Vernunftkritik, die zu einer Unterscheidung von Glaubens- und Vernunftwahrheiten, aber auch zu einer Anerkennung des Glaubens führte. C. Wolff nahm in seiner »Lateinischen Logik« die Hermeneutik in Form einer »allgemeinen Auslegungslehre« auf und entwickelte sie in Richtung auf eine Semantik weiter. Allen modernen Versuchen bis ins 18. Jahrhundert ist gemeinsam, dass sie im Zuge des modernen Wissenschaftsverständnisses die Hermeneutik entweder als Methode in philologischer Hinsicht zu begründen versuchen oder - in Anknüpfung an ihre Stellung in der antiken Rhetorik - eine Ausweitung auf alles praktisch-empirische und historische Wissen vornehmen, »das Wahre und das Gemachte fallen zusammen« (G. B. Vico).
Die zweite hermeneutische Wende trat mit F. D. E. Schleiermacher ein. Im Rückgriff auf die Sprachlichkeit allen menschlichen Denkens, Redens und Verstehens zeigte er als Erster die Universalität der Hermeneutik auf. Obwohl als Theologe an historisch-philologische Bibelinterpretationen gebunden, durchbrach er als Erster den engen Rahmen der Philologie und entwickelte das Verstehen als einen sich in und mit der Sprache vollziehenden Prozess, der in schriftlichen und mündlichen Zeugnissen zum Ausdruck kommt. In dieses Geschehen sind immer die Sprache als das Allgemeine und der einzelne Sprecher als das Individuelle ineinander verflochten. Das Verstehen erweist sich so als Kommunikation, als Gespräch von mindestens zwei Sprechern. Besonders W. Dilthey versuchte im 19. Jahrhundert den universellen Anspruch der Hermeneutik, Methode aller Geisteswissenschaften zu sein, nachzuweisen. Hermeneutik ist für ihn »Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen«. Die Totalität des Lebens, wie sie sich exemplarisch in der Autobiographie von Personen äußert, ist für ihn der Modellfall. So kommt erst im 19. Jahrhundert die Geschichtlichkeit des Verstehens in den Blick.
Den letzten Neuanfang der Hermeneutik unternahm M. Heidegger in seiner »Hermeneutik der Faktizität«. In seiner Analyse erwies er das Verstehen nicht als psychischer Akt, sondern als pragmatische Erschließung der Welt. Im alltäglichen Handeln versteht sich das menschliche Dasein darauf, in seiner Welt zu sein und sich handelnd zu ihr zu verhalten, ohne dass dies dem Menschen immer bewusst wäre. Das ist die »Vor-Struktur des Verstehens«, mit der Heidegger das traditionelle Verhältnis von Erfahrung und Wissen umkehrt: Wissen und Wissenschaft sind sekundär. Bei Heidegger bleibt die Hermeneutik nicht mehr beschränkt auf die Methode der Geisteswissenschaften. Dem hermeneutischen Problem zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Verstehen und Methode, zwischen Subjektivität und Objektivität versucht H. G. Gadamer in »Wahrheit und Methode« (1960) gerecht zu werden. In seiner die ganze Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten der Hermeneutik in Kunst, Geschichte, Theologie, Rechtsprechung und Philosophie berücksichtigenden Untersuchung weist er die eigentliche Bedeutung der Hermeneutik nach. Verstehen als der Vollzug der in Sprache sich ereignenden Verständigung wird zum über- und unindividuellen Prozess. Damit löst sich Gadamer von der modernen Subjektivitätsphilosophie. Er formuliert eine nicht mehr den positiven Wissenschaften verpflichtete hermeneutische Philosophie, die ihr Anliegen an Spiel, Dialog und Sprachverstehen aufzeigt. Zahlreiche Untersuchungen in nahezu allen Geisteswissenschaften wurden durch sie angeregt, wobei das Anliegen dieses Ansatzes, die Überbrückung der Kluft zwischen den »beiden (Denk-)Kulturen«, den Geistes- und den Naturwissenschaften, bis heute noch nicht eingelöst ist. Eine an der Hermeneutik orientierte Kritik der analytischen Philosophie hat R. Rorty mit seinem Buch »Der Spiegel der Natur« (1980) vorgelegt.
Beispiele musikalischer Hermeneutik bieten v. a. H. Kretzschmars Versuch einer Wiederbelebung der Affektenlehre sowie A. Scherings Deutung der Musik Beethovens. In jüngster Zeit gewann die musikalische Hermeneutik im Rahmen des inhaltlichen Verstehens von Musik erneut an Interesse, wobei sich das analytische Verstehensinstrumentarium verfeinerte und sich die methodologische Problematik der Subjekt-Objekt-Beziehung nicht mehr unter dem Namen Hermeneutik begreift.
C. Wolff: Philosophia rationalis sive logica (1728);
P. Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud (a. d. Frz., Neuausg. 1974);
H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosoph. H. (41975);
M. Heidegger: Sein und Zeit (151979);
W. Dilthey: Die Entstehung der H., in: W. Dilthey: Ges. Schr., Bd. 5 (71982);
W. Dilthey: Entwürfe zur Kritik der histor. Vernunft, in: W. Dilthey: Ges. Schr., Bd. 7 (71979);
Seminar: Die H. u. die Wiss., hg. v. H.-G. Gadamer: u. a. (21985);
F. Beinroth: Musikästhetik von der Sphärenharmonie bis zur musikal. H. Ausgewählte tradierte Musikauffassungen (1995);
H. in der Kontroverse. Beitrr. v. F. J. Wetz u. a. (1996).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Wissenschaftstheorie und Hermeneutik: Erklären und Verstehen
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Her|me|neu|tik, die; - [griech. hermēneutike̅́ (téchnē), zu: hermēneutikós = auf die Erklärung, Interpretation bezüglich, zu: hermēneúein = deuten, auslegen]: 1. wissenschaftliches Verfahren der Auslegung u. Erklärung eines Textes (bes. der Bibel) od. eines Kunst- od. Musikwerks: die Methode, aus den verschiedensten Merkmalen Echtheit, Art und Geschichte eines Werkes abzulesen, das Werk also zu deuten, heißt H. (Ceram, Götter 38). 2. das Verstehen von Sinnzusammenhängen in Lebensäußerungen aller Art aus sich selbst heraus (z. B. in Kunstwerken, Handlungen, geschichtlichen Ereignissen).
Universal-Lexikon. 2012.