Li|te|ra|tur|wis|sen|schaft 〈f. 20; unz.〉 Erforschung der schöngeistigen u. der unterhaltenden Literatur, ihrer Entstehung u. Entwicklung, ihrer Formen, ihres Gehaltes u. ihrer Bedeutung im Einzelfall
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Li|te|ra|tur|wis|sen|schaft, die <Pl. selten>:
Wissenschaft, die sich mit der Literatur im Hinblick auf Geschichte, Formen, Stilistik u. a. befasst.
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Literaturwissenschaft,
1) umfassende Bezeichnung für jede Art von wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit Literatur, oft nur als nicht näher bestimmtes Synonym für ein Fach in den nach Nationalsprachen gegliederten Philologien (z. B. Germanistik, Anglistik, Romanistik usw.) oder als deren Oberbegriff gebraucht; 2) allgemeiner programmatischer Begriff einer Wissenschaftsdisziplin, deren Gegenstand der gesamte Prozess der Texterstellung, textlichen Ausformung, Verbreitung, Rezeption, Wirkung und Bewertung von Literatur ist, v. a. auch in ihrem Bezug zu Wirklichkeit und Gesellschaft sowie zu deren Wert-, Normierungs- und Tradierungssystemen (Geschichte, Religion, Philosophie usw.).
Gegenstand der Literaturwissenschaft ist die sprach - und kulturübergreifende, systematisierende Betrachtungsweise, im Gegensatz zur Literaturkritik (dieser Unterschied besteht nur im deutschen Sprachraum; englisch Literary Criticism beziehungsweise französisch Critique Littéraire schließt das Bedeutungsfeld Literaturwissenschaft ein), die die zeitgenössischen Tendenzen literarischer Entwicklung beobachtet. Die Darstellung, Analyse und Einordnung der Literatur im historischen Kontext ist Aufgabe der Literaturgeschichte. Literaturwissenschaft hat sich - im Zuge einer Binnendifferenzierung in den Nationalphilologien - seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts als eigene wissenschaftliche (Teil-)Disziplin akademisch institutionalisiert.
Die Literaturwissenschaft griff dabei traditionell v. a. der Ästhetik zugeordnete Elemente (z. B. allgemeine Prinzipien des Sprachschaffens, innere Formgesetze, Typologisches, Theorien der Interpretation) auf, sie suchte aber auch zum Teil die überkommene, bis in die Antike zurückreichende Poetik auszuweiten oder zu ersetzen. Aufgabe der allgemeinen Literaturwissenschaft ist es ferner, Strukturen, formale, motivliche oder thematische Kategorien aller Literaturen zu erfassen sowie Methoden und Ergebnisse der Poetik, Stilistik, Literaturtypologie, Literatursoziologie, Literaturpsychologie und Literaturphilosophie zu verbinden. Dabei gilt das Interesse der Literaturwissenschaft nicht nur der Literatur im engeren Sinn, sondern allen Textsorten.
Nach vereinzelten Belegen im 18. und frühen 19. Jahrhundert häuft sich der Gebrauch des Wortes Literaturwissenschaft seit etwa 1880. Dieser begriffsgeschichtliche Befund reagiert zum einen auf einen Differenzierungsprozess in den Nationalphilologien, der zur Verselbstständigung von Linguistik und Literaturwissenschaft führte. Zum anderen verweist die neue Bezeichnung auf eine Theoretisierung der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Literatur. Geprägt von den Methoden einer szientistischen Philologie wirkten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Deutschland die Arbeiten von W. Scherer, M. Bernays, E. Schmidt, F. Muncker und J. Minor schulebildend. Im Mittelpunkt des Bemühens stand der Versuch, sprachliche und literarische Erscheinungen als Glieder einer lückenlosen Kette von Ursache und Wirkung zu erkennen und Dichtung von den Komponenten des Erlebten, Erlernten und Ererbten her zu verstehen. Neben umfassenden Überblicksdarstellungen und biographischen Arbeiten liegt das Hauptverdienst des besonders in den skandinavischen Ländern wirksam gewordenen Positivismus in der Literaturwissenschaft v. a. in der Erarbeitung kritischer Editionen und Werkausgaben.
Als Reaktion auf den philologischen Betrieb entwickelten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ansätze zu einer Vergleichenden oder Allgemeinen Literaturwissenschaft, v. a. aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Methodenpluralismus unter geistesgeschichtlicher Dominanz. Die Essay-Sammlung »Das Erlebnis und die Dichtung« (1906) löste eine breite Rezeption der Arbeiten W. Diltheys aus. Indem Dilthey philosophische, psychologische, historische und theologische Fragestellungen vereinigte und dabei die Hermeneutik F. D. E. Schleiermachers als eine Kunstlehre des Verstehens schriftlich fixierter Lebensäußerungen auf Epochen und Literaturen anwendete, entwickelte er die Denk- und Verfahrensweisen einer eigenständigen Geisteswissenschaft, die am Ideal der exakten Naturwissenschaften nicht gemessen sein will. Seine Erlebnistheorie erlangte normative Geltung. Die Leistungen dieser geistesgeschichtlichen Schule (R. Unger, H. A. Korff, P. Kluckhohn, F. Gundolf, O. Walzel) liegen v. a. im Bereich der Forschungen zur Romantik, zum Barock und zur Goethezeit. In den geistesgeschichtlichen Darstellungen erhielten größere geistige Zusammenhänge und Strömungen den Vorrang vor dem Einzelwerk und einer positivistischen Faktizität. Dies zeigt sich auch in ideen-, problem-, stil- und stammesgeschichtlich orientierten Arbeiten (Unger, Kluckhohn, W. Rehm, F. Strich, J. Nadler).
Als Bewegung gegen eine spekulative Geisteswissenschaft und die Unterordnung der Literatur unter außerliterarische Aspekte entstanden formalästhetische Untersuchungen des literarischen Werkes, so die in der Romanistik entwickelte Stilanalyse (K. Vossler, L. Spitzer, H. Hatzfeld) und die Formanalyse (Morphologie), so bei M. Kommerell, K. May, Günther Müller. Die Konzentration auf das literarische Werk gipfelte in den Bestrebungen der »werkimmanenten Interpretation«, die v. a. auf den nach 1945 (auch als Reaktion auf die ideologische Ausrichtung der deutschen Literaturwissenschaft im Nationalsozialismus) in der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffenen Ansätzen E. Staigers (»Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters«, 1939; »Die Kunst der Interpretation«, 1951) und W. Kaysers (»Das sprachliche Kunstwerk«, 1948) beruht.
Der von der Sowjetunion ausgehende Formalismus wandte sich, linguistische Methoden einbeziehend, literarischen Texten zu. Der amerikanische New Criticism untersuchte v. a. die poetische Sprache (T. S. Eliot, W. Empson, J. C. Ransom) unter Berücksichtigung der Ergebnisse der modernen Anthropologie, Psychologie und Soziologie (K. Burke, E. Wilson, R. Wellek, A. Warren). Eine weitere, auf das literarische Werk zentrierte Richtung nahm v. a. in der französischen Literatur ihren Ausgang vom anthropologischen Strukturalismus (C. Lévi-Strauss) unter Einbeziehung gesellschaftlicher Strukturen (L. Goldmann) oder der strukturalistischen Linguistik (A. N. Chomsky). In Anlehnung an die neuere Linguistik, aber auch in Aufnahme kybernetischer Modelle entstanden seit den 1950er-Jahren Versuche, nach dem Vorbild mathematisch-naturwissenschaftlichen Arbeitens mithilfe von Informatik und Statistik für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur stärkere Exaktheit und Überprüfbarkeit der Methoden zu erzielen (M. Bense, W. L. Fischer, W. Fucks, K. Baumgärtner).
Neben einer strukturalistischen Betrachtung der Literatur, die sich um Sprach- und Literaturanalyse zugleich bemüht (J. Mukařovský, R. Jakobson) hat es v. a. seit den 1960er-Jahren im Bereich der Semiotik Bestrebungen gegeben, die verschiedenen literaturwissenschaftlichen Methoden und Zugänge zu integrieren; auch die Rezeptionsästhetik zählt zu diesen Versuchen, indem sie neben der Analyse unterschiedlicher Schichten im Werk (R. Ingarden) wie Sprache, Motive, Handlungen auch die verschiedenen z. B. sozialen, historischen und ästhetischen Bedingungen von Rezeption und Produktion berücksichtigt (H. R. Jauss, W. Iser, R. Warning).
Als Gegenspieler, Streitobjekt, aber auch als Anregung hat seit dem 19. Jahrhundert die in der Abgrenzung zu einer »bürgerlich«-idealistischen Literatur entwickelte materialistische Literaturwissenschaft eine Rolle gespielt. Besonders in den sozialistisch orientierten Ländern haben die von G. Lukács ausformulierte »Widerspiegelungstheorie«, wonach Literatur die jeweiligen Klassenkonflikte und die Herankunft des revolutionär Neuen einem Spiegel gleich abzubilden habe, und die Verpflichtung der Literatur auf einen »sozialistischen Realismus« die Funktion einer Leitvorstellung ausgeübt. Hiergegen haben sich bereits früh (Expressionismusdebatte) unorthodoxe, später neomarxistische ästhetische Theorien entwickelt (S. Tretjakow, B. Brecht, E. Bloch, R. Garaudy), innerhalb derer die »kritische Theorie« (T. W. Adorno, W. Benjamin) einen wichtigen Einfluss ausgeübt hat. Eine weitere Richtung der Literaturwissenschaft ist gekennzeichnet durch die Fortschreibung des auf S. Freuds Werk gegründeten Literaturverständnisses, zum Teil in Verbindung mit marxistischen Positionen (H. Marcuse) oder mit linguistisch-strukturalistischen Ansätzen (J. Lacan). Hier schließen Fragestellungen der Feministischen Literaturwissenschaft und der Gender Studies nach der Bedeutung kulturell erzeugter Geschlechteridentitäten an (S. Bovenschen, J. Butler). In der gegenwärtigen, durch Internationalisierung und (Post-) Poststrukturalismus geprägten Literaturwissenschaft konkurrieren eher immanente Lektüreweisen wie die Dekonstruktion, die gegen eine hermeneutische, auf Sinn fixierte Interpretation die letztlich nicht beherrschbare »Rhetorizität« der Texte betont (J. Derrida, P. De Man), mit kontextualisierenden Konzepten wie dem New Historicism, der sich für die Historizität der Texte und die Textualität der Geschichte interessiert (S. Greenblatt, L. A. Montrose). Zugleich wird diskutiert, die Literaturwissenschaft in eine Medienwissenschaft, die den Bedingungen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Buchdruck, Text-Bild-Beziehungen, von Film, Fernsehen und neuen Medien Rechnung trägt, oder in eine Kulturwissenschaft (beziehungsweise Cultural Studies) zu überführen, die sich Themen wie dem kulturellen Gedächtnis, der Geschichte des Körpers und der Sinne zuwendet. Mit diesen theoretischen Angeboten reagiert die Literaturwissenschaft auch auf eine kulturelle Umbruchsituation, in der Schrift und Literatur ihre privilegierte Position als unangefochtene Leitmedien sozialer Kommunikation verloren haben.
M. Wehrli: Allg. L. (Bern 21969);
Strukturalismus in der L., hg. v. W. Blumensath (1972);
W. Girnus u. a.: Von der krit. zur historisch-materialist. L. (21972);
Rezeptionsästhetik, hg. v. R. Warning (1976);
Gesellschaft, Lit., Lesen. Lit.-Rezeption in theoret. Sicht, hg. v. M. Naumann u. a. (Berlin-Ost 31976);
J. Strelka: Methodologie der L. (1978);
R. Rosenberg: Zehn Kapitel zur Geschichte der Germanistik - Lit.-geschichtsschreibung (Berlin-Ost 1981);
W. Nöth: Hb. der Semiotik (1985);
J. Culler: Dekonstruktion (1988);
K. Weimar: Gesch. der dt. L. bis zum Ende des 19. Jh. (1989);
R. Rosenberg: L. Germanistik (Berlin-Ost 1989);
Neue Lit.-Theorien, hg. v. K.-M. Bogdal (1990);
S. J. Schmidt: Grundriß der empir. L. (Neuausg. 1991);
J. Link: Literaturwiss. Grundbegriffe. Eine programmierte Einf. auf strukturalist. Basis (51993);
Einf. in die L., hg. v. M. Pechlivanos u. a. (1995);
Literaturwiss. Theorien, Modelle u. Methoden. Eine Einf., hg. v. A. Nünning u. a. (1995);
Wie internat. ist die L.? Methoden u. Theoriediskussion in der L., hg. v. L. Danneberg u. F. Vollhardt (1995);
Das Fischer-Lexikon Lit., hg. v. U. Ricklefs (1996);
Dt. L. 1945-1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, hg. v. P. Boden u. R. Rosenberg (1997);
Atta Troll tanzt noch. Selbstbesichtigungen der literaturwiss. Germanistik im 20. Jh., hg. v. P. Boden u. H. Dainat (1997);
Reallexikon der dt. L., hg. v. K. Weimar u. a. (Neubearb. 1997 ff.);
L. u. Wissenschaftsforschung, hg. v. J. Schönert (2000);
Nach der Sozialgesch. Konzepte für eine L. zwischen histor. Anthropologie, Kulturgeschichte u. Medientheorie, hg. v. M. Huber u. a. (2000).
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Li|te|ra|tur|wis|sen|schaft, die <Pl. selten>: Wissenschaft, die sich mit der Literatur im Hinblick auf Geschichte, Formen, Stilistik u. a. befasst.
Universal-Lexikon. 2012.