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Strukturalismus
Struk|tu|ra|lịs|mus 〈m.; -; unz.〉
1. 〈Wissth.〉 mehreren Humanwissenschaften gemeinsame Richtung, die eine die Menschen betreffende Tatsache in Abhängigkeit von einem organischen Ganzen zu bestimmen u. diese Beziehung durch math. Modelle darzustellen sucht
2. 〈Sprachw.〉 synchronische Betrachtung von Sprachen unter dem Gesichtspunkt, dass sie Systeme sind, bei denen alle Einheiten u. Regeln als Ganzes voneinander abhängen

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Struk|tu|ra|lịs|mus, der; - [frz. structuralisme]:
1. (Sprachwiss.) wissenschaftliche Richtung, die Sprache als ein geschlossenes Zeichensystem versteht u. die Struktur dieses Systems erfassen will.
2. Forschungsmethode in der Völkerkunde, die eine Beziehung zwischen der Struktur der Sprache u. der Kultur einer Gesellschaft herstellt u. die alle jetzt sichtbaren Strukturen auf geschichtslose Grundstrukturen zurückführt.
3. Wissenschaftstheorie, die von einer synchronen Betrachtungsweise ausgeht u. die allem zugrunde liegende, unwandelbare Grundstrukturen erforschen will.

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I
Strukturalịsmus
 
der, -, eine in den 1960er-Jahren dominante Theorie mit dem Ziel, eine den exakten Untersuchungs- und Beschreibungsmethoden der Naturwissenschaften ebenbürtige, auf intersubjektiv überprüfbaren Verfahren beruhende Form der Analyse für die Geistes- und Sozialwissenschaften zu finden. Anthropologen (C. Lévi-Strauss), Soziologen (L. Goldmann, L. Althusser), Psychologen (J. Piaget), Psychoanalytiker (J. Lacan), Kulturwissenschaftler und Philosophen (M. Foucault, J. Derrida), Linguisten (Algirdas Julien Greimas, * 1917, ✝ 1992; A. N. Chomsky) und Literaturwissenschaftler (R. Barthes, Tzvetan Todorov, * 1939) beriefen sich dabei auf F. de Saussures linguistischen Strukturalismus.
 
Ausgangspunkt für den linguistischen Strukturalismus war die historisch ausgerichtete Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts, insbesondere die seit den 70er-Jahren dominierende junggrammatische Richtung, die nicht das Sprachsystem, sondern - unter positivistischem Einfluss - die einzelnen beobachtbaren sprachlichen Äußerungen in ihrer spezifischen Ausprägung betrachtete und deren Ziel (möglichst in Form von Gesetzen) die Erfassung der historischen Entwicklung einzelner sprachlicher Phänomene war. Diesem historisch orientierten positivistischen Atomismus setzte Saussure seine strukturalistische Konzeption entgegen. Nach dieser Auffassung sind nicht die einzelnen sprachlichen Äußerungen (als Parole bezeichnet) Gegenstand der Sprachwissenschaft, sondern das zugrunde liegende System (Langue), innerhalb dessen jedes einzelne Element seinen Wert (Valeur) und seine Funktion allein durch seine Beziehungen zu allen anderen Elementen erhält. So erhält ein Wort wie z. B. »groß« seine Bedeutung, seinen spezifischen Wert nur durch seine unterschiedlichen Beziehungen zu Wörtern wie »klein«, »riesig«, »hoch« usw. (seine paradigmatischen Beziehungen) beziehungsweise dadurch, dass es nur mit bestimmten Wörtern zusammen vorkommen kann, z. B. »Haus«, »Gewinn«, mit anderen wie »heute« oder »aber« u. Ä. dagegen nicht (seine syntagmatischen Beziehungen). Sprachliche Einheiten werden demnach nicht durch ihre materielle Substanz, sondern durch ihre Form, ihren Wert konstituiert, sind also abstrakte Einheiten. Von entscheidender Bedeutung für die weitere Entwicklung der Sprachwissenschaft war aber auch Saussures Unterscheidung zwischen synchronischer, auf einen Sprachzustand bezogener Analyse, und diachronischer, die Sprachentwicklung berücksichtigender Analyse, wobei Saussure auch hier eine Gegenposition zu den Junggrammatikern bezog, indem er die Synchronie in den Vordergrund stellte. Dennoch gibt es wichtige strukturalistische Arbeiten zur Diachronie, in denen die Entwicklung einzelner Phänomene jeweils im Gesamtzusammenhang eines Systems beziehungsweise dessen Entwicklung gesehen wird.
 
Aufgegriffen wurden die Gedanken Saussures v. a. in der Genfer Schule, die sich v. a. der Rezeption und Interpretation seiner Werke widmete, sowie in den 30er-Jahren in der Prager Schule, die insbesondere im Bereich der Phonologie seine Konzeption bahnbrechend umsetzte, und in der Kopenhagener Schule (Glossematik), die sowohl wesentliche Beiträge zu einer präzise ausgearbeiteten Sprachtheorie leistete als auch strukturalistische Verfahren auf die Semantik übertrug. Gleichfalls dem linguistischen Strukturalismus zugerechnet wird der oft als Distributionalismus bezeichnete amerikanische Strukturalismus (u. a. L. Bloomfield, Z. S. Harris), der allerdings mehr vom psychologischen Behaviorismus und der spezifisch amerikanischen Tradition der Erforschung der Indianersprachen beeinflusst ist. Bei allen Unterschieden im Einzelnen stimmen die verschiedenen Schulen des linguistischen Strukturalismus darin überein, dass sie das System einer Sprache über die Beschreibung der paradigmatischen und syntagmatischen Beziehungen der einzelnen sprachlichen Einheiten zueinander erfassen wollen, wobei sie sich zur Ermittlung dieser Beziehungen der Segmentierung und Klassifikation bedienen. Der linguistische Strukturalismus wirkt auch in der gegenwärtigen Sprachwissenschaft noch stark nach, nicht zuletzt in der generativen Grammatik.
 
Die strukturalistischen Verfahren gingen in die allgemeine Zeichentheorie der Semiotik (u. a. U. Eco) ein und wurden von vielen Einzelwissenschaften übernommen. Besonders einflussreich war ihre Anwendung in der Psychoanalyse durch J. Lacan, der annahm, dass das Unbewusste wie eine Sprache (symbolisch) strukturiert ist, und in der Ethnologie u. a. durch Lévi-Strauss, der versuchte, die Form kultureller Bausteine (Sozialsysteme, Mythen u. a.) zu abstrahieren, um sie untereinander vergleichbar zu machen. Dies zielt letztlich auf den Nachweis einer Fundamentalstruktur, die zu allen Zeiten und bei allen Völkern gleich ist. Der ethnologische Strukturbegriff meint daher nicht nur die analytisch gewonnenen Ordnungsmuster, sondern ebenso die ordnungsstiftende Funktion selbst, die allen menschlichen Geistesäußerungen gemein sei.
 
In der Baukunst und der Architekturtheorie sind niederländische Architekten (Frank van Klingeren, * 1919; A. E. van Eyck; H. Hertzberger; Piet Blom, * 1934) seit etwa 1958 bestrebt, die wissenschaftliche Denkmethode des Strukturalismus in ein bauliches Konzept zu fassen. Gestützt auf die Theorien von Lévi-Strauss und auf die Kenntnis früher Kulturen, in der Formensprache beeinflusst durch den Brutalismus, erklären die Vertreter des Strukturalismus den Raster im konstruktiv-kleinteiligen wie im städtebaulichen Maßstab zum Grundmuster (»Archeform«) aller Bautätigkeit. Die vertikale und horizontale Addition gleicher Einzelelemente zur geplanten baulichen Struktur wird so zum Planungsprinzip. Multifunktionalität der Einzelräume und rohbauartige Ausführung der Entwürfe sollen die Möglichkeit einer späteren Gebäudeerweiterung offen halten und dem Gebäudenutzer individuelle Freiheit in der Ausgestaltung geben. Die zunächst neutrale bauliche Hülle dient also nicht der Selbstdarstellung des Architekten, sondern als Basis kontinuierlicher Gestaltung. Beispiele sind das Waisenhaus in Amsterdam von van Eyck (1955-61), das Gemeinschaftszentrum »De Meerpaal« in Dronten von van Klingeren (1967), das Verwaltungsgebäude der Centraal Beheer in Apeldoorn von Hertzberger (1968-72) und die Wohnbebauung »Kasbah« in Hengelo von Blom (1969-73).
 
In der Literaturwissenschaft wurden, ausgehend von den textinterne poetische Strukturen analysierenden Arbeiten der russischen Formalisten (W. B. Schklowskij, J. N. Tynjanow, Jakobson) und der u. a. auch gesellschaftliche Faktoren und diachrone Aspekte mit berücksichtigenden Prager Schule (Jakobson, J. Mukařovský), zunächst literarische Kleinformen wie Gedichte untersucht, dann wurde im Anschluss an die auf die Morphologie des Märchens bezogenen Studien W. J. Propps ein funktionales Regelsystem für die Erzählforschung beziehungsweise Narrativik fruchtbar gemacht. Solche Versuche, durch Strukturbezüge auf syntagmatischer und/oder paradigmatischer Ebene neue Beschreibungsmöglichkeiten für die strukturale Erzählanalyse zu entdecken, wurden v. a. von den französischen Literaturwissenschaftlern und -kritikern wie Barthes, Greimas, Todorov und Gérard Genette (* 1930) vorgenommen. Gesellschaftliche Faktoren, die auf die Entstehung des Kunstwerks einwirken, werden stärker berücksichtigt in L. Goldmanns genetischem, in Julia Kristevas generativ-transformationellem Strukturalismus und im sowjetischen Strukturalismus von Boris Andrejewitsch Uspenskij (* 1937) und J. M. Lotman.
 
Durch die Ausweitung des Analysegegenstandes und eine radikale Kritik der eigenen Methode, v. a. auch unter dem Eindruck eines u. a. durch die Studentenrevolten 1968 in Paris ausgelösten geistigen Umbruchs, wurde der bislang weitgehend als statisch und ahistorisch begriffene Strukturalismus zu einem dynamischen Poststrukturalismus, der auch zur Analyse politischer Machtverhältnisse geeignet sein sollte. Literatur und Literaturkritik werden als Medien eines subversiven Diskurses verstanden, der auf die strukturalistische Dekonstruktion von Autorität und Macht in den verschiedenen Sprachsystemen gesellschaftliche Praxis zielt. F. Nietzsche und S. Freud gelten als Vorläufer der Kritik an Vorstellungen wie der Einheit des Subjekts, geschichtlicher Kontinuität oder auch der Einheit der Vernunft. Dieser v. a. von Barthes, Lacan, Foucault und Derrida vollzogene Wandel von der Beschreibung feststehender Strukturen zur Erfassung von schöpferischen, den Menschen befreienden Produktions- und Strukturierungsprozessen (z. B. Analyse von »Spiel«, »Lust«, »Begehren«, »Sexualität«) war geleitet von der Auffassung, dass scheinbar elementare Strukturen, die eindeutig zwischen gut und böse, normal und pathologisch, rational und irrational unterscheiden lassen, in ihrer Unausweichlichkeit die Möglichkeit eines kritischen Diskurses unterlaufen und damit eine Machtstrukturen aufbrechende kulturelle Revolution verhindern. Nach dem Programm des sich häufig auf die künstlerische Richtung des Postmodernismus beziehenden Poststrukturalismus (Dekonstruktivismus) sollen Strukturen als grundsätzlich für Veränderungen offen begriffen und ihre mögliche Festschreibung der Kritik unterworfen werden.
 
Literatur:
 
L. Bloomfield: Language (New York 1933, Nachdr. Chicago 1991);
 F. de Saussure: Grundfragen der allg. Sprachwiss. (a. d. Frz., 21967, Nachdr. 1986);
 
Literaturwiss. u. Linguistik, hg. v. J. Ihwe, 4 Tle. (1971-72);
 
S. in der Literaturwiss., hg. v. H. Blumensath (1972);
 L. Hjelmslev: Prolegomena zu einer Sprachtheorie (a. d. Dän., 1974);
 
Austreibung des Geistes aus den Geisteswiss.en. Programme des Post-S., hg. v. F. A. Kittler (1980);
 J. Piaget: Der S. (a. d. Frz., Neuausg. 1980);
 
S. in Architektur u. Städtebau, bearb. v. A. Lüchinger (1981);
 G. Schiwy: Der frz. S. Mode - Methode - Ideologie (47.-49. Tsd. 1985);
 G. Schiwy: Post-S. u. »Neue Philosophen« (Neuausg. 5.-7. Tsd. 1986);
 Z. S. Harris: Structural linguistics (Neuausg. Chicago, Ill., 1986);
 
Einf. in den S., hg. v. F. Wahl (a. d. Frz., 31987);
 J. Albrecht: Europ. S. (1988);
 M. Frank: Was ist Neo-S.? (Neuausg. 1991);
 F. Dosse: Gesch. des S., 2 Bde. (a. d. Frz., 1996-97);
 A. T. Paul: FremdWorte. Etappen der strukturalen Anthropologie (1996);
 
Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwiss., hg. v. G. Neumann (1997).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Syntax: Gliederung von Sätzen
 
II
Strukturalismus,
 
Bezeichnung für eine nach W. James vor allem in den USA herrschende, an der Introspektion orientierte psychologische Strömung, im Unterschied zur gleichzeitig vertretenen Richtung des Funktionalismus.

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Struk|tu|ra|lịs|mus, der; - [frz. structuralisme]: 1. (Sprachw.) wissenschaftliche Richtung, die Sprache als ein geschlossenes Zeichensystem versteht u. die Struktur dieses Systems erfassen will. 2. Forschungsmethode in der Völkerkunde, die eine Beziehung zwischen der Struktur der Sprache u. der Kultur einer Gesellschaft herstellt u. die alle jetzt sichtbaren Strukturen auf geschichtslose Grundstrukturen zurückführt. 3. Wissenschaftstheorie, die von einer synchronen Betrachtungsweise ausgeht u. die allem zugrunde liegenden, unwandelbaren Grundstrukturen erforschen will.

Universal-Lexikon. 2012.