Boileau-Despréaux
[bwalodepre'o], Nicolas, französischer Schriftsteller und Kritiker, * Paris 1. 11. 1636, ✝ ebenda 13. 3. 1711; bürgerlicher Herkunft, später geadelt; studierte Theologie und Rechtswissenschaft und wirkte als Advokat, wurde 1677 mit J. Racine zum königlichen Historiographen ernannt und 1684 Mitglied der Académie française. Er war mit Racine, Molière und La Fontaine befreundet.
In seinem frühesten Werk, den »Satires« (12 Bände, 1665-1711; deutsch »Satiren«), die sich an Horaz, Juvenal und H. de Régnier anlehnen, schilderte er in moralisierender Absicht mit Schärfe und Esprit allgemeine Zeiterscheinungen und menschliche Schwächen und griff in der Form literarischer Kritik auch zeitgenössische Schriftsteller an (u. a. P. Quinault und Madeleine de Scudéry). Die den Satiren nahe stehenden »Épîtres« (12 Bände, 1674-98) knüpfen an Horaz an. Sein heroisch-komisches Epos »Le lutrin« (1674-83; deutsch »Das Chorpult«), in der Nachfolge A. Tassonis entstanden, ist eine Satire auf Advokaten und Kleriker. Mit den »Réflexions sur Longin« (1693) nahm er in der Querelle des anciens et des modernes gegen die modernen Dichter Stellung. Am nachhaltigsten wirkte er mit seinem Werk »L'art poétique« (1674; deutsch »Die Dichtkunst«), das Einflüsse u. a. von Horaz (»Ars poetica«) und Quintilian (»Institutio oratoria«) erkennen lässt. In Form einer Versepistel enthält es die die klassische französische Dichtung prägenden Prinzipien. Unter diesen sind besonders hervorzuheben: die »raison« (Vernunft), verstanden als menschliches Vermögen zur Wahrheitserkenntnis, das alle dem »bon sens« (dem gesunden Menschenverstand) widersprechenden Kriterien und Darstellungsformen ausschließt (z. B. alle Formen des Preziösen, Burlesken, Grotesken und Phantastischen); die Nachahmung der Natur, das heißt u. a. Stimmigkeit im Verhältnis von Vorbild und dichterischem Abbild, (psychologische) Wahrheit in der Charakterzeichnung und (historische) Wahrheit in der Beschreibung von Zeitumständen (»vraisemblance«); Klarheit und Folgerichtigkeit der inhaltlichen und formalen Gestaltung. Alle diese Aspekte sind in der Forderung nach »bienséance«, dem Außergewöhnliches in jeder Art ausgrenzenden, an den Bedürfnissen eines gebildeten Publikums und den Formen gesellschaftlicher Lebensordnung orientierten Geschmackvollen, verbunden. Im Zusammenhang mit der Naturwahrheit steht auch die Forderung nach Orientierung an der klassischen Dichtung der Antike; Natur wird als ein (bei den antiken Autoren besonders überzeugend gestaltetes) allgemein gültiges Modell verstanden, das in der Dichtung nachzuahmen sei. »L'art poétique« stellt eine abschließende Fassung späthumanistischer Ästhetik dar. In der Hierarchie der poetischen Gattungen nimmt die Tragödie bei Boileau-Despréaux den höchsten Rang ein; in ihr sah er seine ästhetischen Forderungen am reinsten verwirklicht, in den Dramen Racines vollkommen realisiert. Die in Boileau-Despréauxs theoretischem Hauptwerk niedergelegten Grundsätze blieben weit über die Epoche der Klassik hinaus wirksam.
Ausgabe: Œuvres complètes, herausgegeben von F. Escal (Neuausgabe 1979).
R. Bray: B. L'homme et l'œuvre (Paris 1942);
P. Joret: N. B.-D., révolutionnaire et conformiste (Paris 1989).
Universal-Lexikon. 2012.