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My|thos ['my:tɔs], der; -, Mythen ['my:tn̩]:1. überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung aus der Vorzeit eines Volkes:
griechische Mythen.
2. Person, Sache, Begebenheit, die legendären Charakter hat:
Gandhi war schon zu Lebzeiten ein Mythos.
Syn.: ↑ Legende.
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1. Überlieferung eines Volkes von seinen Vorstellungen über die Entstehung der Welt, seine Gottheiten, Dämonen usw.
2. Sage von Göttern, Helden, Dämonen
3. zur Legende gewordene Begebenheit od. Person von weltgeschichtlicher Bedeutung
● seine Rede vor der Berliner Mauer ist bereits \Mythos geworden [<grch. mythos „Wort, Rede, Erzählung“; gelegentl. mit latinisierter Endung -us]
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My|thos , (seltener:) My|thus, der; -, …then [spätlat. mythos < griech. mýthos = Fabel, Sage, Rede, Erzählung, zu: mytheĩsthai = reden, sagen, erzählen, urspr. wohl lautm.] (bildungsspr.):
1. Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung o. Ä. aus der Vorzeit eines Volkes (die sich bes. mit Göttern, Dämonen, Entstehung der Welt, Erschaffung der Menschen befasst):
ein alter heidnischer M.
2. Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat:
Gandhi ist schon zu Lebzeiten zum M. geworden.
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Mythos
[griechisch »Wort«, »Rede«, »Erzählung«, »Fabel«] der, -/...then, Bezeichnung für 1) die Erzählung von Göttern, Heroen u. a. Gestalten und Geschehnissen aus vorgeschichtlicher Zeit; 2) die sich darin aussprechende Weltdeutung eines frühen (mythischen) Bewusstseins; 3) das Resultat einer sich zu allen Zeiten, auch in der Moderne (»neue Mythen«), vollziehenden Mythisierung im Sinne einer Verklärung von Personen, Sachen, Ereignissen oder Ideen zu einem Faszinosum von bildhaftem Symbolcharakter.
Erscheinungsformen und Funktionen des Mythos
Eine differenzierte Bestimmung von Mythos kann angesichts der Unterschiedlichkeit der Deutungszusammenhänge und ihres geschichtlichen Wandels nur Merkmale angeben, die in den gängigen Definitionsversuchen unterschiedlich akzentuiert werden. Danach sind Mythen meist Erzählungen, die »letzte Fragen« des Menschen nach sich und seiner als übermächtig, geheimnisvoll und von göttlichem Wirken bestimmt empfundenen Welt artikulieren und dieses Ganze von seinen Ursprüngen her verständlich zu machen suchen (ganzheitliches Weltverständnis). So handeln sie vom Anfang der Welt (kosmogonische Mythen, Schöpfungsmythen) und von ihrem Ende (eschatologische Mythen), vom Entstehen der Götter (theogonische Mythen) und ihren Taten, vom Werden und Vergehen der Natur im Wechsel der Jahreszeiten, von Tag und Nacht (kosmologische Mythen), kreisen um zentrale Ereignisse und Situationen des menschlichen Lebens wie Geburt, Pubertät, Ehe, Familie, Liebe und Hass, Treue und Verrat, Strafe und Vergeltung, Krieg und Frieden, Krankheit und Tod, erklären die Herkunft der Übel, künden von Paradies und Sündenfall (anthropologische Mythen), von der Sintflut oder vom kommenden Heilsbringer (soteriologische Mythen), berichten von den Ursprüngen der Stämme und Völker (Stammesmythen), den Taten ihrer Heroen, den Anfängen der Kultur, von der Stiftung religiöser Kulte und Riten, von der Begründung des Rechts sowie staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung (aitiologische Mythen). Die Wissenschaft verweist dabei auf den anschaulich-bildhaften, anthropomorph-personifizierenden, die Welt als belebt erfahrenden Charakter des Mythos, auf seine Nähe zu kindlichem Denken und Vorstellen wie auch zur dichterischer Sprache und Fantasie, auf seinen spezifischen Zeitbezug (zyklische Wiederholungsstruktur im Gegensatz zu einem als linear verstandenen Geschichtsverlauf; ritueller Nachvollzug im Kult); verwiesen wird auch auf sein eigentümliches Wirklichkeitsverständnis, in dem sich »Wort« und »Sache« noch nicht klar trennen lassen, auf die besondere »Umwegigkeit« und Umständlichkeit seiner Geschichten wie auch auf ihre exemplarisch verdichtende Prägnanz. Entstehungsgeschichtlich werden Mythen v. a. der Frühzeit oder einer »kindlich-primitiven« Entwicklungsstufe der Menschheit zugeordnet, doch erweisen sie sich mit den in der Gegenwart laufend entstehenden »neuen Mythen« als universales Kulturphänomen.
Das Spektrum der vermuteten Funktionen des Mythos reicht vom Erklären und Begründen über Beglaubigen (etwa von Kulten und Riten) und (im Handeln) Orientieren bis hin zum bloßen Unterhalten. Dementsprechend differieren die Vorstellungen von seinem Geltungscharakter; man versteht ihn als autoritatives, normativ bedeutsames, das heißt Glauben und Gehorsam forderndes, »wahres« Überlieferungswort, das von dem bannend-bedrohlichen Hintergrund des »Heiligen« und »Numinosen« zeugt und innerhalb eines (religiösen) Traditionskontinuums steht; ebenso wird der Mythos als (dichterisch gestaltete) fantastische Erzählung ohne rationale Basis gesehen - im Sinne absichtlicher Täuschung wie auch als bloßes Spiel mit alten Motiven, das damit selbst zur Kritik am Überkommenen wird. Diese Komplexität und Widersprüchlichkeit lässt sich am Begriffsgebrauch ablesen: Während man mit dem Singular »Mythos« besonders die Einheitlichkeit des Phänomens und sein Wirkungs- und Provokationspotenzial anzusprechen pflegt, verbindet sich mit dem Plural eher das Bild bunter Vielfalt und größerer Spielräume der Gestaltung; Mythologie vereinigt dann die Verschiedenheit der Perspektiven im Begriff selbst.
Deutungsaspekte und Überlieferungsformen
Seit über Mythos nachgedacht wird, sind Sache und Begriff umstritten. Bestimmungs- und Interpretationsversuche hängen dabei wesentlich von den Affinitäts-, Oppositions- oder Komplementaritätsbeziehungen ab, in denen er erscheint. Indem schon die griechische Antike Mythos dem Logos entgegensetzte und ihm die Bedeutung der »unwahren Erzählung« zuwies, eröffnete sie das bis heute zentrale Bezugsfeld von Mythos und Vernunft. Seither gehört die Frage nach der »Wahrheit« des Mythos und seinem Verhältnis zu Philosophie und Wissenschaft zu den Grundmotiven dieser Diskussion. So scheint nach wie vor offen, ob Mythos bewusste Fiktion oder Ausdruck kindlich-primitiven Denkens ist, das vom aufgeklärten Bewusstsein schließlich überwunden wird, oder ob er etwa eine der modernen wissenschaftlichen Vernunft unerreichbare, tiefere Weisheit in sich birgt; ob er als »das stets mögliche Andere des Logos« dessen mühsam errungene Herrschaft mit subversiver Kraft zu untergraben droht oder das in einer »entzauberten« Welt lebensnotwendige Korrektiv (zweck-)rationalen Denkens, vielleicht sogar dessen Alternative darstellt. Dem offenkundig ungebrochenen Wirkungspotenzial des Mythos vermag sich auch die moderne wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm nur schwer zu entziehen. Zumal dort, wo wissenschaftliche Rationalität ihrerseits in die Kritik gerät, avanciert der Mythos vom Objekt der Analyse leicht zum Gegenspieler, dessen attraktives Sinnangebot die wissenschaftliche Vernunft zur Selbstreflexion zwingt. Der Mythosbegriff wird so auch zum Indikator des jeweiligen kultur- und geschichtsphilosophischen Selbstverständnisses.
Ähnlich spannungsreich erscheint das Verhältnis von Mythos und Religion. Hier geht es insbesondere um die (Wechsel-)Beziehungen von Mythos und religiösem Kult und Ritus, um den Zusammenhang zwischen mythisch-symbolischer Sprache und Darstellung und religiösem Gehalt und Gefühl, um das Brüchigwerden mythisch-religiöser Traditionen und den Verlust ihrer normativen Kraft (etwa in der Auseinandersetzung mit fremden Kulturen), v. a. auch um die Rolle des Mythos im Christentum und die Möglichkeiten und Grenzen einer »Entmythologisierung«, das heißt eines Verzichts auf den Mythos. - In der Beziehung zwischen Mythos und Dichtung gilt Mythos einerseits als (oft religiös bestimmtes) Urmotiv, das erst später künstlerisch geformt wird und sich vielfach auch nur aus solch nachmaligen ästhetischen Gestaltungen erschließen lässt, andererseits als selbst schon durch und durch poetisch. Die Überlieferung des Mythos in der Dichtung reicht von den Werken Homers und Hesiods (8./7. Jahrhundert v. Chr.), den ältesten europäischen Mythosdarstellungen, und dem (unmittelbar aus dem Dionysoskult erwachsenen) griechischen Drama über die erneute Rezeption antiker Mythen in der europäischen Literatur, die seit der Renaissance bis heute ungebrochen anhält. Dichter. Ausformungen mythischer Stoffe spiegeln dabei die kulturellen, politischen oder gesellschaftlichen Gegebenheiten der eigenen Zeit: so etwa Goethes »Iphigenie auf Tauris« die Humanitätsvorstellung der deutschen Klassik, J.-P. Sartres »Les mouches«, in der Gestalt des Orest, die existenzphilosophische Idee der Freiheit. Maßgeblichen Anteil an der Mythenformung und -bewahrung hat seit frühesten Zeiten die bildende Kunst, indem sie mythische Gestalten und Erzählungen unmittelbare visuelle Evidenz gibt und die Vorstellungen zum Teil bis zur völligen Identifikation von Bild und Sache prägt. Die von Stilentwicklungen wesentlich mitbeeinflusste Überlieferungsgeschichte kennt dabei neben kontinuierlichem Tradieren der Mythen und Bildformeln auch deren Unverständlich- und Brüchigwerden in Zeiten des Umbruchs, deren parodistische Interpretationen oder grundlegende Umdeutungen, wie sie sich besonders in der Kunst des 20. Jahrhunderts beobachten lassen. - Die Affinität von Mythos und Musik ist begründet durch deren Wesen als nichtbegriffliche Aussage sowie deren psychische und physische, von der Profanität des Alltags entbindende Wirkungen. Sie offenbart sich in zahllosen Mythen, die u. a. vom göttlichen Ursprung der Musik und ihrer bezwingenden und heiligenden Kraft berichten. Diese wird u. a. in der Einbeziehung von Musik in den Kult sinnfällig. In Dichtung und bildender Kunst erscheinen die Musikinstrumente als Attribute der Götter u. a. metaphysische Mächte. Seit der Antike wird die Idee tradiert, dass die Harmonie der Musik die zahlhafte Ordnung des Kosmos spiegelt, die seelische Befindlichkeit des Menschen bestimmt und das Absolute erahnen lässt. Noch die ästhetische Theorie der Gegenwart kennt die Vorstellung, dass in der Musik die Erinnerung an eine verloren gegangene Einheit von Mensch und Natur bewahrt sei.
Geschichte des Mythosbegriffs
Schon die griechische Antike entwickelte ein breites Spektrum der Mythosdeutung: Neben der seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. angewandten, später v. a. in der Stoa und von Plutarch weiterentwickelten »allegorischen« Interpretation, die das Anstößige in den Götter- und Heroengeschichten durch Hinweis auf einen (naturphilosophischen oder metaphysischen) »Hintersinn« zu entkräften suchte, erregte besonders Euhemeros Aufsehen, der die Götter der Mythen auf berühmte Menschen der Vergangenheit reduzierte. Nachdem die Mythen in der griechischen Tragödie eine künstlerische Gestaltung gefunden hatten, deren Allgemeingültigkeit sich bis in die Gegenwart erweist, lehnte Platon die traditionellen Überlieferungen als politisch-pädagogisch gefährlich ab und propagierte neue, philosophisch gereinigte Mythen. Für Aristoteles und Poseidonios bewahrten die alten Mythen hingegen als Vorstufe der Philosophie das Wissen der Vorzeit. Für den Neuplatonismus enthielt der Mythos sogar tiefste philosophische Weisheit. Das frühe Christentum sah im antiken Mythos besonders das mit der christlichen Heilsbotschaft konkurrierende System heidnisch-polytheistischer Theologie, das es mit allen Mitteln heidnischer Mythoskritik zu entlarven galt. Eine liberale Haltung gegenüber der Mythologie kennzeichnete das etablierte Christentum. So wurden Mythen im Mittelalter - maßgeblich in der Gestaltung Ovids — als Bildungsgut tradiert sowie zur Bibelexegese genutzt.
Ein neues Interesse am Mythos entstand in der Renaissance und im Humanismus. Dabei kam es zu vielfältigen Spekulationen über Zusammenhänge zwischen biblischer Tradition und dem griechischen Mythos, wobei seit dem 17. Jahrhundert im Gefolge der Entdeckungs- und Missionsreisen auch zeitgenössische Formen des Mythos in nichtchristlichen Religionen zum Vergleich herangezogen wurden. Für die Religionskritik der Aufklärung bot sich dann die »Betrugstheorie« als Interpretationshilfe an: Die abstrus erscheinenden Mythen wurden als Werk habgieriger und machthungriger Priester ausgelegt, die aus der Täuschung ihrer Mitmenschen Nutzen zu ziehen suchten. Ferner galten sie als Zeichen einer frühen Entwicklungsstufe der Menschheit. V. a. aber wurden sie als Bildungsgut handbuchartig inventarisiert. Ähnlich wie schon früher G. Vico nahm C. G. Heyne ein von mythisch-symbolischer Sprache geprägtes »mythisches Zeitalter« als geschichtlich notwendige Entwicklungsstufe der Menschheit an und legte mit dieser Theorie gegen Ende des 18. Jahrhunderts den Grund für den modernen Mythosbegriff. J. G. Herders Deutung der Mythen als religiöse, poetische und zugleich volkstümliche Schöpfungen konnte daran anschließen. Für K. P. Moritz, dessen »Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten« (1791) das Bild der griechischen Mythologie in der Goethezeit bestimmte, sind Mythen Kunstwerke, die keiner (v. a. keiner allegorischen) Deutung bedürfen. Auf dieser Grundlage wurde Mythos zu einer der - freilich umstrittenen - Leitkategorien der Romantik und deren Kritik am Rationalitäts- und Fortschrittsglauben der Aufklärung. F. Schlegel sah in der als »Kunstwerk der Natur« verstandenen Mythologie der Antike den Mittelpunkt ihrer Poesie und forderte entsprechend eine »neue Mythologie« für die Dichtung der eigenen Zeit, der so eine kulturstabilisierende Rolle auch für die Gegenwart zugewiesen wurde. Seine Suche nach mythischen Spuren einer göttlichen Uroffenbarung spiegelt zudem das starke Interesse der Romantik an den neu entdeckten indischen Mythen, die zu Spekulationen über (orientalische) Urweisheit, über Urvolk und Ursprache anregten (J. Görres u. a.) und eine Umkehrung des aufklärerischen »Mythos-Logos«-Schemas zu gebieten schienen. Diese neuplatonisch inspirierte Mythosdeutung erreichte einen Höhepunkt im Werk G. F. Creuzers, das einen heftigen Streit auslöste; Creuzers Mythosverständnis, das als philosophische Spekulation galt, wurde ein rationalistisch-philologisches Methodenbewusstsein entgegengehalten. Die romantische Auffassung vom Mythos als Volksschöpfung wurde v. a. von J. und W. Grimm vertreten, die nun auch die »deutsche Mythologie« ins Blickfeld rückten. Als schließlich F. W. J. Schelling in seinem Spätwerk »Philosophie der Mythologie« gleichsam die Summe der romantischen Mythosdeutung zog, hatte diese ihren Höhepunkt schon überschritten.
So wandelte sich das Mythosverständnis in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts grundlegend: Aus dem Programmwort der Romantik im Kampf gegen die »Vernunft« der Aufklärung wurde das Objekt nüchterner Forschung, die im Bewusstsein von Evolution und Fortschritt Mythos nur in den frühen Anfängen der Menschheitsgeschichte vermutete. Schon Ende des 18. Jahrhunderts war Heynes Mythosbegriff zur Leitkategorie historisch-kritischer Bibelinterpretation geworden, die sich seither immer wieder um eine überzeugende Abgrenzung zwischen mythischer Ausdrucksweise und dogmatischem Kernbestand bemühte. L. Feuerbach u. a. wandten sich darüber hinaus in verschärftem religionskritischem Engagement namentlich gegen die »christliche Mythologie«. Als wissenschaftliches Thema der indogermanischen Sprachforschung sowie der Völkerpsychologie und Ethnologie wurden die Mythen in der Regel distanziert gedeutet. Meist galten sie als Reflexe von Naturgewalten im Geist »primitiver« Völker oder als bloßes Resultat einer »Kinderkrankheit« der Sprache. Die Ethnologie brachte die Mythen v. a. mit dem Animismus in Verbindung (E. B. Tylor, H. Spencer). J. J. Bachofen dagegen erhoffte sich von ihnen zuverlässige Auskünfte über die mutterrechtliche Lebensform in der Frühzeit. Inwieweit sie genuiner Ausdruck religiösen Gefühls oder nur dessen äußere Form seien, blieb umstritten. So sah W. Dilthey - in der Kritik an A. Comtes »Dreistadiengesetz« - nicht die Religion, sondern nur den Mythos von Metaphysik und Wissenschaft abgelöst. Ähnlich wie schon bei R. Wagner gewann Mythos beim jungen F. Nietzsche dann wieder aktuelle Bedeutung: Wie der »tragische Mythos« der Griechen den Höhepunkt ihrer Kunst und Kultur bedeutet habe, hänge das kulturelle Schicksal der eigenen Zeit von der »Wiedergeburt des deutschen Mythos« ab: So erhielt Mythos am Ende des 19. Jahrhunderts als das Instinktive, begrifflich weder Einhol- noch Ersetzbare eine kritische Funktion im Rahmen einer an Wissenschaft und Fortschritt glaubenden, in Nietzsches Sicht aber kulturlosen Gegenwart.
Mythosverständnis und -forschung im 20. Jahrhundert
Etwa um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wird der Mythos von teilweise gegensätzlichen wissenschaftlichen Schulen und Richtungen als Forschungs- und Deutungsgegenstand wiederum neu entdeckt. Der Umbruch des Weltbildes, das seinen Ursprung in der Aufklärung hatte, durch das Dekadenzbewusstsein der Moderne, das Infragestellen des kontinuierlichen Fortschritts führten zu einer Neubewertung. Besonderes Interesse wurde ihm - in jeder Erscheinungsform - entgegengebracht im Schnittbereich von Soziologie, Ethnologie, Anthropologie und Religionswissenschaft.
L. Lévy-Bruhls Begriff des »Prälogischen« brachte den Unterschied zwischen mythischem Bewusstsein und modernem (logischen) Denken auf eine prägnante Formel. Aber auch die vitale Funktion rückt ins Blickfeld, die der Mythos als Element der religiösen, kulturellen und sozialen Stabilisierung für das Leben jeder Gesellschaft in einer frühen Entwicklungsphase besitzt. Immer wird in diesem Zusammenhang auf den Wahrheitscharakter des Mythos verwiesen. In der Auseinandersetzung um das Verhältnis des Mythos zu Kult und Ritus wird dem Mythos meist Erklärungs-, Beglaubigungs- und Einsetzungsfunktion zugeschrieben. Eine präzisere Bestimmung erfährt der spezifisch mythische Zeitbezug: Besonders M. Eliade betonte den Wiederholungscharakter des Mythos, der von einem Ereignis »in illo tempore« berichte, das, als verbindliches Beispiel im Ritus wiederholt, den Menschen in die »ewige Gegenwart der mythischen Zeit« stelle. Eliade entdeckte auch beim modernen Menschen die Sehnsucht nach solcher Überwindung der leidvollen profan-historischen Zeit durch den sinngebenden »Mythos der ewigen Wiederkehr«. E. Cassirers philosophisch-erkenntnistheoretische Analyse wollte den Mythos dagegen definitiv überwinden und die Wissenschaft so über ihren eigenen mythischen Ursprung aufklären, dass sie nicht selbst wieder im Mythos ende.
Eine der wirkungsvollsten, aber auch umstrittensten Deutungen lieferte die von S. Freud begründete Psychoanalyse, deren Erforschung des »Unbewussten« und des Traumes für den Mythos eine völlig neue Dimension des Verständnisses eröffnete: Wie der Traum den Trieben des Individuums den imaginativen Ersatz für real versagte Befriedigung liefere, habe der Mythos in der frühen Menschheitsentwicklung die Rolle einer Ablagerungsstelle für verdrängte und sich folglich bisweilen neurotisch äußernde Triebregungen übernommen (Ödipus-Mythos). C. G. Jung setzte die Akzente anders, indem er die »mythenbildenden Strukturelemente« (»Archetypen«) im »kollektiven Unbewussten« der menschlichen Gattung ortete und eine angemessene Deutung der in Fantasie und Traum des Individuums auftauchenden Mythen als Bedingung für die »Ganzwerdung des psychischen Menschen« ansah.
In der Kritik auch an der psychoanalytischen Deutung entwickelte C. Lévi-Strauss seine strukturalistische »Wissenschaft der Mythen«. Er hob die zugleich historische und ahistorische Struktur des Mythos hervor, wertete das »mythische Denken« als dem positiv-wissenschaftlichen gleichrangig und sah darin v. a. den Versuch, durch immer neue Mythenbildung Widersprüche zu bewältigen, die die Gesellschaft bedrängen (z. B. Leben - Tod).
Breite Wirkung entfaltete in der klassischen Altertumswissenschaft W. Nestle, der die griechische Geistesgeschichte als siegreichen Weg »Vom Mythos zum Logos« interpretierte. Versuche von W. F. Otto, K. Kerényi u. a., demgegenüber dem Mythos als »autoritativem« Wort und einer vom Denken niemals einholbaren Offenbarung des göttlichenen »Seins der Dinge« neue Dignität zu verleihen, stießen im Rahmen dieser Wissenschaft fast durchweg auf Ablehnung.
Eine neue Deutung erhielt der Begriff im 20. Jahrhundert, angeregt durch G. Sorel: der »soziale Mythos« erscheint als nur intuitiv zu erfassende, visionäre und als solche unwiderlegbare »Ordnung von Bildern«, die z. B. moralischen Kräfte der Menschen zur gemeinsamen politischen Aktion mobilisieren kann. In diesem antiintellektualistischen Sinn wurde Mythos »Fanal für den Aufbruch des Irrationalen« und »Vehikel der Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts« (H. Barth) und zur Bezeichnung für alles, dem man kollektive Suggestivkraft bescheinigen möchte und das zu beliebigen Zwecken fungibel erscheint. Die vom Gedanken eines solchermaßen »lebendigen« Mythos ausgehende Faszination zeigte sich nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, wo krisenbewusste Rationalitäts- und Kulturkritik immer wieder die Frage nach der Präsenz des Mythos aufbrechen ließ. Die Nationalsozialisten reklamierten in diesem Sinne den »nordischen« Mythos als eine Grundlage ihrer Rassentheorie, von A. Rosenberg im »Mythos des 20. Jahrhunderts« pseudophilosophisch begründet. Die wissenschaftliche Entgegnung auf diese Pervertierung kam u. a. von Cassirer, der die »Technik der modernen politischen Mythen« untersuchte, das ästhetische Gegenbild schuf T. Mann mit der Romantetralogie »Joseph und seine Brüder«, die ihre Spannung aus der Vermenschlichung mythischer Topoi bezieht.
Aus philosophisch-soziologischer Sicht suchten M. Horkheimer und T. W. Adorno noch vor Kriegsende den furchtbaren Rückfall in die Barbarei mit der These zu interpretieren, dass die (ursprünglich als Befreiung vom Mythos verstandene) Aufklärung selbst - in Gestalt des Positivismus und einer sich an die Macht bindenden und mit Herrschaftsanspruch auftretenden instrumentellen Vernunft - dialektisch in Mythologie zurückschlägt (»Dialektik der Aufklärung«). In der Religionswissenschaft und Theologie der Gegenwart setzt sich im Zusammenhang mit der Debatte um die »Entmythologisierung« mehr und mehr die Auffassung durch, dass im Umgang mit dem Mythos zwar nicht hinter die kritische Wende des neuzeitlichen Denkens zurückgegangen werden kann, eine radikale Entmythologisierung dem Wahrheitsgehalt des Mythos aber nicht gerecht wird und v. a. seine unverzichtbare Funktion auch innerhalb der christlichen Lehre übersieht, die immer wieder auf die Sprache des Mythos zurückgreift. Für K. Heinrich, der die psychoanalytischen Deutungen wieder aufnahm, lässt sich die bleibende Faszination, die von Mythen ausgeht, damit erklären, dass die dort dargestellten Konflikte bis heute von der Gattung Mensch nicht gelöst sind. Aber auch außerhalb der Theologie wird die »Entmythologisierung« kontrovers diskutiert. Einerseits fordert man sie vehement aus so unterschiedlichen Richtungen wie der positivistischen Ideologiekritik (E. Topitsch), des französischen Strukturalismus (R. Barthes) und generell in der Überzeugung vom unaufhaltsamen historischen Fortschreiten der Menschheit zur Rationalität; andererseits halten viele den Versuch totaler Entmythologisierung auch hier, zumal vor dem Hintergrund eines erschütterten Glaubens an den Fortschritt von Wissenschaft und Technik, Zivilisation und Emanzipation des Menschen, für verfehlt und entdecken im Gegenzug dazu aufs Neue die Weltsicht des Mythos. Gerade in dieser Sichtweise erscheint er dann als die für den Menschen notwendige Lebensgrundlage, die das Verstehen empirischer Realitäten überhaupt erst gewährleistet. So hält etwa L. Kołakowski sogar Wahrheit selbst nur von einem umfassenden »Mythos der Vernunft« her für denkmöglich. Darüber hinaus gilt »Polymythie« im Gegensatz zur »Monomythie« geradezu als Voraussetzung für Freiheit und Individualität (O. Marquard). H. Blumenberg akzentuiert den liberal-humanen Charakter des Mythos als eines dogmenfreien Spielraums der Imagination und versteht die Rezeptionsgeschichte des Mythos damit zugleich als Indikator eines sich wandelnden Wirklichkeitsverständnisses.
Unter erkenntnis- und wissenschaftstheoretischem Aspekt sehen K. Hübner u. a. den Mythos von seiner transzendentalen Funktion her als dem wissenschaftlichen Denken durchaus gleichrangig an, da beide über je eigene Ontologien zur Beschreibung von Wirklichkeit verfügen und als komplementäre Größen auch nicht wechselseitig als wahr oder falsch widerlegt werden können, obwohl oder gerade weil der Mythos die Gültigkeitsbedingungen wissenschaftlicher Aussagen nicht erfüllt. Eine einfache Gleichsetzung des Mythos mit dem Irrationalen und der Wissenschaft mit Rationalität scheint zudem gerade aufgrund neuerer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse eher überholt. Wenngleich in der wissenschaftlichen Theoriebildung in der Regel von »rational«, das heißt logisch widerspruchsfrei konstruierten Modellen der Wirklichkeit ausgegangen wird, zeigen doch insbesondere neuere Forschungen etwa in Physik (Quantenphysik, Chaostheorie) und Astronomie (chaotische Bahnverläufe einiger Himmelskörper) schon die Grenzen dieses dem Mythos entgegengehaltenen Begriffs von Rationalität selbst. Auch von daher stellt sich als Aufgabe ein besseres Verständnis des Mythos in seiner Vielschichtigkeit und damit - unter Wahrung der gegen ihn errungenen Freiheit eines aufgeklärten Bewusstseins - die Überwindung der Konfrontation von Mythos und Rationalität.
Neue Mythen
Parallel zu dieser wissenschaftlichen Diskussion des Mythosbegriffs vollzieht sich in der Gegenwart seine Inanspruchnahme auf unterschiedlichen Ebenen des politischen, gesellschaftlichen und religiösen Lebens bis hin zur Alltagswelt. Prägend wirkt hierbei, dass einerseits traditionelle religiöse und ethische Wertsysteme ihre bindende Kraft vielfach verloren haben, die (instrumentelle) Rationalität der modernen Wissenschaft das menschliche Bedürfnis nach Weltverständnis und Lebensorientierung andererseits nicht zu befriedigen scheint und Mythen jeder Art diese Lücke zu füllen versprechen. Wo es dann zur Bildung »neuer Mythen« kommt, spiegeln diese somit v. a. die Suche nach Sinn in einer von technischen und bürokratischen Zwängen beherrschten und immer komplexer werdenden Welt und erfüllen als solche gleichsam »religiöse« Funktionen: Auf Krisenbewusstsein antworten sie mit der Faszination des emotionalen Appells, versprechen Geborgenheit und gewährleisten Stabilisierung, Identität und Integration in einem kulturellen und sozialen Kontext. Das Bedürfnis nach Mythen dieser Art findet dabei nicht zuletzt im Aufkommen neuer, alternativer weltanschaulicher und religiöser Bewegungen seinen Ausdruck (neue Religionen, New Age). Im Unterschied zu den traditionellen (religiösen) Mythen werden die »neuen« Mythen jedoch in der Regel nicht mehr von einer universalen Gemeinschaft getragen, sondern artikulieren sich in einer pluralistischen Gesellschaft meist innerhalb von Gruppen und erscheinen damit auch eher inhomogen. Im Extremfall treten sie auch in Form individueller Mythologien auf - als Ausdruck äußerster Subjektivität. Dabei lösen sie einander meist in relativ rascher Folge ab - zum Teil mit der Schnelllebigkeit von Modeerscheinungen (z. B. bei so genannten Kultfiguren, -büchern, -filmen). Selbst Dinge des täglichen Lebens (z. B. Konsumartikel) können (als »Mythen des Alltags«, Barthes) in dieser Weise »mythische« Qualität gewinnen. Darüber hinaus wird in der politisch-gesellschaftlichen Diskussion der neuesten Zeit der Begriff ideologisch instrumentalisiert. Durch die Bezeichnung als Mythen werden diese einerseits als solche entlarvt, andererseits aber zugleich in ihrer (massen)wirksamen emotionalen Faszinationskraft bestätigt. Mythos in diesem Sinne kann z. B. das Charisma einer historischen Person (z. B. »Gandhi«) bezeichnen, auf eine soziale oder politische Entwicklungsdynamik hindeuten (»Mythos der Französischen Revolution«), ambivalent besetzt sein (»Mythos vom Fortschritt«) oder eine negative Wertung ausdrücken (»Mythos vom Führer«). In dieser Form bleibt der Mythos im allgemeinsten Verständnis auch für Funktionalisierungen und Manipulationen unterschiedlichster Art verfügbar, etwa im Sinne eines anzustrebenden (utopischen) politisch-gesellschaftlichen Idealzustandes, wie ihn der Marxismus verkündete. Wenn bedeutende Ideen und Begriffe von öffentlichem Interesse zu nicht näher hinterfragbaren Aussagen von autoritativer Kraft und Symbolträchtigkeit stilisiert werden (»Freiheit«, »Gleichheit«, »Brüderlichkeit«), können auch diese »mythischen« Charakter annehmen, doch bedeutet die explizite Anwendung des Wortes hier zugleich Problematisierung oder sogar Entlarvung.
Die unterschiedliche Interpretierbarkeit der Vokabel »Mythos« beweist, dass die Auseinanderstzung mit ihr noch bei weitem nicht abgeschlossen ist. Als andere Wahrnehmung oder Erklärung der Wirklichkeit wird der Mythos seinen Platz neben dem rationalen Weltverständnis behaupten.
O. Gruppe: Gesch. der klass. Mythologie u. Religionsgesch. während des MA. im Abendland u. während der Neuzeit (1921, Nachdr. 1965);
J. de Vries: Forschungsgesch. der Mythologie (1961);
G. Lanczkowski: Neuere Forsch. zur Mythologie, in: Saeculum, Jg. 19 (1968); Terror u. Spiel, hg. v. M. Fuhrmann (1971, Nachdr. 1990);
F. Schupp: M. u. Religion (1976);
A. Horstmann: Der M.-Begriff vom frühen Christentum bis zur Gegenwart, in: Archiv für Begriffsgesch., Jg. 23 (1979); Philosophie u. M., hg. v. H. Poser (1979);
K. Hübner: Die Wahrheit des M. (1985);
M. u. Rationalität, hg. v. Hans H. Schmid (1988);
M. u. Religion, hg. v. O. Bayer (1990);
A. Grabner-Haider: Strukturen des M. Theorie einer Lebenswelt (21993);
Neue Mythographien. Gegenwartsmythen in der interdisziplinären Debatte, hg. v. Ulrike Greiner-Kemptner u. R. F. Riesinger (1995);
H. Blumenberg: Arbeit am M. (Neuausg. 1996);
M. u. Moderne, hg. v. K. H. Bohrer (Neudr. 1996);
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My|thos, (auch:) My|thus, der; -, ...then [spätlat. mythos < griech. mýthos = Fabel, Sage, Rede, Erzählung, zu: mytheĩsthai = reden, sagen, erzählen, urspr. wohl lautm.] (bildungsspr.): 1. Überlieferung, überlieferte Dichtung, Sage, Erzählung o. Ä. aus der Vorzeit eines Volkes (die sich bes. mit Göttern, Dämonen, Entstehung der Welt, Erschaffung der Menschen befasst): Der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauß sagt, dass Mythen nicht vom Menschen erfunden wurden (Spiegel 17, 1981, 167); Ein weiterer Mythos drängt sich auf: Aus Furcht, die Prophezeiung könne wahr werden, ... schickt Laios seinen Sohn fort, auf dass er umkomme (Spiegel 17, 1981, 167). 2. Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen, irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären Charakter hat: Marylin Monroe. Der blonde Mythos (Schweizer Illustrierte 30, 1982, 24); Kennedy - das war von allem Anfang an, noch ehe die Schüsse von Dallas fielen, ein Mythos, der faszinierte (Basta 7, 1983, 31); die Schaffung eines spezifisch proletarischen Mythus der Revolution (Fraenkel, Staat 67); Diese Schlacht (= Schlacht bei Tannenberg) wurde sehr rasch zu einem Mythos (Dönhoff, Ostpreußen 14); Gandhi ist schon zu seinen Lebzeiten zum M. geworden.
Universal-Lexikon. 2012.