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◆ An|thro|po|lo|gie 〈f. 19; unz.〉 Wissenschaft vom Menschen unter besonderer Berücksichtigung der biolog., philosoph., pädagog. u. theolog. Sicht; Sy Menschenkunde [→ Anthropologe]
◆ Die Buchstabenfolge an|thr... kann in Fremdwörtern auch anth|r... getrennt werden.
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An|th|ro|po|lo|gie, die; -, -n:
Wissenschaft vom Menschen u. seiner Entwicklung:
philosophische, biologische, kulturelle, forensische A.
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Anthropologie
[griechisch] die, -, die Wissenschaft vom Menschen, besonders unter biologischem, philosophischem, pädagogischem und theologischem Aspekt.
V. a. im angelsächsischen und französischen Sprachgebrauch umfasst die Anthropologie als Erfahrungswissenschaft auch die Erscheinungen des kulturellen und sozialen Lebens, also die Soziologie, Sozialpsychologie, Völker- und Volkskunde, auch zum Teil Sprachwissenschaft, Vorgeschichte und Archäologie. Als Sonderzweige werden v. a. die Sozialanthropologie und in den USA die Kulturanthropologie (englisch cultural anthropology) unterschieden, unter der die gesamte Völkerkunde verstanden wird.
Biologische Anthropologie
Die biologische Anthropologie ist die Disziplin der Biologie, die den Menschen als Organismus behandelt. Ihre Schwerpunkte liegen in der Erforschung der menschlichen Phylogenese (Stammesentwicklung) und dem Studium der raumbezogenen Variabilität des heutigen Menschen sowie dem Studium von Ontogenese (Individualentwicklung), Wachstum und Konstitution. Hierbei arbeitet die Anthropologie eng mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen zusammen, besonders mit der Humangenetik und Populationsgenetik. Einen gewissen Raum nimmt die Bestandsaufnahme der Form-, Farb- und Maßverhältnisse des menschlichen Körpers ein (Anthropometrie). Inzwischen haben auch zahlreiche biochemische und molekulare Methoden Eingang in die Anthropologie gefunden. Eine Annäherung der biologischen Anthropologie an die Sozialdisziplinen (Soziologie und Sozialgeschichte) ist unübersehbar.
Geschichtliches:
Das Bewusstsein der Existenz von Menschengruppen unterschiedlichen Aussehens tritt bereits in steinzeitlichen Felsbildern und Plastiken, in altägyptischen Gemälden und antiken Berichten auf.
Einige griechische Philosophen und Ärzte, z. B. Platon, Aristoteles und Hippokrates, haben sich bereits mit Problemen der Vererbung beim Menschen beschäftigt, Aristoteles auch mit Fragen der Verwandtschaft von Mensch und Tier. Herodot versuchte die körperlichen (und kulturellen) Unterschiede zwischen den Völkern, die er auf seinen Reisen kennen lernte, zu erklären, indem er Klima, Lebensumstände und geographische Faktoren als Ursachen anthropologischer Differenzierung annahm. - Die erste Rassentheorie stellte Poseidonios auf. Nach ihm herrscht z. B. bei Kelten und Germanen der »Tymos« (Mut, Leidenschaft, Zorn) vor, bei den Mittelmeervölkern der »Logos« (Verstand). Körperliche Rassenmerkmale ordnet er dem Einfluss der Gestirne zu. - Im Mittelalter war das Interesse an den Fragestellungen der Anthropologie und Ethnologie fast erloschen. Erst mit den Entdeckungsreisen ab dem 16. Jahrhundert gewann das wissenschaftliche Interesse an den Eigenarten, der Entstehung und Entwicklung fremder Völker mehr und mehr an Boden. Die biologische Anthropologie erhielt dann mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften, besonders von Biologie, Medizin und Anatomie, ihre Grundlagen. Ein Ereignis von grundlegender Bedeutung war im 18. Jahrhundert die Eingliederung des Menschen in das System des Tierreichs durch C. von Linné; er stellte in der 12. Auflage seiner »Systema naturae« (1766) den Menschen in die Reihe der Primaten. - Als der eigentliche Begründer der neuzeitlichen Anthropologie gilt J. F. Blumenbach, dessen Rasseneinteilung von 1775 (»De generis humani varietate nativa«) im Wesentlichen noch heute gilt. I. Kant erkannte bereits das Übergewicht der Vererbung für Stammesentwicklung und innerartliche Differenzierung. Im 19. Jahrhundert wurde der Mensch auch in die neuen Vorstellungen einer Evolution (C. Darwin, E. Haeckel, T. Huxley) der gesamten Organismenwelt einbezogen. Schon früher (J.-B. Lamarck, W. Lawrence) aufgetauchte Gedanken engerer stammesgeschichtlicher Zusammenhänge zwischen Mensch und Primaten, besonders Menschenaffen, gewannen an Gewicht; sie wurden im 20. Jahrhundert durch viele Fossilienfunde erhärtet. Die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ständig mehrenden Skelettfunde eiszeitlicher und frühgeschichtlicher Menschenformen (mit ihren Kulturen) haben mit modernen Grabungs-, Untersuchungs- und Datierungsmethoden, aber auch vermehrten genetischen Erkenntnissen und solchen über den Ablauf von evolutionsgenetischen Prozessen zu gut fundierten Vorstellungen über die stammesgeschichtliche und regionale Entwicklung der Menschheit geführt.
Mit der historischen Entwicklung der Anthropologie gingen Gründungen wissenschaftlicher Gesellschaften und akademischer Vertretungen parallel. Mit der Gründung der »Societé d'Anthropologie de Paris« durch P. Broca (1859), der Entstehung einer »École d'Anthropologie« (1876) und ähnlicher Organisationen in vielen Ländern (1860-90) begann die Blütezeit der Anthropologie, und zwar dank enger Zusammenarbeit von Anthropologen, Anatomen, Prähistorikern, Archäologen, Ethnologen u. a. 1886 wurde in München die erste deutsche Professur für Anthropologie (J. Ranke) errichtet. - Die Fülle der Erkenntnisse sowie spezielle Methoden und Fragestellungen haben zur Spezialisierung geführt, u. a. zu Paläoanthropologie, historische Anthropologie, geographische Populationsstudien, Sozialanthropologie, Industrieanthropologie, Humanökologie und -ethologie.
Philosophische und pädagogische Anthropologie
Philosophische Anthropologie im weiteren Sinn umfasst die Geschichte der menschlichen Selbstdeutung von den Griechen bis heute. Der Terminus Anthropologie findet sich erstmals im 16. Jahrhundert bei Magnus Hundt (»Anthropologium de nominis dignitate, natura et proprietatibus«, 1501) und Otto Casmann (* 1562, ✝ 1607) in dessen »Psychologia anthropologica sive animae humanae doctrina« (1594). Während in Antike und Mittelalter die Frage nach dem Wesen des Menschen noch ganz in die Systeme der Ontologie und Metaphysik eingebaut war, vollzog sich in der Neuzeit bei R. Descartes und Kant eine radikale Wende zum Subjekt, zunächst zum transzendentalen Subjekt, das die Erkenntnistheorien des deutschen Idealismus, später des Neukantianismus und E. Husserls bestimmte, bei L. Feuerbach, S. A. Kierkegaard, M. Stirner und F. Nietzsche dann zum leibhaften Subjekt oder zur konkreten »Existenz«, was sich in der Lebensphilosophie, der Existenzphilosophie sowie den neomarxistischen und strukturalistischen Schulen fortsetzte.
Indem Kant in seiner Logikvorlesung die drei zentralen philosophischen Fragen »Was kann ich wissen?«, »Was soll ich tun?« und »Was darf ich hoffen?« in die grundlegendere Frage »Was ist der Mensch?« münden ließ, sprach er der Anthropologie eine grundlegende Funktion innerhalb der Philosophie zu. Allerdings hat er sein transzendentalphilosophisches Konzept nicht mit anthropologischen Fragen vermittelt. Deshalb ist Kants Unterscheidung zwischen physiologischem und pragmatischem Menschenkenntnis in seiner Vorlesung »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798) für die weitere Debatte prägend: »Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erforschung dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll«. Erst Feuerbach vollzog die »anthropologische Wende« im Gegenzug gegen G. W. F. Hegels Philosophie des absoluten Geistes. Mit seiner Erklärung der Theologie als Anthropologie bestimmte Feuerbach die Anthropologie als Universalwissenschaft. Trotz seiner Orientierung an Feuerbachs Materialismus kritisierte K. Marx dessen Menschenauffassung als nichtgeschichtliche, nicht durch Arbeit begriffene und deshalb bloß anthropologische. Die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Marxismus und Anthropologie kennzeichnet die neomarxistische Diskussion. Stirner dagegen radikalisierte diese Wende auf den »Einzigen« hin, Kierkegaard hinsichtlich der einzelnen Existenz. Nietzsche und die Lebensphilosophen W. Dilthey, H. Bergson und L. Klages thematisierten das leibhafte Leben und Erleben und erkannten ihm einen Primat vor dem rein intellektuellen Geist zu.
Philosophische Anthropologie im engeren Sinne als philosophische Disziplin entstand Ende der 1920er-Jahre. Als Geburtsstunde kann das Jahr 1928 gelten, in dem sowohl M. Schelers »Die Stellung des Menschen im Kosmos« als auch die erst später zur Wirkung gekommene Schrift von H. Plessner »Die Stufen des Organischen und der Mensch« erschienen sind. Neu ist die Integration der empirischen Wissenschaften vom Menschen, die eine zunehmend antispekulative Tendenz mit sich brachte, wobei der Tier-Mensch-Vergleich fast durchgängig zum Ausgangspunkt genommen wurde, der Gott-Mensch-Vergleich dagegen fast völlig in den Hintergrund trat. Damit einher ging das Bestreben, den cartesischen Leib-Seele-Dualismus zu überwinden. Philosophische Anthropologie in diesem engeren Sinn erforscht und beschreibt systematisch die Wesensmerkmale (»Anthropina«) des Menschen. Die bisherigen Leitbilder vom Menschen als Gottesgeschöpf, Vernunftwesen oder Lebewesen wurden durch das des Kulturwesens abgelöst; entsprechend tritt an die Stelle von religiöser Anthropologie, Vernunftanthropologie und biologische Anthropologie nun die Kulturanthropologie.
Scheler, der die gesamte Philosophie in der philosophischen Anthropologie begründet sah, traf die Unterscheidung eines natursystematischen und eines Wesensbegriffs vom Menschen. Während der Mensch im Stufenbau der Natur vom Tier nur graduell abgehoben sei, eröffne der dem Leben entgegengesetzte Geist einen Wesensunterschied, aufgrund dessen dem Menschen eine Sonderstellung im Kosmos zukomme. Der Geist mache den Menschen zur Person und befähige ihn, sich vom Zwang der Triebe zu befreien, verbürge die Möglichkeit der Distanzierung von der Eingebundenheit in die artspezifische Umwelt, d. h. seine »Weltoffenheit«, und führe ihn zur Wesenserkenntnis der Dinge. Indem Scheler Leib und Seele in dem Begriff Leben zusammenfasste, überwand er den alten Dualismus, setzte jedoch den neuen Dualismus von Leben und Geist.
Im Unterschied zu Scheler entkleidete Plessner den Geist seiner metaphysischen Deutung und ordnete ihn in einen Stufenbau des Lebendigen ein, der sich nach der Form seiner »Positionalität« gliedert: Der geschlossenen, zentralen Positionalität des Tieres steht die offene, exzentrische Positionalität des Menschen in einer vielgestaltigen Mitwelt gegenüber, in der er selbst zum Gegenstand wird (»Wir-Form« des Ichs) und sich zu dem bestimmen muss, was er ist. An die Stelle des abgelehnten psychophysischen Dualismus tritt die Betonung der Doppelaspekthaftigkeit des Menschlichen.
Großen Einfluss hatten die Untersuchungen des Zoologen A. Portmann, der nachwies, dass der Mensch sich von allen höheren Tieren dadurch unterscheidet, dass er, stammesgeschichtlich ein Nestflüchter, zum »sekundären Nesthocker« wird, weil er eine »physiologische Frühgeburt« ist. Erst nach dem ersten Lebensjahr erreiche er den Entwicklungsstand eines Säugetiers zum Zeitpunkt der Geburt. Innerhalb der prägsamen Phase des »extrauterinen Frühjahres« werde er mit mannigfaltigen Reizquellen und kulturell geformten Prägungen konfrontiert, die seine Sonderstellung bewirkten.
Ein Großteil dieser Versuche sowie die Arbeiten von K. Lorenz, L. Bolk, J. von Uexküll, O. Storch, F. J. J. Buytendijk u. a. wurden von A. Gehlen in seinem Bestreben nach einer empirischen Ganzheitswissenschaft des Menschen wieder aufgegriffen, die mittels einer erkenntnispraktischen Methode (wissenschaftlich-pragmatische Hypothesenbildung) alle einzelwissenschaftlichen Ergebnisse zu vereinigen suchte. Ausgehend von J. G. Herders Kennzeichnung des Menschen als »Mängelwesen«, aufgrund seiner Instinktreduktion, Organ-Unspezialisiertheit und fehlender Umweltangepasstheit im Unterschied zum Tier, erkannte er in der psychophysisch neutralen, weil vor alle Dualismen zurückgehenden Einheit der Handlung den Verständnisschlüssel für alle Wesensmerkmale des Menschen. Handelnd gleiche der Mensch seine biologische Unangepasstheit aus, indem er Natur zur Kultur umarbeite und durch Aufstellung von Institutionen »Entlastung« von der Reizüberflutung schaffe.
Im Unterschied zu seinen Vorgängern ging M. Landmann von einer »typologischen Sehweise« des Menschen aus, die ihn nur aus sich selbst und nicht aus dem Unterschied zum Tier begreift. Wie bei Gehlen gilt dabei der Mensch primär als Kulturwesen, und zwar im doppelten Sinn von Schöpfer und Geschöpf der Kultur.
Weitere Varianten der Kulturanthropologie bieten E. Rothackers Erforschung unterschiedlicher Kultur- und Lebensstile, die die spezifischen Lebensumwelten hervorhebt, sowie E. Cassirers funktionale Bestimmung des Menschen als eines »animal symbolicum«, das mittels verschiedener Symbolformen erst Wirklichkeit aufbaut. Einen mehr ethnologischen Aspekt verfolgt die »strukturale Anthropologie« von C. G. Lévy-Strauss, die die meist verborgenen Strukturen, in die der Mensch eingebunden ist, wie etwa in die frühen Verwandtschaftsbeziehungen oder in die Mythen, herausarbeitet und als das Leben tragende Bedeutungssysteme interpretiert.
In einer Reihe von Arbeiten stellte Agnes Heller (* 1929) aus der Budapester Schule des Marxismus Entwürfe zur Sozialanthropologie vor. Mit einer anthropologisch begründeten Geschichtsphilosophie auf der Basis der Plastizität menschlicher Bedürfnisse versuchte sie eine Vermittlung von Marxismus und Anthropologie.
Für die jüngste Entwicklung charakteristisch ist der unter der Schirmherrschaft von H.-G. Gadamer und P. Vogler stehende Entwurf einer »neuen Anthropologie«, die die Erkenntnisse der biologischen Anthropologie, der Sozialanthropologie, der Kulturanthropologie (hier: »cultural anthropology«), der psychologischen und der philosophischen Anthropologie unter besonderer Einbeziehung von Verhaltensforschung, Evolutionstheorie und Humanmedizin unter einem Dach versammelt, ohne bisher zu einem einheitlichen, integralen Ansatz vorzudringen.
Parallel zur Ausbildung der philosophischen Anthropologie als Disziplin wurde die Frage nach dem Menschen wesentlich durch die Existenzphilosophie in allen ihren Spielarten vorangetrieben, wenn auch gerade in massiver Kritik an der philosophischen Anthropologie. So gründet in dem Werk des Existenzialontologen M. Heidegger die philosophische Anthropologie in einer existenzialen Analytik des menschlichen Seins als Dasein; das Wesen des Menschen solle nicht mehr aus dem Vergleich mit Gott oder dem Tier begriffen werden, sondern aus seiner Nachbarschaft zum Sein, d. h. aus seinem Seinsbezug. Der Existenzphilosoph K. Jaspers kritisierte die Ontologisierung und wissensmäßige Verfestigung des Menschenwesens in den definitiven Aussagen der philosophischen Anthropologie, da diese seinem innersten Seinscharakter als offene Möglichkeit, als Existenz, die sich stets werdend ins Sein bringen muss, widerspreche, die nur mittels der Methode der »Existenzerhellung« beschrieben werden könne.
Noch schärfer wurde die Absage an jegliche Wesensdefinition des Menschen bei dem Existenzialisten J.-P. Sartre formuliert: Nach ihm geht die Existenz des Menschen seiner Essenz voran; der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht.
Als Kritiker der Existenzphilosophie aus anthropologischer Sicht und zugleich als Vermittler zwischen beiden kann O. F. Bollnow eingestuft werden, dessen außerordentlich plastischen, stark ins Ethische gewendeten Analysen des »Wesens der Stimmungen« sowie des im Wohnen zentrierenden Zusammenhangs von »Mensch und Raum« eine »neue Geborgenheit« beschreiben.
Eine zukunftweisende Vermittlung zwischen philosophischer Anthropologie und Existenzialontologie versucht R. Wisser mit der Herausarbeitung der anthropo-ontologischen »kritisch-krisischen Grundbefindlichkeit« des Menschen, in der die Möglichkeit des Fragens des Menschen nach sich selbst letztlich wurzelt. Wisser zufolge ist der Mensch das »wesenlose Wesen«, dem sein Wesen nicht vorgegeben ist, sondern dem aufgegeben ist, mittels ebenso permanenter Kritik, d. h. sich richten, fragen und bestimmen müssend, sein Wesen stets aufs Neue hervorzubringen und verantwortlich zu übernehmen.
Weitgehender Konsens herrscht in der neueren philosophischen Anthropologie und in der Existenzphilosophie darüber, dass die Frage nach dem Menschen nicht abschließend durch die Festschreibung eines immer währenden, unveränderlichen Wesens ein für alle Mal beantwortet werden kann, sondern stets eine offene Frage bleiben muss, weil der Mensch kein festgelegtes Wesen besitzt, vielmehr sein »Wesen« stets neu deuten und bestimmen muss.
Die pädagogische Anthropologie befasst sich mit der Bestimmung und dem Selbstverständnis des Menschseins unter dem Zentralaspekt der Erziehung. Sie wird im Zuge der neueren pädagogischen Grundlagenbesinnung kritisch thematisiert als: a) anthropologisch fundiertes Selbstverständnis der Pädagogik (M. J. Langeveld, L. Eckstein); b) pädagogischer Aspekt einer integralen Anthropologie (A. Flitner, Bollnow, H. Roth); c) gesellschaftsbezogener Ansatz der Pädagogik (M. Horkheimer, H. Marcuse, J. Habermas); d) Teildisziplin systematischer Pädagogik (J. Derbolav: »Thema der pädagogischen Anthropologie ist der Mensch als erziehbares und erziehungsbedürftiges Wesen: homo educandus et educabilis«). Als »Anthropologie des Kindes« begreift sie Entwicklung als »geistige Individualgeschichte«. Eine zentrale Frage richtet sich darauf, ob die Pädagogik einer aus sich bestimmten vorgegebenen Sinngebung des Menschseins verpflichtet ist oder dieses selbst eine »offene Frage« darstellt, die in der Sinn- und Zielbestimmung der Erziehung immer neu beantwortet werden muss. Sucht die pädagogische Anthropologie die praktische Aufgabe der Erziehung festzuhalten und über die Phänomenalanalyse hinaus systematisch zu begründen, dann gliedert sie sich einer pädagogischen Gesamttheorie ein, die auch die Theorie des pädagogischen Handelns und der Bildungswelt mit Bezug auf die Konstitution des Menschlichen umschließt.
Theologische Anthropologie
Grundlegend für die christliche theologische Anthropologie ist die Aussage 1. Mose 1, 26 über die Gottebenbildlichkeit (Imago Dei) des Menschen, der durch seine Geistbegabung zur Wahrheitserkenntnis und zur Verantwortung befähigt ist. Die Möglichkeit, dieser Wesensbestimmung entsprechend zu leben, ist durch die Sünde (Erbsünde) nach katholischer Lehre beeinträchtigt (»verwundet«), nach evangelischer Auffassung in stärkerem Ausmaß geschädigt oder gar umfassend zerstört. Die orthodoxe Theologie unterscheidet zwischen der Gottebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit des Menschen. Dem Bilde Gottes »ähnlich« (homoiusios) geschaffen, verlor der Mensch nach seinem Versuch, sein zu wollen wie Gott (Sündenfall) die Gottähnlichkeit. Die Gottebenbildlichkeit aber blieb. Das Zentrum der orthodoxen theologischen Anthropologie bildet die Lehre von der »Vergöttlichung« (Theosis) des Menschen. Die Menschwerdung Gottes (des Logos) in Christus, der in seiner menschlichen Natur der vollkommene (»vergöttlichte«) Mensch ist, ermöglicht es dem Menschen kraft seiner nicht verloren gegangenen Gottebenbildlichkeit, sich Christus »gleich zu gestalten« und so nach dem Bilde (der Ikone) Gottes erneuert (»vergöttlicht«) zu werden (Römerbrief 8, 29; Kolosserbrief 3, 10). Nach übereinstimmender christlichen Glaubenslehre wendet sich dem durch falsche Selbstbehauptung in Sünde gefallenen Menschen in Jesus Christus die Liebe Gottes zu (Luk. 15, 11-32: das Gleichnis vom verlorenen Sohn). Sie erlöst und befreit zur »neuen Schöpfung« (2. Korintherbrief 5, 17) eines wahrhaft menschlichen Lebens kraft der Gnade des Heiligen Geistes. Weil der Mensch, der »Christus angezogen hat« (Galaterbrief 3, 27), dessen Schicksal in Leben, Tod und Auferstehung teilt, ist die Anthropologie eng mit der Christologie verbunden.
Für die islamische Theologie liegt das Schicksal des Menschen ganz in der Hand Gottes, der ihn erschaffen hat. Diese »Schöpfertätigkeit« Gottes wiederholt sich bei jeder Empfängnis und jeder Geburt. Der Koran betont den Menschen als die gute Schöpfung Gottes, beschreibt ihn aber auch als von Natur aus schwach (Sure 4, 28), kleinmütig, ungerecht, unwissend und unbeständig im Glauben. Bereits das erste Menschenpaar übertrat das Gebot Gottes (Adam und Eva). Die christliche Lehre von der Erbsünde wird jedoch abgelehnt, da nach dem Koran kein Mensch (»keine Seele«) die Schuld (»Last«) eines anderen tragen soll (Sure 6, 164). Vielfältigen Versuchungen ausgesetzt und von sich aus zum Guten unfähig, betont die islamische Theologie die unbedingte Pflicht des Menschen, dem im Koran offenbarten Willen Gottes zu folgen. Die Welt ist der von Gott geschaffene Ort, wo der Mensch seinen Glauben findet, diesen bewahren soll und kann und seine Glaubenstreue durch Gott auf die Probe gestellt wird.
Biologische Anthropologie:
R. Knussmann: Vergleichende Biologie des Menschen. Lb. der A. u. Humangenetik (1980);
A. Goudie: Mensch u. Umwelt (1995);
W. Nentwig: Humanökologie (1995).
Philosophische und pädagogische Anthropologie:
E. Straus: Vom Sinn der Sinne. Ein Beitr. zur Grundlegung der Psychologie (21956; Nachdr. 1978);
P. Teilhard de Chardin: Der Mensch im Kosmos (a. d. Frz., 1959; Nachdr. 1994);
E. Cassirer: Was ist der Mensch? (a. d. Engl., 1960);
E. Straus: Psychologie der menschl. Welt (1960);
M. Landmann: Der Mensch als Schöpfer u. Geschöpf der Kultur. Geschichts- u. Sozialanthropologie (1961);
F. J. J. Buytendijk: Mensch u. Tier. Ein Beitr. zur vergleichenden Psychologie (Neuausg. 31.-36. Tsd. 1970);
W. Kamlah: Philosoph. A. (1972; Nachdr. 1984);
O. F. Bollnow: Die anthropolog. Betrachtungsweise in der Pädagogik (31975);
A. Heller: Instinkt, Aggression, Charakter. Einl. zu einer marxist. Sozialanthropologie (1977);
R. Guardini: Der Weg zum Mensch-Werden (21981);
K. Löwith: Sämtl. Schriften, Bd. 1: Mensch u. Menschenwelt (1981);
H. Plessner: Ges. Schriften, hg. v. G. Dux u. a., Bd. 4: Die Stufen des Organischen u. der Mensch (1981);
M. Buber: Das Problem des Menschen (51982);
Pädagogik u. A., hg. v. H. Konrad (1982);
M. Landmann: Philosoph. A. (51982);
E. Rothacker: Philosoph. A. (51982);
M. Landmann: Fundamental-A. (21984);
A. Portmann: Biologie u. Geist (41985);
A. Gehlen: Urmensch u. Spätkultur (51986);
M. Heidegger: Über den Humanismus (91991);
C. Lévi-Strauss: Strukturale A., 2 Bde. (a. d. Frz., 1-51991/92);
K. Lorenz: Einf. in die philosoph. A. (21992);
C. F. v. Weizsäcker: Der Garten des Menschlichen. Beitrr. zur geschichtl. A. (Neuausg. 1992);
A. Gehlen: Anthropolog. u. sozialpsycholog. Unterss. (6.-7. Tsd. 1993);
A. Gehlen: Gesamtausgabe, hg. v. K.-S. Rehberg, Bd. 3: Der Mensch. Seine Natur u. seine Stellung in der Welt, 2 Tle. (1993);
G. Böhme: A. in pragmat. Hinsicht (41994);
O. F. Bollnow: Mensch u. Raum (71994);
Die Einheit des Menschen. Zur Grundfrage der philosoph. A., hg. v. L. Honnefelder (1994);
J.-P. Sartre: Der Existentialismus ist ein Humanismus (a. d. Frz., Neuausg. 1994);
J.-P. Sartre: Das Sein u. das Nichts. Versuch einer phänomenolog. Ontologie (a. d. Frz., Neuausg. 11.-15. Tsd. 1994);
O. F. Bollnow: Das Wesen der Stimmungen (81995);
G. H. Mead: Geist, Identität u. Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus (a. d. Amerikan., 101995);
M. Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos (131995).
Theologische Anthropologie:
W. Trillhaas: Vom Wesen des Menschen (1949);
E. Brunner: Der Mensch im Widerspruch (41965);
A. als Thema der Theologie, hg. v. H. Fischer (1978);
W. Schmithals: Die theolog. A. des Paulus (1980);
K. Stock: A. der Verheißung. Karl Barths Lehre vom Menschen. .. (1980);
R. Guardini: Der Weg zum Menschwerden (21981);
H. Thielicke: Mensch sein, Mensch werden (31981);
H. Küng: Ewiges Leben? (31983);
W. Pannenberg: A. in theolog. Perspektive (1983);
O. H. Pesch: Frei sein aus Gnade. Theolog. A. (1983);
K. Barth: Die kirchl. Dogmatik, Bd. 3: Die Lehre von der Schöpfung, Tl. 1: Das Werk der Schöpfung (Zürich 51988);
Z. Joha: Christologie u. A. (1992);
H. W. Wolff: A. des A. T. (61994).
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An|thro|po|lo|gie, die; -: Wissenschaft vom Menschen u. seiner Entwicklung.
Universal-Lexikon. 2012.