Vọlks|kun|de 〈f. 19; unz.〉 Lehre von der populären Kultur, der Alltagskultur (im Allg. der Industrienationen, im Unterschied zur Völkerkunde)
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Vọlks|kun|de, die:
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Volkskunde,
Wissenschaft, die die Verhaltensnormen und Gestaltungsmuster, die in unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen übernommen und weitergegeben werden, untersucht; befasst sich mit Kultur- und Lebensformen der »Alltagswelt«, die sie unter dem Aspekt ihrer Geschichte, Erscheinung und Funktion untersucht; analysiert sowohl Verhalten (Bräuche, Feste, Volksglauben usw.) als auch Volkskultur (Arbeit und Gerät, Hausrat, Tracht, Volkskunst, -recht, -dichtung usw.). Als interdisziplinärer Zweig bewegt sie sich gegenwärtig vornehmlich zwischen Geschichte, Soziologie (empirische Sozialforschung) und Ethnologie (Kulturanthropologie; die auf den europäischen Kulturkreis beschränkte Volkskunde wird heute auch als europäische Ethnologie bezeichnet). Ihrer wissenschaftlichen Herkunft nach stammt die Volkskunde in Europa zumeist von den nationalen Philologien ab und ist darum in Deutschland wegen der damit verbundenen theoretischen Voraussetzungen und ideologischen Implikationen gegenwärtig durch einen polarisierenden Methodenstreit gekennzeichnet.
Die Volkskunde bestimmt sich nicht allein durch ihre Arbeitsbereiche und Forschungsgegenstände, sondern durch spezielle methodische Fragestellungen. Volkskundliche Forschung hat sich bislang mit jeder anthropologischen Theorie auseinander gesetzt, vom Präanimismus über die Lehre von den prälogischen Denkstrukturen oder von Kulturkontinuitäten, über den Funktionalismus bis hin zur »kritischen Theorie« und den Konzepten der Kultursoziologie. Die Arbeitsmethoden, deren sich die Volkskunde bedient, sind die historisch-philologische Textkritik, die kartographische Kulturraumforschung, die archivalische Quellenanalyse und die sozialwissenschaftliche Feldforschung. Ideologiekritische Bemühungen führten zur Distanzierung von bislang tragenden volkskundlichen Grundbegriffen wie Volk, Stamm, Gemeinschaft, Tradition, Kontinuität, Sitte. An die Stelle von Ursprungsforschung ist die Beobachtung des historischen Wandels getreten und an die Stelle einer retrospektiven Wesensschau des »Volkstums« der Versuch einer kritischen Analyse populärer Kultur (Volkskultur). Die »Volkslebensforschung« (begründet von dem schwedischen Ethnologen Sigurd Erixon, * 1888, ✝ 1968) war das skandinavische Vorbild, Erforschung der »Kultur und Lebensweise unterer Sozialschichten« der entsprechende Begriff aus zunächst marxistischer Sicht, der inzwischen jedoch breit rezipiert ist. Die Beobachtung von Innovations- und Diffusionsprozessen, also das Auftauchen und die Verbreitung von Kulturgütern, spielt eine bedeutende Rolle neben Gemeinde- und Vereinsstudien, Erforschung von Tourismus und interkulturellen Beziehungen u. a. Weite Bereiche der Trivialgütererforschung werden von der Volkskunde mitgetragen (Lektüre, Wandschmuck, Fotografie), ebenso wie Phänomene der Kulturindustrie (Film, Folklorismus). Daneben ist das Forschungsinteresse sehr stark auf lebensgeschichtliche Interviews (etwa bei der Frauenforschung) v. a. als Quellen ausgerichtet.
In Deutschland gibt es zurzeit volkskundliche (oder aus dieser Tradition erwachsene) Institute, Seminare oder Abteilungen an vielen Universitäten. Daneben existieren wissenschaftliche Institutionen regionaler oder spezieller Zielsetzung (z. B. Deutsches Volksliedarchiv, Freiburg im Breisgau; Atlas der deutschen Volkskunde, Bonn), außerdem Volkskundemuseen, darunter das Deutsche Volkskundemuseum und viele Freilichtmuseen.
In Österreich gibt es volkskundliche Lehrstühle in Graz, Innsbruck und Wien. In Wien befindet sich das Österreiche Museum für Volkskunde.
In der Schweiz bestehen selbstständige volkskundliche Seminare in Basel und Zürich, daneben das Schweizerische Museum für Volkskunde und das Schweizerische Institut für Volkskunde der privaten Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde in Basel.
Die heute umstrittene Bezeichnung Volkskunde stammt nicht, wie lange angenommen, aus der Zeit der literarischen Romantik nach 1806, sondern taucht schon in Konzepten aufgeklärter Staats- und Verwaltungs-Wissenschaften auf, erstmals 1787. Doch die Beschäftigung mit den Eigentümlichkeiten von Land und Leuten reicht in spätmittelalterlicher Zeit zurück und wird seit dem Humanismus zu einem gelehrten Anliegen des nationalen Selbstverständnisses. Hier wurden schon Grundvorstellungen der Kulturtradierung entwickelt, wie sie - aus verwandter Motivation - noch die wissenschaftlichen Bemühungen seit dem frühen 19. Jahrhundert bestärkten, die nicht mehr nüchtern-praktischen Landeserhebungen im Sinne der Spätaufklärung, sondern den Vorstoß zu vermeintlichen Urgründen von Nation und Gesellschaft im Auge hatten. Von daher bestimmte sich der Volksbegriff und wurde schließlich auf ein idealtypischen Bauerntum hin stilisiert. Hierbei liefen parallel: eine konservative Soziallehre und ein spekulativer Mythologismus, der historische Quellenbereiche vor jeder schriftlichen Überlieferung freizulegen hoffte und darum stets Ursprungsforschung blieb. Über Mitteleuropa hinaus wurden die Ideen J. G. Herders und der Brüder Grimm von der Naturpoesie und einer dichtenden Volksseele kollektiven Charakters wirksam für weltweite Sammeltätigkeiten mit dem Ziel, angeblich uralte geistige Zusammenhänge und eigentliche Grundbedeutungen motivische Details zu rekonstruieren, die v. a. in der mündlichen Überlieferung des einfachen Volkes auf dem Lande oder in dessen dekorativ gestalteten Gebrauchsgegenständen erkennbar sein sollten.
Der Begriff Folklore wurde 1846 in Großbritannien geprägt für die Summe volkstümlicher Überlieferungen im Sinne der grimmschen Mythologie wie auch für die Wissenschaft zu deren Erforschung. Er bürgerte sich international ein, nicht allerdings im deutschen Sprachraum, wo die Bezeichnung schon um 1890 einen abschätzigen Klang hatte und den dilletierenden Enthusiasten galt. Heute werden aber auch hier die reinen Erzählforscher zum Teil Folkloristen genannt. Besonders starke Nachwirkungen besaßen die religionswissenschaftlichen und anthropologischen Theorien, v. a. Johann Wilhelm Emanuel Mannhardts (* 1831, ✝ 1880) und J. G. Frazers; hingegen fand der im 20. Jahrhundert wieder entdeckte W. H. Riehl mit seinem gesellschaftsbezogen-empirischen (sozialwissenschaftlichen) Ansatz zu seiner Zeit keine Resonanz.
Mit zunehmender Industrialisierung wuchs das Interesse an vor- und nichtindustriellen Lebensformen. So wurde seit der Gründung kulturhistorischer Museen mit volkskundlichen Abteilungen sowie Volkskundemuseen (in Deutschland u. a. Berlin 1889, Dresden 1896) zunehmend auch materielle Volkskultur dokumentiert; später entstanden Freilichtmuseen. Nachdem sich Ende des 19. Jahrhunderts die Volkskunde als selbstständige wissenschaftliche Disziplin an den Universitäten und Hochschulen etabliert hatte (endgültig bis 1930 abgeschlossen), setzten Methodenkritik und Theorienstreit ein. Sie entzündeten sich zunächst in den Stoffbereichen Volkslied, Märchen und Volkskunst, da hier mit historisch-philologischer Textkritik und Formalvergleichen beweiskräftig gearbeitet werden konnte. Im 1. Drittel des 20. Jahrhunderts herrschten widerstreitende Produktions- und Rezeptionstheorien vor, die heute durch Kreativitätsforschungen wieder an Aktualität gewinnen. Die Diskussion wurde v. a. von Germanisten getragen, da Volkskunde in Deutschland (anders als z. B. in Österreich) im Rahmen einer umfassenden germanischen Altertumskunde in die Universität integriert worden war. Neben den völkischen Tendenzen einer auch die seriöse Wissenschaft beeinflussenden Volkstumsideologie standen im 2. Viertel des 20. Jahrhunderts Hans Naumann (* 1886, ✝ 1951; Lehre vom gesunkenen Kulturgut und primitiven Gemeinschaftsgeist) und J. Schwietering (Funktionalismusrezeption) sowie die wissenschaftsorganisatorischen Wegbereiter J. Meier (Verband der Vereine für Volkskunde) und Adolf Spamer (* 1883, ✝ 1953; zentrale Forschungseinrichtungen). Die nationalsozialistische Volkskunde institutioneller Art wurde von eigenen Organisationen getragen (»SS-Ahnenerbe e. V«; Amt Rosenberg).
Nach 1945 vollendete sich in Mitteleuropa die Emanzipation der Volkskunde von den Philologien; es begann die verstärkte theoretische Hinwendung zu den anthropologischen und empirischen Sozialwissenschaften. Gleichzeitig wurde die Ergologie, in Ansätzen schon in den 1920er-Jahren betrieben, zum wissenschaftlich gleichberechtigten Teilgebiet der Volkskunde. Die praktische Forschungsarbeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts, v. a. empirische Untersuchungen zum historischen Wandel der Kulturgüter beziehungsweise Lebensformen im Alltag, führte inbesondere zur Erweiterung des Untersuchungsfeldes der Volkskunde unter kulturgeschichtlichem Aspekt (historische Volkskulturforschung, »neue Kulturgeschichte«; Historische Anthropologie). Dies ergab eine neue Fundamentierung des Fachs, die nunmehr statt auf ideologischen Hypothesen auf der Kenntnis realer historischer Bedingtheiten und Zusammenhänge beruht. (Volkskultur)
Bibliographien:
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H. Gerndt: Kultur als Forschungsfeld (21986);
H. Gerndt: Studienskript V. (31997);
I.-M. Greverus: Kultur u. Alltagswelt (Neuausg. 1987);
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Atlas der dt. V., hg. v. H. Harmjanz u. a., 6 Lfgg. (1937-40),
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Österr. V.-Atlas, hg. v. der Kommission für den V.-Atlas in Österreich (Graz 1959-81).
Methoden und Geschichte:
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V. u. Nationalsozialismus, hg. v. H. Gerndt (1987, Nachdr. 1989);
Fach u. Begriff »V.« in der Diskussion, hg. v. H. Gerndt: (1988);
Grundr. der V., hg. v. R. W. Brednich (1988);
Grundzüge der V., Beitrr. v. H. Bausinger u. a. (21989);
K.-H. Kohl: Ethnologie - die Wiss. vom kulturell Fremden. Eine Einf. (1993);
D. Happel: Folkloreforschung in Dtl. u. Großbritannien im 19. Jh. (1995);
Kulturen - Identitäten - Diskurse. Perspektiven europ. Ethnologie, hg. v. W. Kaschuba (1995);
T. Bargatzky: Ethnologie (1997);
C. Geertz: Spurenlesen. Der Ethnologe u. das Entgleiten der Fakten (a. d. Engl., 1997).
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Ztschr. für V. (1929 ff., früher u. a. T.);
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Bayer. Jb. für V. (1950 ff.);
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Rheinisch-Westfäl. Ztschr. für V. (1954 ff., früher u. a. T.);
Fabula (1957 ff.);
Jb. für ostdt. V. (1963 ff., früher u. a.T.);
Ethnologia Europaea. Revue internationale d'ethnologie européenne (Kopenhagen 1967 ff.);
Kieler Bl. zur V. (1969 ff.);
Jb. für V. u. Kulturgesch. (Berlin-Ost 1973-89, früher u. a.T.);
Hess. Bl. für Volks- u. Kulturforschung (1975 ff., früher u. a. T.);
Jb. für V. (1978 ff., früher u. a. T.);
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Vọlks|kun|de, die: Wissenschaft von den Lebens- u. Kulturformen des Volkes; ↑Folklore (1 b).
Universal-Lexikon. 2012.