Exis|tẹnz|phi|lo|so|phie 〈f. 19; unz.〉 = Existenzialismus
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Exis|tẹnz|phi|lo|so|phie, die:
philosophische Richtung des 20. Jh.s, deren Hauptthema das im Erleben u. Handeln sich erschließende, wesenhafte menschliche Dasein ist.
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Existẹnzphilosophie,
von F. Heinemann (in »Neue Wege der Philosophie«, 1929) in die Philosophiegeschichtsschreibung eingeführter Terminus zur Kennzeichnung der damals neu aufkommenden philosophischen Richtung, die, um die Einseitigkeit rationalistischer und irrationalistischer Philosophien zu vermeiden, von der konkreten Existenz des Einzelnen ausgeht. Obwohl sich seither »Existenzphilosophie« als Oberbegriff für eine Reihe unterschiedlich strukturierter, seit Mitte der 1920er-Jahre in Deutschland entstandener, seit Anfang der 40er-Jahre in Frankreich aufgegriffener Philosophien etabliert hat, bleibt dieser Terminus insofern problematisch, als die wichtigsten Vertreter der Existenzphilosophie sich ausdrücklich von dieser Bezeichnung distanziert haben. Kennzeichen aller Existenzphilosophien, die allerdings bei den einzelnen Vertretern zum Teil sehr unterschiedlich ausgelegt werden, ist die Deutung menschlicher Existenz als letztes, unhintergehbares Sein, bestimmt durch seine Faktizität, seine wesentliche Endlichkeit (Sein zum Tode) und Geschichtlichkeit (Zeitlichkeit), seine Freiheit und Möglichkeit, die es nicht nur hat, sondern als die es ist, aufgrund deren es sich verlieren oder aber sich selbst finden kann. Primär erschlossen wird die mit rationalen Mitteln nicht auslotbare Existenz durch Stimmungen wie Angst, Ekel oder Langeweile oder bei K. Jaspers im Durchgang durch Grenzsituationen des Scheiterns. Gemeinsam ist aller Existenzphilosophie ferner die Auffassung der Existenz als Aufgabe und Vollzug eines dynamischen Seinsverhältnisses in Absetzung von der traditionellen Wesensphilosophie, die ein unveränderliches, statisches Wesen des Menschen unterstellte. Hinsichtlich des Verhältnisses von Existenz und Gott beziehungsweise Transzendenz differieren die einzelnen Positionen erheblich: Während für Jaspers, G. Marcel und P. Wust im Anschluss an S. Kierkegaard das Verhältnis zur Transzendenz konstitutiv für das Innewerden der Existenz ist, vertreten die Existenzialisten J.-P. Sartre und A. Camus einen entschiedenen Atheismus. M. Heidegger dagegen klammert die Gottesfrage aus, da zuerst die umfassendere Seinsfrage zu klären sei. Heute lassen sich im Wesentlichen drei Richtungen der Existenzphilosophie unterscheiden, deren Hauptvertreter Jaspers (Philosophie der möglichen Existenz), Heidegger (Existenzialontologie), Sartre und Camus (Existenzialismus) sind.
Als Stammvater aller Existenzphilosophien gilt der dänische Philosoph Kierkegaard, der dem Begriff Existenz seinen spezifisch neuzeitlichen Sinn verliehen hat und dessen gesamtes Werk von einem religiösen, »existenziellen Denken« (d. h. einem auf das Selbstverhältnis und die Selbsterfahrung des Menschen in seiner konkreten Existenz gegründeten Denken) getragen ist. Er fordert den »subjektiven Denker«, der an seinem Gegenstand »unendlich interessiert« ist und entsprechend verantwortlich handelnd für ihn eintritt, in Opposition zu G. W. F. Hegels - in seinen Augen - abstraktem, objektivem, wissenschaftlichem Denken, das seinem Gegenstand unbeteiligt gegenüberstehe. Im Unterschied zu den objektiven Wahrheiten sind existenzielle Wahrheiten nicht lehrbar, weshalb Kierkegaard die Form der indirekten Mitteilung wählt und sich hinter zahlreichen Pseudonymen verbirgt. Existenz fasst er als Verhältnis zu sich selbst und darin zu Gott und kennzeichnet sie mittels seiner existenzdialektischen Methode (die sich von Hegels spekulativer Geistdialektik abhebt) als eine Vielfalt unterschiedlicher, aber dennoch miteinander zusammenhängender Synthesen von Unendlichkeit und Endlichkeit (Konkretheit), von Möglichkeit und Notwendigkeit (Freiheit), von Ewigkeit und Zeitlichkeit (Augenblick), von Idealität und Realität (Bewusstsein) sowie als Austrag von Allgemeinheit und Einzelheit (Selbst). Die Verzweiflung als Nicht-selbst-sein-Wollen, die eine »Krankheit zum Tode« darstellt, kann durch das Ergreifen des Selbstseins im wahren Glauben überwunden werden.
Jaspers gebrauchte zwar in Vorlesungen der 20er-Jahre bis Mitte der 30er-Jahre nach eigener Auskunft mehrfach den Terminus Existenzphilosophie zur Kennzeichnung seines sowie des kierkegaardschen Philosophierens, ließ ihn jedoch, als er sich zum Titel einer ganzen Strömung ausgeweitet hatte, fallen, um sich von Heideggers ontologischem Denken sowie vom französischen Existenzialismus abzugrenzen. Jaspers' Anliegen lässt sich als Philosophie der möglichen Existenz charakterisieren, in deren Zentrum die Freiheit steht. Menschsein geht Jaspers zufolge weder im objektiven Wissen noch im objektivierten Glauben auf, vielmehr entspringt Existenz aus der Freiheit und dem Innewerden der Möglichkeit des »Sichausbleibens« und »Sich-geschenkt-werdens« im Verhältnis zur Transzendenz und kann nur in Freiheit verwirklicht werden. Nach dem Scheitern der rational-wissenschaftlichen Weltorientierung in der Erfahrung von Grenzsituationen (Tod, Schuld, Leid) bleibt nur der Appell an den Einzelnen in seiner Freiheit, seine mögliche Existenz zu ergreifen. Deren Kennzeichen Kommunikation, Geschichtlichkeit, Freiheit, absolutes Bewusstsein und inneres Handeln vergegenwärtigt Jaspers mit seiner Methode der Existenzerhellung.
Heidegger, dessen erstes Hauptwerk »Sein und Zeit« (1927) unmittelbar nach seinem Erscheinen als Grundbuch der Existenzphilosophie gelesen wurde, verwahrte sich von Anfang an gegen eine Interpretation seines Werkes als einer Existenzphilosophie, da es ihm primär um das Sein überhaupt gehe und nicht um das menschliche Sein für sich genommen, auch wenn der Analytik des Daseins oder der Existenz bei der Erschließung des Sinnes von Sein eine zentrale Rolle zukomme. Im Unterschied zu Kierkegaard und Jaspers sowie zu den französischen Existenzialisten geht es Heidegger gerade nicht um das konkrete Existieren des Menschen als Seiendes, d. h. um die existenziell (die eigene je faktische Existenz des Menschen kennzeichnenden) ontischen Vollzüge, sondern um eine Explikation der wesentlichen Strukturen der Seinsverfassung des Menschen (Existenzialien), d. h. um eine existenzialontologische Untersuchung. Ausgehend von der durchschnittlichen Alltäglichkeit arbeitet Heidegger mittels seiner Methode einer hermeneutischen Phänomenologie die in der Alltäglichkeit verstellten Grundstrukturen des Daseins (Existenzialien) heraus, deren konkreter Seinsausdruck Sorge und deren innerster Seinssinn Zeitlichkeit ist. Im »Brief über den Humanismus« (1947) verdeutlicht Heidegger Existenz als »Ek-sistenz«, das ist als »Hin-aus-stehen« in die Wahrheit oder Offenbarkeit des Seins, und grenzt sich scharf von Sartres Existenzialismus ab.
Von Sartre und Camus ging, besonders in Paris nach dem Zweiten Weltkrieg, eine Bewegung aus, die v. a. bei der jüngeren Generation Anklang fand, zeitweise auch deren Lebensstil bis hin zu Haartracht und Kleidung beeinflusste und die sich auch in der französischen Literatur dieser Zeit niederschlägt. Diese französische Spielart der Existenzphilosophie, die sich selbst Existenzialismus nennt, wurde getragen von der Erfahrung der Absurdität des Daseins sowie dem Grundsatz, dass die Existenz der Essenz vorangeht. Das meint: Der Mensch ist aufgrund seiner Seinsverfassung als Existenz und der dazugehörigen Freiheit dazu verurteilt, sein Wesen zu entwerfen und verantwortlich handelnd zu übernehmen. Der Existenzialismus versteht sich zum einen als Atheismus, demzufolge es keinen Gott geben darf, damit die radikale Freiheit des Menschen gewahrt bleibt, zum anderen als Humanismus, der keine andere Wirklichkeit als die des Menschen anerkennt. In seinem Spätwerk versuchte Sartre eine Verbindung von Existenzialismus und Marxismus.
Entschieden christliche Deutungen der Existenz vertraten G. Marcel, der sich ebenfalls von der Klassifizierung seines Denkens als Existenzphilosophie distanzierte, und P. Wust, der als einer der wenigen sein Philosophieren als Existenzphilosophie bezeichnete.
Weitere Ausbreitung erfuhr die Existenzphilosophie in Italien durch N. Abbagnano, in Spanien durch M. de Unamuno und im russischen Sprachraum durch L. Schestow und N. A. Berdjajew.
Die Gedanken der Existenzphilosophie haben weit über den Bereich der Philosophie hinausgewirkt. In der Literatur finden sich existenzphilosophische Themen bereits im 19. Jahrhundert (F. M. Dostojewskij) und zu Beginn des 20. Jahrhunderts (R. M. Rilke und F. Kafka); nach dem Zweiten Weltkrieg erlangte der französische Existenzialismus durch die Romane, Erzählungen und Dramen von Sartre, Camus und Simone de Beauvoir weltweite Bekanntheit. Für den Bereich der Pädagogik forderte O. F. Bollnow eine Ergänzung der traditionellen Stetigkeitspädagogik durch die Einbeziehung von unstetigen Formen der Erziehung wie z. B. Krise, Erweckung, Ermahnung und Begegnung. In der Theologie schließt vornehmlich die Richtung der dialektischen Theologie (K. Barth, R. Bultmann) an die Existenzphilosophie an, auf katholischer Seite besonders K. Rahner.
P. Wust: Der Mensch u. die Philosophie. Einf. in die Hauptfragen der E. (21947);
L. Gabriel: E. (21968);
G. Marcel: Sein u. Haben (a. d. Frz., 21968);
H. Fahrenbach: E. u. Ethik (1970);
F. Heinemann: E., lebendig oder tot? (41971);
K. Jaspers: Philosophie, 3 Bde. (41973);
K. Jaspers: E. (41974);
K. Jaspers: Philosoph. Logik, Bd. 1: Von der Wahrheit (31983);
K. Jaspers: Vernunft u. Existenz (1984);
S. Kierkegaard: Abschließende unwiss. Nachschrift zu den Philosoph. Brocken (a. d. Dän., Neuausg. 1976);
S. Kierkegaard: Der Begriff Angst (a. d. Dän., Neuausg. 1984);
S. Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (a. d. Dän., Neuausg. 1984);
S. Kierkegaard: Philosoph. Brocken (a. d. Dän., Neuausg. 1984);
J.-P. Sartre: Marxismus u. Existentialismus (a. d. Frz., 70.-73. Tsd. 1977);
J.-P. Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? Drei Essays (a. d. Frz., 195.-198. Tsd. 1989);
J.-P. Sartre: Das Sein u. das Nichts (a. d. Frz., Neuausg. 15.-18. Tsd. 1995);
W. Janke: E. (1982);
Max Müller: E. (41986);
M. Heidegger: Über den Humanismus (91991);
M. Heidegger: Sein u. Zeit (171993);
Philosophie der Gegenwart, hg. v. J. Speck, Bd. 5: Jaspers, Heidegger, Sartre, Camus, Wust, Marcel (21992);
F. Zimmermann: Einf. in die E. (31992);
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Existenzphilosophie: Faktizität, Transzendenz und Freiheit
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Exis|tẹnz|phi|lo|so|phie, die: philosophische Richtung des 20. Jahrhunderts, deren Hauptthema das im Erleben u. Handeln sich erschließende, wesenhafte menschliche Dasein ist.
Universal-Lexikon. 2012.