Descartes
[de'kart], René, latinisiert Renatus Cartesius, französischer Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler, * La Haye (heute Descartes, Département Indre-et-Loire) 31. 3. 1596, ✝ Stockholm 11. 2. 1650. Aus altem Adelsgeschlecht stammend, wurde Descartes 1604-12 am damals renommierten Jesuitenkolleg in La Flèche in der scholastischen Philosophie und Naturwissenschaft ausgebildet; danach Studium der Rechte in Poitiers (bis 1616), seit 1618 Kriegsdienste in den Armeen Moritz' von Nassau und des Kurfürsten Maximilian von Bayern; seine mathematischen und physikalischen Fragestellungen wurden wesentlich angeregt durch die Begegnung mit J. Beekmann (1618/19). Es folgten Reisen durch Europa und 1625-29 ein Aufenthalt in Paris. Descartes emigrierte 1629 nach Holland, widmete sich dort wissenschaftlichen Studien, verfasste den größten Teil seiner mathematischen, physikalischen, medizinischen und metaphysisch-philosophischen Werke und pflegte Kontakte zu vielen Wissenschaftlern seiner Zeit, v. a. zu M. Mersenne. Im Herbst 1649 folgte er einer Einladung der Königin Christine nach Stockholm, wo er vier Monate später verstarb.
Unter dem Eindruck der Verurteilung G. Galileis stellte Descartes die Veröffentlichung seines ersten physikalischen Hauptwerks »Le monde« zurück. Die Reihe seiner Publikationen beginnt mit den »Essais« (1637), bestehend aus der Schrift »La géometrie« (deutsch »Die Geometrie«), die Descartes' Grundlegung der analytischen Geometrie enthält, den beiden naturwissenschaftlichen Abhandlungen »Dioptrique« (deutsch »Dioptrik«), in der Descartes eine Theorie der Lichtbrechung, und »Météores«, in der er eine darauf gegründete Erklärung des Regenbogens entwickelt hat; die autobiographisch geprägte Einleitung »Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité« (deutsch u. a. als »Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung«) enthält die philosophische Ausarbeitung einer allgemeinen Methode wissenschaftlichen Erkennens. Lateinisch erschienen 1631 die »Meditationes de prima philosophia, in quibus Dei existentia et animae humanae a corpore distinctio demonstratur« (21642, französisch 1647; deutsch u. a. als »Meditationen über die Erste Philosophie, worin das Dasein Gottes und die Unterschiedenheit der menschlichen Seele von ihrem Körper bewiesen wird«; geläufig unter dem Kurztitel »Meditationen über die Erste Philosophie«) samt den Einwänden bedeutender Gelehrter (u. a. M. Mersenne, T. Hobbes, A. Arnauld, P. Gassendi) und Descartes' Erwiderungen. Eine Gesamtdarstellung des Systems »Principia philosophiae« (deutsch »Die Prinzipien der Philosophie«), die erkenntnistheoretische Überlegungen sowie Descartes' Naturphilosophie, Kosmologie und terrestrische Physik behandelt, gab er 1644 heraus (weitere Ausgaben erschienen in rascher Folge bis 1681); 1649 erschien Descartes' »Traité des passions de l'âme« (deutsch u. a. als »Die Leidenschaften der Seele«). Aus den bis dahin unveröffentlichten Schriften wurde 1662 postum das Werk »De homine« gedruckt, das 1677 unter dem Titel »Traité de l'homme« (deutsch »Über den Menschen«) zusammen mit dem »Traité de la lumiere ou le monde« (neuer Titel der unvollendet gebliebenen Schrift »Le monde«) auch in französischer Sprache erschien. Die beiden Jugendschriften »Regulae ad directionem ingenii« (deutsch u. a. als »Regeln zur Leitung des Geistes«) und »Inquisitio veritatis per lumen naturale« (deutsch »Die Erforschung der Wahrheit durch das natürliche Licht«) wurden ebenfalls postum publiziert (1701).
Die grundlegenden Begriffe der Erkenntnistheorie Descartes' sind mathematischer und physikalischer Herkunft. Das gilt sowohl für seinen Begriff der Wahrheit als reiner, durch Intuition gewonnener Evidenz und klarer, distinkter Anschauung (unbezweifelbar wahr ist, was sich durch die Vernunft »clare et distincte« erkennen lässt) als auch für die fundamentale Unterscheidung zwischen zwei Substanzen, der »Res cogitans« (»denkende Substanz«, Innenwelt) und der »Res extensa« (»ausgedehnte Substanz«, Außenwelt), die der Reduktion der Körperwelt auf reine Ausdehnung (»extensio«) in physikalischen Zusammenhängen folgt. Als unbezweifelbar gilt die Einsicht des »cogito, ergo sum« (»ich denke, also bin ich«), die Descartes aufgrund eines vorhergegangenen »methodischen Zweifels« an allem gewinnt, was er vorher zu wissen glaubte. Sie vermittelt Descartes Gewissheit über die eigene Existenz als denkende Substanz, die sich im Zweifeln, Bejahen, Verneinen usw. als identisch erfährt. Die Selbstständigkeit eines Anfangs im Denken (»Cogitatio«) scheint damit erwiesen. Sie wird darüber hinaus durch zwei Gottesbeweise gesichert, die im System Descartes' mit dem Nachweis, dass Gott nicht täuscht, der Sicherung so genannter erster Sätze (darunter der Naturgesetze) und der allgemeinen methodischen Regel klarer und distinkter Anschauung dienen. Gegenstände dieser Anschauung sind Ideen, nach Descartes unterschieden in angeborene, durch Erfahrung erworbene und künstlich gebildete Ideen. Die Annahme angeborener Ideen, das heißt einer erfahrungsfreien Anschauungsquelle, führt zum Begriff angeborener (beziehungsweise ewiger) Wahrheiten, die über Ketten methodisch gewonnener Evidenzen (nicht logisch voneinander abhängiger Sätze) schließlich einer apriorisch orientierten Erklärung auch erfahrungsbestimmter Vorgänge dienen sollen. Das Problem der Interaktion zwischen Körper und Seele, das sich mit der fundamentalen Unterscheidung zweier Substanzen (die eine gekennzeichnet durch Gestalt und Bewegung, die andere durch Ideen und Willensakte) stellt, versuchte Descartes durch die Annahme einer physischen Verbindung über die Zirbeldrüse und durch den Hinweis auf die alltägliche Erfahrung zu lösen.
In der Physik, deren deduktiver Aufbau ein Hauptziel der Philosophie Descartes' war, nimmt die Reduktion der Natur auf reine Ausdehnung eine Schlüsselstellung ein. Alles Geschehen muss nach Descartes als Korpuskularbewegung gedeutet werden. Die Identifizierung von Raum und Materie schließt die Möglichkeit eines Vakuums aus. Zur Erklärung der Korpuskularbewegung, die Descartes als geschlossenen, ewigen Kreislauf ansah und deren Übertragung auf benachbarte Teilchen er auf (allerdings nicht haltbare) Stoßgesetze zurückführte, formulierte Descartes den Impulssatz als einen der ersten Erhaltungssätze der Physik überhaupt. In die Auffassung vom Kreislauf der Korpuskeln fügt sich Descartes' Theorie über die Entstehung des Sonnensystems aus Materiewirbeln (1637), die eine Erklärung für die Planetenbewegung enthält und in ihrer Anerkennung erst im 18. Jahrhundert durch die Gravitationstheorie Newtons abgelöst wurde. Descartes leugnete in Konsequenz seiner Korpuskulartheorie die Existenz von Atomen, griff aber der Sache nach zur Erklärung einiger Phänomene doch auf atomistische Vorstellungen zurück.
Von größter Wirkung auf die Nachwelt waren die Leistungen Descartes' auf dem Gebiet der Mathematik, besonders seine Grundlegung der analytischen Geometrie. Descartes sah als Erster die Leistungsfähigkeit einer für die moderne Mathematik charakteristischen Gleichstellung algebraischer und geometrischer Methoden und Schlussweisen. Er erfasste die nichttranszendenten Kurven durch Gleichungen und trug Bedeutendes zur Theorie der Gleichungen bei (u. a. Fundamentalsatz der Algebra).
Descartes war überzeugt, dass alle Naturerscheinungen rational erfassbar und erklärbar sind, und hat seine mechanistische Denkweise auch auf Biologie, Medizin und Psychologie (Lehre von Affekten) angewendet.
Descartes beeinflusste nicht nur die Vertreter des Cartesianismus (u. a. in der Medizin), sondern auch Philosophen wie J. Locke, G. W. Leibniz, B. de Spinoza, L. Wolff und I. Kant. Der metaphysische Dualismus der Zweisubstanzenlehre wurde im neuzeitlichen Denken, darin dessen Subjektivität begründend, zur Grundlage der (idealistischen) Unterscheidung von Subjekt und Objekt. Die rationalistisch-mechanistische Denkweise Descartes', die ihn dazu verleitete, im lebendigen Organismus eine Maschine zu erblicken, wurde ebenso heftig bekämpft wie sein Dualismus, der bis in die Grundlagen der gegenwärtigen Wissenschaften hineingewirkt hat, und seine Verständnislosigkeit gegenüber historischen Prozessen. Die neuere Forschung wendet sich u. a. Descartes' Beziehung zur scholastischen Philosophie zu. Weiterhin wird das praktische Anliegen der metaphysisch-philosophischen Überlegungen betont, das für Descartes darin bestand, sichere Kriterien für das eigene Handeln zu gewinnen und mit seiner Methode die angewandten Wissenschaften (Medizin, Technik, Moral) zur allgemeinen Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen zu fördern.
Ausgaben: Correspondance, herausgegeben von C. Adam und G. Milhaud, 8 Bände (1936-63, Nachdruck 1970); Œuvres philosophiques, herausgegeben von F. Alquié, 3 Bände (1963-73); Œuvres, herausgegeben von C. Adam und P. Tannery, 12 Bände (Neuausgabe 1965-74).
Briefe 1629-1650, herausgegeben von M. Bense (1949, Auswahl); Werke in deutscher Übersetzung unter Einzeltiteln, herausgegeben von L. Gäbe und anderen, auf mehrere Bände berechnet (1956 folgende, in: Philosophische Bibliothek).
F. Bouillier: Histoire de la philosophie cartésienne, 2 Bde. (Paris 31868, Nachdr. Hildesheim 1972);
P. Natorp: D.' Erkenntnistheorie (1882, Nachdr.1978);
A. Koyré: D. u. die Scholastik (a. d. Frz., 1923, Nachdr. 1971);
H.-G. Gouhier: Essais sur D. (ebd. 1937);
F. Alquié: D. (a. d. Frz., 1962);
C. F. von Weizsäcker: D. u. die neuzeitl. Naturwiss. (21962);
G. Sebba: Bibliographia Cartesiana, a critiqual guide to the D. literature, 1880-1960 (Den Haag 1964);
Gerhart Schmidt: Aufklärung u. Metaphysik. Die Neubegründung des Wissens durch D. (1965);
R. Specht: Commercium mentis et corporis. Über Kausalvorstellungen im Cartesianismus (1966);
L. Gäbe: D.' Selbstkritik. Unters. zur Philosophie des jungen D. (1972);
J. Rée: D. (London 1974);
É. Gilson: Études sur le rôle de la pensée médiévale dans la formation du système cartésien (Paris 51984);
H.-G. Gouhier: La pensée métaphysique de D. (Paris 41987);
J. F. Scott: The scientific work of R. D. (Neudruck New York 1987);
J. Vuillemin: Mathématiques et métaphysique chez D. (Paris 21987);
T. Fuchs: Die Mechanisierung des Herzens. Harvey u. D. - der vitale u. der mechanist. Aspekt des Kreislaufs (1992);
D., hg. v. T. Keutner (1993);
H. H. Holz: D. (1994);
E. Cassirer: D. Lehre, Persönlichkeit, Wirkung (Neuausg. 1995);
W. Röd: D. Die Genese des Cartesianischen Rationalismus (31995);
M. D. Wilson: D. (Neudruck London 1996);
D. Perler: R. D. (1998);
M. Gerten: Wahrheit u. Methode bei D. Eine systemat. Einführung in die cartes. Philosophie (2001);
Uwe Schultz: D. (2001).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs
Universal-Lexikon. 2012.