Akademik

Natur
Umwelt; Ökosystem; Wildnis; Beschaffenheit; Physis

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Na|tur [na'tu:ɐ̯], die; -, -en:
1. <ohne Plural> Gesamtheit aller organischen und anorganischen, ohne menschliches Zutun entstandenen, existierenden, sich entwickelnden Dinge und Erscheinungen:
die unbelebte Natur; die Geheimnisse der Natur erforschen; die Kräfte der Natur nutzen.
2. <ohne Plural> Pflanzen, Tiere, Gewässer, Gesteine als Teil eines bestimmten Gebietes, der Erdoberfläche überhaupt (besonders im Hinblick auf das noch nicht vom Menschen Berührt-, Umgestaltet-, Besiedeltsein):
die unverfälschte Natur; diese Pflanze gedeiht nur in der [freien] Natur.
Syn.: Feld und Wald, Landschaft, natürliche Umwelt, Umwelt.
3. Art, Wesen, Charakter, körperliche Eigenart einer Person, eines Tiers:
die männliche, tierische Natur; ihre Naturen sind zu verschieden; er hat eine glückliche Natur.
Syn.: Naturell, Persönlichkeit, Typ, Veranlagung.
4. <ohne Plural> einer Sache eigentümliche Beschaffenheit:
Fragen von allgemeiner Natur; es liegt in der Natur der Sache, dass Schwierigkeiten entstehen.

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Na|tur 〈f. 20
I 〈unz.〉
1. die uns umgebende, von Menschen nicht geschaffene Welt u. die ihr innewohnende Schöpferkraft
2. ursprünglicher, unverfälschter Zustand
3. Wald u. Feld, freies Land
4. Körperbeschaffenheit
5. Wesensart, Veranlagung, Charakter, Temperament (Person)
6. Art, Wesen (Sache)
7. 〈oberdt.〉 Geschlechtsteile
8. 〈österr.〉 Sperma
● das Buch der \Natur 〈fig.〉; die Geheimnisse, die Wunder der \Natur; bei Mutter \Natur übernachten im Freien; die drei Reiche der \Natur Pflanzen, Steine, Tiere; die Stimme der \Natur der Trieb ● er kann seine \Natur nicht ändern, bezwingen, verleugnen; das entspricht nicht seiner \Natur; seine \Natur erleichtern 〈oberdt.〉 harnen; die \Natur genießen; sein: ihr Haar ist \Natur ist echt, nicht künstlich gewellt od. gefärbt ● es wurde ihm zur zweiten \Natur zur festen Gewohnheit; die belebte und die unbelebte \Natur; er hat eine eiserne \Natur ist kerngesund, widerstandsfähig; eine leicht erregbare, schwer lenkbare, problematische \Natur; die erwachende, liebliche \Natur (im Frühling); in die freie \Natur hinauswandern, -fahren, -ziehen; eine gesunde, kräftige, schwache, starke \Natur; das sind Fragen grundsätzlicher \Natur Art; sie hat eine heitere, glückliche \Natur ist heiter, glücklich veranlagt; seine Verletzungen waren nur leichter \Natur Art; sie ist eine schöpferische \Natur ● diese Schwierigkeiten liegen in der \Natur der Sache; das ist gegen meine \Natur es widerstrebt mir, ist mir im Innersten zuwider; dieses Bild ist nach der \Natur gemalt, gezeichnet; sie ist von \Natur (aus) ängstlich, fröhlich, schüchtern; das ist wider die \Natur unnatürlich; zurück zur \Natur!
II 〈zählb.〉 Mensch mit einer bestimmten Wesensart ● die beiden sind einander widersprechende \Naturen
[<ahd. natura <lat. natura „Kraft, Trieb; Natur, Naturkraft; Welt, Weltordnung; Schöpfung“]

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Na|tur , die; -, -en [mhd. natūre, ahd. natūra < lat. natura = Geburt; natürliche Beschaffenheit; Schöpfung, zu: natum, 2. Part. von: nasci = geboren werden, entstehen]:
1. <o. Pl.> alles, was an organischen u. anorganischen Erscheinungen ohne Zutun des Menschen existiert od. sich entwickelt:
die unbelebte N.;
die N. beobachten;
die Wunder der N.;
Ü die N. hat sie stiefmütterlich bedacht (sie hat ein Gebrechen, ist hässlich).
2. <o. Pl.> [Gesamtheit der] Pflanzen, Tiere, Gewässer u. Gesteine als Teil der Erdoberfläche od. eines bestimmten Gebietes [das nicht od. nur wenig von Menschen besiedelt od. umgestaltet ist]:
die blühende N.;
in die freie N. (ins Freie) hinauswandern;
[etw.] nach der N. (nach einem realen Vorbild) zeichnen.
3.
a) <Pl. selten> geistige, seelische, körperliche od. biologische Eigentümlichkeit, Eigenart von [bestimmten] Menschen od. Tieren, die ihr spontanes Verhalten o. Ä. entscheidend prägt:
die tierische N.;
sie hat eine gesunde, kräftige, eiserne N. (Konstitution);
er kann seine N. nicht verleugnen (er kann sich nicht verstellen);
das liegt nicht in seiner N. (entspricht nicht seiner Art);
er ist von N. [aus/her] (seinem Wesen nach) ein gutmütiger Mensch;
sein Verhalten ist wider die N. (verstößt gegen die ungeschriebenen Gesetze menschlichen Verhaltens, Empfindens o. Ä.);
R die N. verlangt ihr Recht (ich muss einem Bedürfnis nachgeben, einen Trieb befriedigen);
jmdm. gegen/wider die N. gehen/sein (jmdm. sehr widerstreben);
jmdm. zur zweiten N. werden (jmdm. selbstverständlich, zur festen Gewohnheit werden);
b) Mensch im Hinblick auf eine bestimmte, typische Eigenschaft, Eigenart:
er ist eine kämpferische N.;
sie sind einander widersprechende -en.
4. <o. Pl.> (einer Sache o. Ä.) eigentümliche Beschaffenheit:
Fragen [von] grundsätzlicher N.;
in der N. von etw. liegen (untrennbar zur besonderen Beschaffenheit, zum Wesen von etw. gehören: das liegt in der N. der Sache).
5. <o. Pl.> natürliche, ursprüngliche Beschaffenheit, natürlicher Zustand von etw.:
ein Schlafzimmer in Birke Natur/natur (Schlafzimmermöbel in naturfarbenem Birkenholz);
N. sein (echt, nicht künstlich sein).

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Natur
 
[von lateinisch natura »Geburt«, »natürliche Beschaffenheit«, »Schöpfung«, zu nasci, natum »geboren werden«] die, -, zentraler Begriff der europäischen Geistesgeschichte, im Sinne von dem, was wesensgemäß von selbst da ist und sich selbst reproduziert. Das menschliche Selbstverständnis, die Auffassung von Kunst, Recht, Kultur und Technik sind durch ihn geprägt, die Naturwissenschaften dienen als Vorbild für Wissenschaftlichkeit überhaupt. Die Wirklichkeit der Natur wurde vom Menschen seit jeher ambivalent erfahren: als Grundlage des Lebens und Nahrungsspenderin, aber auch als fremd, feindlich und zerstörerisch. Nach christlicher Auffassung ist sie Gegenstand pflegender Herrschaft, die dem Menschen als höchstem Geschöpf zusteht und mittels derer er ihre Zwecke vollenden und dabei zu seinen eigenen Gunsten wirken kann. Zu allen Zeiten war Natur auch, in historisch unterschiedlicher Ausprägung, Gegenstand der Bewunderung. Sie galt als Offenbarung des Göttlichen und erfuhr kultische Verehrung als Ausdruck von Harmonie und Schönheit, als ein Ganzes, mit dem sich der Mensch verbunden fühlte oder aus dem er sich abgesondert, herausgefallen erfuhr: »Einssein« konnte so als Inbegriff einer Versöhnung von Mensch und Natur oder als Ziel einer menschlichen Sehnsucht aufgefasst werden.
 
Das Verhältnis zur Natur ist heute für die Menschheit zu einem der großen Probleme geworden, da sie durch die schädigenden Nebenwirkungen des menschlichen Handelns (besonders im Rahmen von Industrie und Technik) an sich und damit als Grundlage der menschlichen Existenz bedroht ist. Darüber hinaus ist aber der Naturbegriff selbst problematisch geworden: Durch die Zunahme technischer Eingriffe in die Natur, wodurch sich die Grenze des traditionell als unverfügbar Angesehenen immer weiter verschoben hat, einerseits, und die Erkenntnis, dass Natur nicht nur Objekt des menschlichen Erkennens und Handelns darstellt, sondern der Mensch selbst ein Teil dieser Natur ist, andererseits wird der Begriff unscharf; er verliert seine bisher durch die Gegenüberstellung zum menschlichen Bereich (z. B. »Natur und Technik«, »Natur und Kunst«) geprägte Position.
 
Bei den vorsokratischen Philosophen bezeichnete Natur (Physis) alles Seiende, einschließlich des menschlichen Bereichs und der Götter. Viele ihrer Werke trugen den Titel »Über die Natur«. Die frühen Naturphilosophen versuchten, alles Seiende auf ein Prinzip (Arche) zurückzuführen, so Thales auf das Wasser und Heraklit auf das Feuer. Bis in die neuzeitliche Wissenschaft hinein wirkten sich die Naturtheorien des Pythagoras, des Empedokles und v. a. der Atomismus von Leukipp und Demokrit aus. Pythagoras versuchte, das Seiende durch Zahlenverhältnisse zu bestimmen, Empedokles sah in allem die vier Elemente - Feuer, Wasser, Erde, Luft - und das Wirken der Gegensätze Liebe und Hass, Leukipp und Demokrit erklärten Natur aus der Existenz von »Atomen« und deren Bewegung im leeren Raum. Darüber hinaus blieb die Vorstellung von Natur als einem Ganzen lebendig, das hierarchisch geordnet, in einer Analogie von Welt als Makrokosmos und Mensch als Mikrokosmos beziehungsweise als göttliche Schöpfungsordnung vorgestellt wurde.
 
 Natur und menschliches Handeln
 
Antiphon der Sophist unterschied die Naturordnung (Physis) und das menschliche Gesetz (Nomos). Während die Naturordnung im Sinne des Notwendigen dem Menschen lebensdienlich und zuträglich sei, könnten menschliche Satzungen und Normen wie alle Kulturgüter grundsätzlich infrage gestellt werden und seien oft lebensfeindlich, indem sie der Natur Gewalt antun. »Denn die Gesetze sind willkürlich, die Gebote der Natur dagegen notwendig; und die Gesetze sind vereinbart, nicht gewachsen, die Gebote der Natur dagegen gewachsen, nicht vereinbart.« Hier ist der Ausgangspunkt einer Tradition, nach der in der Natur das Gesetz des Stärkeren herrscht und Übervorteilung und Lustbefriedigung als natürliches Rechte des Stärkeren abgeleitet werden; die menschlichen Gesetze hätten ihren Sinn darin, den Schwächeren zu schützen. Diese Auffassung vertrat in extremer Form T. Hobbes, der sagte, dass gegenüber einem rohen Naturzustand (»jeder Mensch ist dem anderen ein Wolf«) überhaupt erst ein Zusammenleben durch gesellschaftliche Ordnung möglich werde. F. Nietzsche dagegen erschien eine solche Gesellschaft als die Herrschaft der vielen, der Schwachen und Unbedeutenden; er forderte stattdessen den »Übermenschen«. Die Berufung auf die Natur kann jedoch auch eine Kritik der gesellschaftlichen Ungleichheit, die ja auf Tradition und Konvention beruht (J.-J. Rousseau), begründen. Schon bei Antiphon heißt es: »Von Natur aus sind alle Menschen gleich, Griechen und Barbaren.«
 
Wenn auch mit der Entgegensetzung Natur und Satzung zunächst unterschiedliche Ursprünge (etwa bezogen auf Sprache und Institutionen) bezeichnet werden, so gewinnt doch Natur dabei die Rolle einer normativen Instanz: Es ist Aufgabe des Menschen, sich in der Einrichtung seiner Institutionen und in seiner Lebensführung in den Zusammenhang der Natur einzufügen. Als Handelnder ist er zwar an die Naturordnung gebunden, in seiner Selbstbestimmung, Zwecke setzend und wählend, gilt er jenen aber auch als in einem gewissen Maße enthoben, d. h. als frei. Er soll die Bewegungen der eigenen Seele mit den kosmischen Harmonien in Einklang bringen (Platon), ein naturgemäßes, sich der Begierden und egoistischen Interessen enthaltendes Leben führen (Stoa), und seine Gesetze sollen sich am Naturrecht messen. Die Natur als normative Instanz impliziert in jedem Fall die Existenz einer dem Menschen vorgegebenen und überlegenen Ordnung, sei dies die ewige Ordnung des Kosmos, die Ordnung, die im Wesen jeder Sache liegt, oder eine von Gott gesetzte Schöpfungsordnung. Dabei wurde in der christlichen Ethik im Zusammenhang mit dem Begriff der Natur auch die Frage nach der Herkunft des Bösen erörtert, das als eine Abweichung von der in sich vollkommenen Schöpfungsordnung aufgefasst werden konnte. Jeder dieser drei normativen Ansätze stellt eine Vernunftordnung dar, in dem Sinne, dass nicht die tatsächlich vorgefundene Natur maßgebend sei, sondern eine - nur der Vernunft zugängliche und in dieser begründete - Ordnung, die dem Faktischen zugrunde liegt.
 
Das Naturrecht hat für menschliche Satzung zweierlei Konsequenzen: Als natürlich begründet verleiht es ihr Legitimation, als den Naturnormen untergeordnet begrenzt es sie in ihrem Anspruch. Die moderne Naturrechtslehre hat, angefangen bei den Aufklärern S. von Pufendorf, C. Thomasius und C. Wolff, im 18. Jahrhundert zur Formulierung der Menschenrechte geführt. Diese konstituieren die prinzipielle Gleichheit aller Menschen und formulieren die ihnen »naturgemäß« zustehenden Rechte.
 
Der Gegensatz von Natur und Technik hat bei Aristoteles seine klassische Formulierung erfahren. Natur, sagt er, sei dasjenige, welches das Prinzip seiner Bewegung, also seiner Entwicklung wie auch seiner Reproduktion, in sich habe. Technisch sei dagegen dasjenige, dessen Bewegungsprinzip durch den Menschen gesetzt und das deshalb auch auf den Menschen für seine Produktion und Reproduktion angewiesen sei. Aus dieser Entgegensetzung leitet sich der Begriff »Natur der Sache« her, denn das Bewegungsprinzip der Naturdinge ist ja deren »Natur« oder Wesen; von hier aus kann dann auch von der »Natur« eines technischen Gegenstandes gesprochen werden. Der Entgegensetzung von Natur und Technik entspricht ferner der Unterschied von »naturgemäß« und »von der Natur abweichend«.
 
Die antike und mittelalterliche Technik verstand sich im Wesentlichen als eine Kunst, der Natur etwas abzulisten. Bis in die neueste Zeit gehen damit die einander entsprechenden Auffassungen von zivilisatorischem Fortschritt und menschliche Befreiung von der Natur einher. Es ist charakteristisch für dieses Verständnis von Technik, dass Maschinen in dem Bewusstsein verwendet werden, durch sie die Natur zum Nutzen des Menschen arbeiten zu lassen: »Die Natur beherrscht man nur, indem man ihr gehorcht« (F. Bacon). Das Verhältnis von Technik zu Natur wurde demgemäß bis in die Techniktheorien des 20. Jahrhunderts hinein als Verhältnis der Nachahmung aufgefasst. Ein hoher Grad an Zweckmäßigkeit und Sparsamkeit der Mittel in der Natur wurde als »Technik der Natur« bewundert, die menschliche Technik ihrerseits als Versuch gesehen, die Leistungen der Natur nachzuahmen, zu ersetzen oder zu erweitern (z. B. »Automatenleidenschaft« des 18. Jahrhunderts und der Romantik). Erst die moderne Technik hat sich vom strengen Vorbild der Natur gelöst (z. B. Entwicklung von Kunststoffen mit bestimmten Eigenschaften für gewünschte Zwecke). Allerdings nehmen wichtige technische Bereiche die Natur, v. a. biologische Strukturen und Funktionen, zum Vorbild (Bionik).
 
Auch das Verhältnis von Natur und Kunst wurde von der Antike bis ins 19. Jahrhundert als Nachahmungsverhältnis verstanden. Dabei wurde zwischen der Nachahmung der schönen Formen der Natur und der Nachahmung des Wirkens der Natur unterschieden. Ersteres bestand nicht unbedingt im Abbilden von Naturformen, sondern konnte durchaus Zusammenstellung und Konstruktion bedeuten oder sogar Übertreffen oder Vollenden dessen, was die Natur selbst in der Wirklichkeit nicht zur Vollkommenheit bringt. Die Nachahmung des Wirkens bezieht sich auf das künstlerische Schaffen: Der Künstler als Genie wirke selbst wie eine Naturkraft (F. W. J. Schelling). Beide Gedanken werden zusammengefasst in der Feststellung, dass das wahre Kunstwerk wie ein Werk der Natur sei: »Die Kunst kann nur schön genannt werden, wenn wir uns bewusst sind, sie sei Kunst, und sie uns doch als Natur aussieht« (I. Kant). Natur wird hierin als unbewusst schöpferische Kraft verstanden (Natura naturans). Diese ist in ihren Werken (Natura naturata) nur unvollkommen zu erfassen, sie wird jedoch im Schaffensprozess des Künstlers nachgeahmt. Erst die Kunst ist deshalb nach der romantischen Naturphilosophie die wahre Erkenntnis der Natur.
 
 Natur und Geist
 
Die Entgegensetzung von Natur und Geist hat ihre Wurzeln in der Antike, etwa bei Platon, der der rein physischen Konzeption des Kosmos bei Anaxagoras den Nus (»Vernunft«) entgegensetzte. Durch die Verbindung von Vernunft und Schöpfergott im Christentum wurde die Entgegensetzung verstärkt, weil Natur als (endliche) Schöpfung ganz und gar abhängig vom (unendlichen) göttlichen Geist gesehen wurde. In säkularer Form begegnet der Dualismus wieder bei Kant: Er stellt dem »Mundus sensibilis« (sinnliche Welt) den »Mundus intelligibilis« (geistige Welt) gegenüber. Natur ist die Welt bloßer Erscheinungen und als solche durchgängiger Kausalität unterworfen. Der Mensch dagegen ist, obgleich Naturwesen, als Angehöriger des Mundus intelligibilis frei. Die Romantik versuchte den Gegensatz zu versöhnen: Die Natur komme im menschlichen Geist zu sich selbst (Schelling). Entsprechend verstand sich romantische Naturwissenschaft als Aufsuchen des Geistes in der Natur (H. C. Ørsted). Ähnliche Gedanken finden sich im 20. Jahrhundert bei P. Teilhard de Chardin.
 
Trotz dieser Versöhnungsversuche setzte W. Dilthey die Wissenschaft vom Menschen als Geisteswissenschaft den Naturwissenschaften entgegen: In den Naturwissenschaften gehe es um kausale Erklärung, in den Geisteswissenschaften um das Verstehen von Sinn. Dieser Gegensatz verliert mit dem Einzug des Informationsbegriffs in die Naturwissenschaften zunehmend an Bedeutung. Von der molekularen »Datenverarbeitung« (Proteinsynthese durch Ablesen des Erbcodes) bis hin zu den Tiersprachen stellt sich die Natur heute nicht mehr nur als Wechselwirkungszusammenhang, sondern auch als Kommunikationszusammenhang dar. Die neuere Naturphilosophie versucht deshalb, Natur und menschlichen Bereich mit einem einheitlichen Konzept zu umfassen (I. Prigogine, E. Jantsch).
 
Der Antike (etwa Platon) ging es um die Erkenntnis der Natur als ewiger Ordnung, Goethe um die Grundtypen (Urphänomene) einer »Natur für uns« in ihrer sinnlichen Gegebenheit. Paradigmatisch für die neuzeitlichen Naturwissenschaften ist die Mechanik bei G. Galilei, die nicht mehr als eine Kunst verstanden wurde, Bewegungen gegen die Naturtendenz zu erzeugen, sondern vielmehr als Kunst, die Natur unter kontrollierten Bedingungen, durch das Experiment und die Abschirmung unerwünschter Umwelteinflüsse, manifest zu machen. Weitere Charakteristika der neuzeitlichen Naturwissenschaften sind der rekonstruktive Erkenntnisbegriff (etwas erkennen heißt, dessen Elemente herauszufinden und es aus diesen zu rekonstruieren) und die Objektivität (nicht was ein Subjekt irgendwie erfahren hat, gilt als Datum, sondern nur, was als Messergebnis an einem Instrument sichtbar geworden ist). Diese Charakteristika haben zu der Behauptung geführt, dass die Naturwissenschaften nicht wirklich von der Natur, von dem gegebenen konkreten Zusammenhang, handelten, sondern eher Technikwissenschaften seien. Abgesehen davon, dass die Naturwissenschaften immer auch durch Beobachtung Erkenntnis gewinnen (etwa in der Astronomie), wenden sie sich auch in heute besonders beachteten Disziplinen wie der Ökologie der gegebenen Natur zu. Damit deutet sich eine Einschränkung gegenüber dem bisher dominierenden Erkenntnisziel, der technischen Beherrschbarkeit der Natur, an, nämlich zugunsten einer Anerkennung gegebener Ordnungen und einer Einsicht in die Kontingenz der Welt.
 
Der neueren Wissenschaftstheorie zufolge liegt den Naturwissenschaften ein von historischen Bedingungen abhängiges Erkenntnismodell (Paradigma) zugrunde, das durch andere Voraussetzungen und Erkenntnismodelle abgelöst werden kann. Die Frage »Was ist Natur?« ist somit nicht eigentlich Gegenstand der Naturwissenschaften, sondern vielmehr der Naturphilosophie.
 
Noch im 18. Jahrhundert wurde gegen die Naturwissenschaften vorgebracht, der menschliche Geist könne nur einsehen, was er selbst geschaffen habe (G. Vico). Auf diesen Gedanken gründete sich die Geschichtswissenschaft als Wissenschaft von dem, was der Mensch hervorgebracht hat. Umgekehrt wurden die Naturwissenschaften als Erkenntnis von etwas wesentlich Ungeschichtlichem, nämlich den Naturgesetzen, angesehen. Der Unterschied zwischen Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften konnte deshalb von W. Windelband als der zwischen nomothetischer (verallgemeinernder) und idiographischer (individualisierender) Vorgehensweise bestimmt werden. Faktisch aber haben die Naturwissenschaften seit den Theorien von Kant und von P. S. de Laplace über die Entstehung des Planetensystems angefangen, auch die Natur geschichtlich zu sehen. Weitere Schritte auf diesem Weg waren die Einführung des Entropiebegriffs in die Thermodynamik und die Erkenntnis der Irreversibilität der meisten Naturprozesse, die darwinsche Theorie der Evolution, die moderne Kosmologie seit A. Einstein und schließlich die Theorie der Selbstorganisation des Universums. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen stellt sich heute die Natur als ein evolutionärer Prozess dar, der sich unter Bildung von Stabilitätsformen in Richtung zunehmender Entropie entwickelt. Die Stabilitätsformen bilden ein System emergenter Schichten: Von einfachsten stabilen Teilchen (den Elementarteilchen) bis zu den Sternsystemen einerseits und lebenden Organismen andererseits bilden sich relativ stabile Formen höherer Komplexität, die in ihrem Verhalten nicht als Summe ihrer Bestandteile zu begreifen sind. Die Natur kann ferner durch Symmetrie und Symmetriebrechung charakterisiert werden: Von einem Zustand höchster Symmetrie, nämlich vollständiger Homogenität und Isotropie, entwickelt sie sich durch Symmetriebrechungen, d. h. durch Ausschluss von Möglichkeiten, zu bestimmteren Formen, die durch jeweils neue Symmetrien gekennzeichnet sind. Diese Entwicklung lässt sich kosmologisch durch Epochen unterschiedlicher Temperatur und Energiedichten beschreiben. Die Natur ist ferner durch den Gegensatz von Gesetz und Chaos zu charakterisieren: Naturgesetze beherrschen das Naturgeschehen in jedem einzelnen Schritt, obwohl dieses wegen der großen Komplexität des Gesamtgeschehens und der Unschärfe der jeweiligen Randbedingungen im Ganzen »chaotisch« ist. Die Natur ist schließlich im Wesentlichen Materie, Energie und genetische Information. Dabei gilt für Materie und Energie (im Gegensatz zur Information) ein Erhaltungssatz.
 
 Natur und Umwelt
 
Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist die Gefährdung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen durch übermäßige Nutzung der Ressourcen der Erde und durch Umweltverschmutzung zunehmend zu einem öffentlichen Thema geworden. Diese Probleme sind letztlich Folgen einer ausschließlich quantitativen Betrachtungsweise der Natur, die diese lediglich als Quelle expansiven Wachstums und Wohlstands ansieht. Als Reaktion darauf hat sich die schon im 19. Jahrhundert begründete Ökologie zu einer grundsätzlichen Betrachtungsweise der Natur entfaltet, nach der die Natur als eine Vielzahl von Ökosystemen, d. h. vielfältig in sich gegliederten, sich selbst regulierenden Ganzheiten anzusehen ist, vielleicht sogar im Ganzen eine Art Lebewesen darstellt (Gaia-Hypothese). Dabei muss aber berücksichtigt werden, dass Natur in diesem Sinne den Menschen und seine Lebenspraxis einschließt und daher nur als sozial konstituierte Natur verstanden werden kann. Es setzt sich langsam die Einsicht der Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung durch, die die Lebenssituation der heutigen Generation verbessert (Entwicklung) und gleichzeitig die Lebenschancen künftiger Generationen nicht gefährdet (Erhalt der Umwelt). Dieser Ansatz fordert zwingend die Suche nach einer normativen Basis für menschliches Verhalten gegenüber der Natur (ökologische Ethik), die Auseinandersetzung mit philosophisch-ethischen Fragen - nicht nur im Rahmen naturwissenschaftlich-technischer Diziplinen, sondern auch im wirtschaftlichen und politischen Kontext - sowie im alltäglichen Leben die Berücksichtigung von Bedingungen und Rechten der Natur (ökologisches Denken). Dabei gewinnt gegenüber der bisher vorherrschenden Frage nach technischen Mitteln die Frage menschlicher Zielorientierung in und mit der Natur größeren Raum.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Akzeptanz · Alternativkultur · Arbeit · Bioethik · Erfahrung · Ethik · Evolution · Kosmologie · Kultur · Leben · Materie · nachhaltige Entwicklung · Naturdarstellung · Naturgesetz · Naturphilosophie · Naturrecht · Naturschutz · Naturwissenschaften · New Age · Ökologie · Rohstoffe · Schöpfung · Technikfolgenabschätzung · Umwelt · Umweltökonomie · Weltall
 
Literatur:
 
C. F. von Weizsäcker: Die Gesch. der N. (81979);
 C. F. von Weizsäcker: Die Einheit der N. (Neuausg. 1995);
 
Das N.-Bild des Menschen, hg. v. J. Zimmermann (1982);
 
N. als Gegenwelt, hg. v. G. Grossklaus u. a. (1983);
 J. E. Lovelock: Unsere Erde wird überleben. Gaia - eine optimist. Ökologie (Neuausg. 1984);
 
Klassiker der N.-Philosophie, hg. v. G. Böhme (1989);
 
Nature in Asian traditions of thought, hg. v. J. B. Callicott u. a. (Albany, N. Y., 1989);
 
Vom Wandel des neuzeitl. N.-Begriffs, hg. v. H.-D. Weber u. a. (1989);
 
Geist u. N. Über den Widerspruch zw. naturwiss. Erkenntnis u. philosoph. Welterfahrung, hg. v. H.-P. Dürr u. a. (Bern 31990);
 
Über N. Philosoph. Beitrr. zum N.-Verständnis, hg. v. O. Schwemmer (21991);
 E. Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums (Neuausg. 1992);
 
N. als Gegenstand der Wiss.en, hg. v. L. Honnefelder (1992);
 I. Prigogine u. I. Stengers: Dialog mit der N. (Neuausg. 21993);
 
N. in der Krise. Philosoph. Essays zur Naturtheorie u. Bioethik, hg. v. R. Löw u. R. Schenk (1994);
 
Culture within nature, hg. v. B. u. B. Sitter-Liver (Basel 1995);
 K. Gloy: Das Verständnis der N., 2 Bde. (1995-96).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Mensch versus Natur
 
Mensch: Der Naturzusammenhang des menschlichen Lebens
 

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Na|tur, die; -, -en [mhd. natūre, ahd. natūra < lat. natura = Geburt; natürliche Beschaffenheit; Schöpfung, zu: natum, 2. Part. von: nasci = geboren werden, entstehen]: 1. <o. Pl.> alles, was an organischen u. anorganischen Erscheinungen ohne Zutun des Menschen existiert od. sich entwickelt: die unbelebte N.; die N. erforschen, beobachten; die Gesetze, Wunder der N.; Wir sollten ... erfahren, ... dass alle Erfindungen des Menschen in der N. schon vorgebildet sind (Menzel, Herren 51); Ü die N. hat sie stiefmütterlich behandelt, bedacht (sie hat ein Gebrechen, ist hässlich); im Buch der N. lesen, blättern (geh.; die Natur studieren, beobachten). 2. <o. Pl.> [Gesamtheit der] Pflanzen, Tiere, Gewässer u. Gesteine als Teil der Erdoberfläche od. eines bestimmten Gebietes [das nicht od. nur wenig von Menschen besiedelt od. umgestaltet ist]: die unberührte, unverfälschte, blühende, liebliche, erwachende, wilde N.; durch die Industrieanlagen wurde die N. verunstaltet, verschandelt; ein Stück einsame N. suchen; in die freie N. (ins Freie) hinauswandern; diese Pflanzen gedeihen nur in freier N. (wild wachsend, lebend); antike Tempel werden in die N. (Landschaft) gestellt (Bild. Kunst III, 29); [etw.] nach der N. (nach einem realen Vorbild) zeichnen; zurück zur N.! (zu einer natürlichen Lebensform!; frz. retour à la nature, geprägt nach Sinn u. Tendenz der Werke des frz. Moralphilosophen J. J. Rousseau, 1712-1778). 3. a) <Pl. selten> geistige, seelische, körperliche od. biologische Eigentümlichkeit, Eigenart von [bestimmten] Menschen od. Tieren, die ihr spontanes Verhalten o. Ä. entscheidend prägt: die männliche, tierische N.; Mein Vetter und sein Vater verstanden einander nicht, ihre -en (Charaktere) waren zu verschieden (Hauptmann, Schuß 69); denn der Verrat ist nicht so sehr seine Absicht, seine Taktik, als seine ureigenste N. (St. Zweig, Fouché 188); sie hat eine gesunde, kräftige, eiserne (ugs.; sehr stabile) N. (Konstitution); er hat eine gutmütige, kindliche, gesellige N. (Wesensart); er kann seine N. nicht verleugnen (er kann sich nicht verstellen); Nachgeben widerspricht ihrer N. (ihrem Wesen); er war seiner ganzen N. nach recht unternehmungslustig; das liegt nicht in seiner N. (entspricht nicht seiner Art); sein Verhalten ist wider die N. (verstößt gegen die ungeschriebenen Gesetze menschlichen Verhaltens, Empfindens o. Ä.); R die N. verlangt ihr Recht (ich muss einem Bedürfnis nachgeben, einen Trieb befriedigen); sie ist von N. aus blond (ihre natürliche Haarfarbe ist blond); er ist von N. [aus/her] (seinem Wesen nach) ein gutmütiger Mensch; *jmdm. gegen/wider die N. gehen/sein (jmdm. sehr widerstreben); jmdm. zur zweiten N. werden (jmdm. selbstverständlich, zur festen Gewohnheit werden); b) Mensch im Hinblick auf eine bestimmte, typische Eigenschaft, Eigenart: er ist eine ernste, schöpferische, kämpferische N.; sie sind einander widersprechende -en. 4. <o. Pl.> (einer Sache o. Ä.) eigentümliche Beschaffenheit: Fragen, Beschlüsse [von] allgemeiner, grundsätzlicher N.; ihre Verletzungen waren nur leichter N. (Art); *in der N. von etw. liegen (untrennbar zur besonderen Beschaffenheit, zum Wesen von etw. gehören): das liegt in der N. der Sache. 5. <o. Pl.> natürliche, ursprüngliche Beschaffenheit, natürlicher Zustand von etw.: ein Schlafzimmer in Birke N. (Schlafzimmermöbel in naturfarbenem Birkenholz); in Hell N., in Matt N. (in hellem, mattem naturfarbenem Material); *N. sein (echt, nicht künstlich sein): mein Haar, das Leder ist N. 6. (landsch. veraltend verhüll.) a) (weibliches od. männliches) Geschlechtsteil; b) <o. Pl.> Sperma.

Universal-Lexikon. 2012.