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Geschichtswissenschaft
Ge|schịchts|wis|sen|schaft 〈f. 20; unz.〉 Wissenschaft von der Geschichte

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Ge|schịchts|wis|sen|schaft, die:
Wissenschaft von der Geschichte (1) u. ihrer Erforschung; Historie.

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Geschichtswissenschaft,
 
die methodische Erforschung der Vergangenheit, der Geschichte des Menschen, auf der Grundlage der kritisch gesicherten Überlieferung (»Quellen«). Die Geschichtswissenschaft hat die Aufgabe, alle bezeugten historischen Tatbestände möglichst genau und vollständig festzustellen sowie ihre Zusammenhänge, Bedingtheiten und Wirkungen verständlich zu machen. Sie schafft damit die Voraussetzung für eine wissenschaftlich begründete Geschichtsschreibung. Ideologiekritisch in ihrem methodischen Ansatz, sucht sie die Wurzeln der Gegenwart freizulegen und deren geschichtliche Struktur erkennbar zu machen. Ihrem Wesen nach kann die Geschichtswissenschaft dem politisch Handelnden keine Anweisungen bereitstellen, aber die Bedingungen erhellen, unter denen sich politisches Handeln vollzieht.
 
Gliederung:
 
Obwohl die in Europa klassische Periodisierung der Geschichte von der internationalen Geschichtswissenschaft schon seit längerem infrage gestellt worden ist und die Diskussion über eine neue historische Gliederung aus interkultureller Sicht in Gang kam, die auch der außereuropäischer Entwicklung gerecht werden und diese adäquater widerspiegeln soll, hielt sich in der Praxis der historischen Forschung und Lehre in Deutschland und anderen europäischen Ländern die herkömmliche Einteilung in Altertum, Mittelalter, Neuzeit (auch als Alte, Mittlere und Neuere Geschichte bezeichnet); innerhalb der Letzteren wird noch zwischen Neuester Geschichte (seit der Französischen Revolution beziehungsweise der Industrialisierung) und Zeitgeschichte unterschieden. Hinzu kommen die Vorgeschichte, deren Erforschung die prähistorische Archäologie dient, und die Frühgeschichte. Die Alte Geschichte steht in engster Verbindung mit der klassischen Philologie, der Orientalistik und der Archäologie. Die Erforschung des Mittelalters (Mediävistik) ist vornehmlich auf handschriftliche Überlieferung angewiesen. Die Neuere Geschichte setzt mit dem Buchdruck und dem Anschwellen der Staatsakten ein; für die Beschäftigung mit der Zeitgeschichte steht ein deutlich erweiterter Bereich an Quellen zur Verfügung. Die Mittel zur kritischen Erforschung der Quellen stellen die historischen Hilfswissenschaften bereit.
 
In ihrer Entwicklung ist die Geschichtswissenschaft heute in fortschreitender Spezialisierung begriffen. Neben der Geschichte im umfassenden politischen Sinne werden Rechts- und Verfassungsgeschichte, Kirchen- und Religionsgeschichte, Kultur- und Geistesgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Landes- und Stadtgeschichte als eigenständige wissenschaftliche Einheiten betrachtet.
 
Methode und Entwicklung:
 
Im Gegensatz zur Geschichtsschreibung, die seit Beginn der Schriftlichkeit besteht, ist die Geschichtswissenschaft ein Phänomen der letzten zwei oder drei Jahrhunderte. Allerdings hat es in der abendländischen Tradition schon früh in der griechischen Antike (z. B. Thukydides) und auch in der chinesischen Antike (z. B. Sima Qian) ein Bewusstsein gegeben, dass die Geschichtsschreibung, der es um eine wahrheitsgetreue Rekonstruierung der Vergangenheit geht, sich von einer fiktionalisierten Rekonstruierung dieser Vergangenheit, wie sie in der Dichtung, im Drama und später im Roman vorkommt, unterscheidet. Aber zu einer Forschung, die sich auf die systematische Kritik der Quellen stützt, kam es erst später. Ansätze dazu finden sich in der chinesischen Geschichtsschreibung der Songdynastie (10.-13. Jahrhundert) und etwas später im europäischen Humanismus. Im 17. Jahrhundert setzte die planmäßige Untersuchung mittelalterlicher Urkunden (J. Mabillon), nach 1800 die der altrömischen Überlieferung (B. Niebuhr), der diplomatischen Akten der frühen Neuzeit (L. von Ranke) und der mittelalterlichen Geschichtsschreibung (Monumenta Germaniae Historica) ein. Ein entscheidender Einschnitt ereignete sich mit der Herausbildung der Geschichte im 19. Jahrhundert als einer Fachdisziplin. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts. wurden die Universitäten Zentren der professionalisierten historischen Forschung. Die Geschichtsschreibung entwickelte sich zunehmend zur Geschichtswissenschaft und diese wurde zum akademischen Beruf. Die Geschichtswissenschaft wurde zu einer »disziplinären Matrix« (Jörn Rüsen). Die systematische Ausbildung von Berufshistorikern fand im Rahmen von historischen Seminaren statt. In den Mittelpunkt der Forschung rückte die textkritische Beschäftigung mit den Quellen. Bevorzugt wurden politische Themen, für die die neu eröffneten Archive zur Verfügung standen. Obwohl die neue Geschichtswissenschaft in Deutschland und - dem deutschen Vorbild folgend - in Frankreich, den USA, Japan und anderswo den Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität erhob, verfolgte sie im 19. Jahrhundert zunehmend politische Ziele. Die Entstehung der Geschichtswissenschaft war eng mit den nationalistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts. verbunden.
 
Das 19. Jahrhundert war die klassische Zeit der Geschichtswissenschaft, besonders in Deutschland. Aus früheren Ansätzen hat sich der Historismus herausgebildet. Kernstück seiner Methode ist der Begriff des Verstehens. Gegen seine Verabsolutierung und gegen seine Verwendung schlechthin hat sich im 20. Jahrhundert unter dem Einfluss der Sozialwissenschaften v. a. die »Strukturgeschichtsschreibung« gewandt. Obwohl auch der Historismus schon mit dem Typus- oder Strukturbegriff gearbeitet hat, wurde dieser Begriff besonders durch die französische Historikerschule um die Zeitschrift Annales (besonders M. Bloch, L. Febvre, F. Braudel, G. Duby) als Gegenbegriff zum »Ereignis« und zur »Ereignisgeschichte« verbreitet. Nicht mehr die Erforschung der rasch sich ablösenden Ereignisse wurde dabei in den Vordergrund gerückt, sondern die Geschichte der nur allmählich über größere Zeiträume hinweg sich wandelnden sozialen und ökonomischen Strukturen. Ohne die traditionellen Orientierungen zu verdrängen, gerieten in der Geschichtswissenschaft ausgeprägt sozialgeschichtliche Fragestellungen ins Blickfeld; dabei fand die Mentalitätsgeschichte einen festen Platz. Bei der Erforschung der Alltagsgeschichte (»Geschichte von unten«, Alltag), die in enger Verbindung mit der Historischen Anthropologie erfolgt, zeigen sich auch in der Geschichtswissenschaft Tendenzen, die auf den Menschen und sein »erlebtes« und »erlittenes« Schicksal unmittelbar bezogenen Ereignisse zum Gegenstand der Forschung zu machen. Die quellenkrittische Methode (historische Methode) wird seit dem 19. Jahrhundert zunehmend auch auf die nichtschriftliche Überlieferung (z. B. Ortsnamen, Bodenfunde, Münzen, Siegel, Herrschaftszeichen) sowie auf die spezifischen Hilfsmittel der Zeitgeschichte (z. B. Tondokumente, Film, Zeugenbefragung) angewendet.
 
Die durch Methodenpluralismus gekennzeichnete moderne Geschichtswissenschaft ist zunehmend darauf gerichtet, das historische Geschehen in all seiner Komplexität und Vielschichtigkeit zu erfassen, u. a. durch das Erschließen neuer oder bisher weniger beachteter Quellen (z. B. Oral History) und Themen (u. a. Geschichte der Frauen, der Umwelt). Während in ihrer Frühphase im 19. Jahrhundert die Geschichtswissenschaft enge Verbindungen zur Philologie hatte und die Sozial- und Strukturgeschichte in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Anregungen von der Soziologie, der Ökonomie und der historischen Demographie aufnahm, spielen in der neuen Kulturgeschichte des späten 20. Jahrhunderts Anthropologie, Linguistik und Semiotik eine wichtige Rolle.
 
Die Geschichtswissenschaft der sozialistischen Staaten war in starkem, aber doch sehr unterschiedlichem Maße, am wenigsten in Polen und Ungarn, von Vorgaben der machtausübenden kommunistischen Parteien geprägt, die sich teilweise über eigene Parteieinrichtungen mit den ihnen aus politisch-ideologischen Gründen besonders wichtigen, v. a. zeitgeschichtlichen Themen selbst befassten. Die Geschichtswissenschaft konzentrierte sich besonders auf die Formationstheorie von Marx (»Urgeschichte«, »Feudalismus«, »Kapitalismus«/»Imperialismus« und »Sozialismus«), die Geschichte und Entwicklung der »Klassen« und der zwischen ihnen stattfindenden »Klassenkämpfe« (Schwerpunkt Geschichte der Arbeiterbewegung). Ziel einer marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft war die Ausarbeitung eines einheitlichen, teleologischen Geschichtsbildes, das in der Darstellung des sozialistischen Staates seine eigentliche Vollendung erfahren sollte. Trotz Instrumentalisierung der Geschichtswissenschaft fand an universitären und sonstigen geschichtswissenschaftlichen Einrichtungen auch gegenstandsabhängige, seriöse Forschung statt, die sich der internationalen Diskussion stellte. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Ordnung in den mittel- und osteuropäischen Staaten begann eine Neuorientierung der dortigen Geschichtswissenschaften, die mit der allmählichen Aufarbeitung und Neubewertung ihres vorherigen Wirkens einhergeht.
 
Auch in den westeuropäischen Staaten spielten in der Geschichtswissenschaft marxistischer Forschungsansätze weiterhin eine gewisse Rolle. In der Tradition marxistischer Geschichtsschreibung stehend, sich aber von deren dogmatischem Charakter trennend, räumten Vertreter dieser Richtung (u. a. E. P. Thompson, E. Hobsbawm) nun kulturellen Apekten einen zentralen Platz in der historischen Analyse ein, wobei der Zusammenhang zwischen Kultur und Ökonomie betont und die kritische Untersuchung sozialer Herrschaft beibehalten wurden.
 
Organisatorisches:
 
Zur Herausgabe der Quellen des deutschen Mittelalters in den »Monumenta Germaniae Historica« gründete H. F. K. Reichsfreiherr vom und zum Stein 1819 die »Gesellschaft für Deutschlands ältere Geschichtskunde«, die sich im »Deutschen Institut für Erforschung des Mittelalters« (seit 1948, München) fortsetzt. Für ähnliche Aufgaben entstanden in Paris 1821 die »École des Chartes«, in Wien 1854 das »Institut für österreichische Geschichtsforschung«, in London 1830 die »Record Commission«, 1857 die »Rolls Commission«, in Rom 1883 das »Istituto storico Italiano«, in München 1858 die »Historische Kommission« (vornehmlich für Neuere Geschichte), daneben zahlreiche landesgeschichtliche Kommissionen, Altertumsvereine und historische Vereine. Seit der Öffnung des Vatikanischen Archivs 1878 wurden in Rom historische Institute verschiedener Staaten errichtet. Dem Internationalen Historikerverband (Comité International des Sciences Historiques), der alle fünf Jahre Kongresse veranstaltet und seit 1926 eine »Internationale Bibliographie der Geschichtswissenschaft« publiziert, gehört als nationale Sektion der »Verband der Historiker Deutschlands« (1895 als »Verband deutscher Historiker« gegründet) an, der den im Zweijahresabstand stattfindenden »Historikertag« veranstaltet.
 
Die entsprechenden Vereinigungen in Österreich und der Schweiz sind der Verband österreichischer Geschichtsvereine (gegründet 1949) und die Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz (gegründet 1841).
 
Literatur:
 
Einführungen: J. Burckhardt: Weltgeschichtl. Betrachtungen (1905, Neuausg. 1978);
 T. Schieder: Gesch. als Wiss. (21968);
 H.-I. Marrou: Über die histor. Erkenntnis (a. d. Frz., 1973);
 
G. in Dtl., hg. v. B. Faulenbach (1974);
 J. G. Droysen: Historik (81977);
 
International handbook of historical studies, hg. v. G. G. Iggers u. H. T. Parker (1979);
 P. Borowsky u. a.: Einf. in die G., 2 Bde. (2-51980-89);
 K.-G. Faber: Theorie der Gesch. (51982);
 J. Meran: Theorien in der G. (1985);
 
Einf. in das Studium der Gesch., hg. v. W. Eckermann u. a. (Berlin-Ost 41986);
 W. Heil: Das Problem der Erklärung in der G. Ein Beitr. zum Selbstverständnis u. zur Objektivität d. G. (1988);
 
Menschen, Dinge u. Umwelt in der Gesch. Neue Fragen der G. an die Vergangenheit, hg. v. U. Dirlmeier u. G. Fouquet (1989);
 U. Muhlack: G. im Humanismus u. in der Aufklärung. Die Vorgesch. des Historismus (1991);
 H. Quirin: Einf. in das Studium der mittelalterl. Gesch. (51991);
 E. Opgenoorth: Einf. in das Studium der neueren Gesch. (Neuausg. 41993);
 
Die Rückeroberung des histor. Denkens. Grundlagen der Neuen G., hg. v. J. LeGoff (a. d. Frz., Neuausg. 1994);
 
Sozialgesch., Alltagsgesch., Mikro-Historie. Eine Diskussion, hg. v. Winfried Schulze (1994);
 
Griech. Antike u. dt. G. in biograph. u. bibliograph. Daten. Von der Frz. Revolution 1789 bis zum 2. Dt. Kaiserreich 1871, hg. v. C. Ulf (1995);
 V. Sellin: Einf. in die G. (1995);
 A. von Brandt: Werkzeug des Historikers (141996);
 G. G. Iggers: G. im 20. Jh. Ein krit. Überblick im internat. Zusammenhang (21996);
 C. Simon: Historiographiegesch. (1996).
 
Nachschlagewerke und Handbücher: Peuples et civilisations, hg. v. L. Halphen u. a., auf zahlr. Bde. ber. (Paris 1926 ff.);
 
Historia mundi, hg. v. F. Valjavec u. a., 10 Bde. (1952-61);
 
Saeculum Weltgesch., hg. v. H. Franke u. a., 7 Bde. (1965-75);
 
Nouvelle Clio. L'histoire et ses problèmes, hg. v. R. Boutruche u. a., auf zahlr. Bde. ber. (Paris 1966 ff.);
 
The Cambridge medieval history, hg. v. H. M. Gwatkin, 9 Bde. (Neuausg. Cambridge 1967-76);
 
Hb. der europ. Gesch., hg. v. T. Schieder, 7 Bde. in 8 Tln. (1-41968-96);
 
dtv-Weltgesch. des 20. Jh., hg. v. M. Broszat u. a., 14 Bde. (1-221970-96);
 
The new Cambridge modern history, 14 Bde. (Neudr. Cambridge 1971-94);
 
Geschichtl. Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner u. a. 7 Bde. (1972-92, tlw. Nachdr.);
 
Dt. Gesch., hg. v. W. Hubatsch, 20 Bde. (1-61972-81);
 
Lex. der dt. Gesch., hg. v. G. Taddey (21983);
 
Hb. der dt. Gesch., begr. v. B. Gebhardt, hg. v. H. Grundmann, 22 Bde. (Neuausg. 6-151986-96);
 
Der große Ploetz. Auszug aus der Gesch., begr. v. K. J. Ploetz (311991);
 
Propyläen-Weltgesch., hg. v. G. Mann u. a., 10 Bde. (Neuausg. 1991);
 
Propyläen-Gesch. Europas, 6 Bde. u. 2 Erg.-Bde. (Neuausg. 1992-94);
 
Gesch. Lex. der wiss. Grundbegriffe bearb. v. M. Asendorf u. a. (1994);
 
Das Fischer-Lex. Gesch., hg. v. R. van Dülmen (13.-14. Tsd. 1995).
 
Bibliographien: Jahresberichte für Dt. Gesch., Jg. 1-16 (1927-42, N. F. Berlin-Ost 1952 ff.); International bibliography of historical sciences (Paris 1930 ff.);
 
Quellenkunde der dt. Gesch., begr. v. F. C. Dahlmann u. G. Waitz, neu hg. v. H. Heimpel u. a., auf 7 Bde. ber. (101965 ff.);
 W. Baumgart: Bücherverz. zur dt. Gesch. (61983).
 
Zeitschriften: Histor. Ztschr. (1859 ff.); Revue historique (Paris 1876 ff.); Mitt. des Inst. für österr. Geschichtsforschung (Wien 1880 ff.); Rivista storica italiana (Turin 1884 ff.); American Historical Review (Washington 1895 ff.); The English historical review (London 1886 ff.); Annales. Histoire, sciences sociales (Paris 1929, 1946-93 u. d. T. Annales. Économies, sociétés, civilisations); Voprosy istorii (Moskau 1945 ff.); Schweizer. Ztschr. für Gesch. (Zürich 1951 ff.); Past and Present (Oxford 1952 ff.); Ztschr. für G. (1953 ff.); Quaderni storici (Bologna (1970 ff.; früher u. a. T.); Geschichte u. Gesellschaft (1975 ff.).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Geschichte: Was ist Geschichte?
 

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Ge|schịchts|wis|sen|schaft, die: Wissenschaft von der ↑Geschichte (1) u. ihrer Erforschung, Historie.

Universal-Lexikon. 2012.