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Diderot
Diderot
 
[didə'ro, französisch di'dro], Denis, französischer Schriftsteller, Philosoph, Enzyklopädist, Literatur- und Kunsttheoretiker, * Langres (Département Haute-Marne) 5. 10. 1713, ✝ Paris 31. 7. 1784; Sohn eines Messerschmieds, wurde 1723-28 bei Jesuiten in Langres erzogen und betrieb anschließend in Paris humanistische und juristische Studien, beschäftigte sich im Wesentlichen mit Sprachen und Literatur, Philosophie und Mathematik. Seinen Lebensunterhalt bestritt er zunächst mit Übersetzungen (darunter der »Inquiry concerning virtue or merit« von Shaftesbury). Seit 1746 war er mit dem Projekt der »Encyclopédie« (Enzyklopädie) befasst, die aus einem Auftrag, die »Cyclopaedia, or An universal dictionary of the arts and sciences« von E. Chambers (1728) für einen französischen Leserkreis umzuarbeiten, als ein zunehmend eigenständiges Werk hervorging. Diderot wurde zum Mitherausgeber (mit J. Le Rond d'Alembert), seit 1758 zum alleinigen Herausgeber dieses Lexikons (1751-80, 35 Bände), das eine wichtige Rolle in der Geschichte der französischen Aufklärung spielte. Neben dieser Arbeit entfaltete Diderot eine rege Aktivität als philosophischer Schriftsteller sowie als Bühnen- und Romanautor, wobei Studien zur Literaturtheorie das poetische Werk im engeren Sinn begleiteten; seit 1759 trat er auch als Kunstkritiker hervor. Mehrere seiner Werke erschienen - bedingt durch ihre undogmatische Grundtendenz - erst nach seinem Tod. Seit 1763 stand er mit der russischen Zarin Katharina II. in brieflicher Verbindung; sie unterstützte ihn durch den Ankauf seiner Bibliothek, beließ ihm jedoch die Nutzungsrechte auf Lebenszeit und setzte ihm ein Jahresgehalt als Bibliothekar aus. 1773 reiste er (für einige Monate) nach Petersburg und versuchte, mit dem »Plan d' une université pour le gouvernement de la Russie« (herausgegeben 1813-14), das russische Erziehungssystem zu reformieren und die Gedanken der französischen Aufklärung auch in Russland zu verbreiten. In seinem Spätwerk wandte er sich auch politischen Fragen zu, so in den vorrevolutionären »Pages contre un tyran« (1771) und dem »Essai sur les règnes de Claude et de Néron« (1778). Seine umfangreiche Korrespondenz (in der die Briefe an die mit ihm seit 1756 befreundete Louise-Henriette [genannt Sophie] Volland, * 1716, ✝ 1784, eine wichtige Rolle spielen) spiegelt seine Persönlichkeit, seine Ideen und die geistigen Auseinandersetzungen der Zeit.
 
Encyclopédie:
 
Diderot oblag die Betreuung des gesamten Unternehmens: Er fungierte zugleich als Herausgeber (Zusammenstellung der Mitarbeiter und Koordination aller Beiträge insgesamt; Enzyklopädisten), als Organisator (er überwachte auch die Herstellung der Abbildungen in den Tafelbänden) und als Autor (er verfasste zahlreiche, zum Teil programmatische Artikel selbst). Auf ihn geht wesentlich die Veränderung der Grundintention des Werkes im Sinne eines Organs der Aufklärung zurück. Der Stand menschlichen Wissens sollte nicht nur lexikalisch zusammengefasst, sondern kritisch aufgearbeitet werden; dabei waren Grundlagen und Anwendungsbereiche von Wissenschaft, Technik und Handwerk in ihrer gegenseitigen Verkettung (»enchaînement des connaissances«) darzustellen. Zugrunde lag die Überzeugung, das menschliche Denken verändern und es (gegen Irrlehren, Vorurteile, Unterdrückung und Fanatismus) seiner Selbstbestimmung - und damit den Menschen einer besseren und glücklicheren Zukunft - zuführen zu können. Maßgebend hierfür war die aufklärerische Idee vom Fortschritt der Wissenschaften und - durch deren allgemeine Verbreitung - des menschlichen Geistes überhaupt. Diderots Eigenbeiträge waren besonders der Philosophie, Ästhetik, Moral, Literatur, Grammatik und Geschichte sowie dem Handwerk und der Technik gewidmet. Die kritische Grundtendenz der »Encyclopédie« forderte den Widerstand seitens des Staates und der Kirche (römische Kurie, Jesuiten, Jansenisten) heraus; trotz zeitweiliger Verbote und trotz zum Teil abschwächender Eingriffe des Verlegers betreute Diderot das Unternehmen, bis das Grundwerk mit den Tafelbänden abgeschlossen war (1772), und lehnte auch Angebote ab, das Werk im Ausland erscheinen zu lassen.
 
Philosophische Schriften:
 
Diderot hat in seinen Werken kein philosophisches System niedergelegt und keine dogmatischen Standpunkte vertreten. Charakteristisch ist vielmehr eine geistige Experimentierhaltung, die - oft in der offenen Form des Dialoges - beim Prozess der Wahrheitsfindung nicht zu einer Synthese von Positionen führt. Sein Denken wurde vom Deismus und Empirismus der englischen Philosophie (Shaftesbury; F. Bacon, J. Locke), vom Skeptizismus P. Bayles sowie von materialistischen und atheistischen Positionen (P. von Holbach u. a.) beeinflusst. Die erkenntnistheoretische Haltung zeigt deutlich den Einfluss des Empirismus; als Ursprung der Erkenntnis gelten Diderot nicht die angeborenen Ideen, sondern die Sinneswahrnehmungen. In der »Lettre sur les aveugles à l'usage de ceux qui voient« (1749) leitet er von den unterschiedlichen Sinneseindrücken Blinder und Sehender auch je verschiedenartige Vorstellungen von Moral und Metaphysik ab (das Werk brachte ihm eine Haftstrafe ein). Die deistischen Gottesvorstellungen der (gegen B. Pascal gerichteten) »Pensées philosophiques« (1746), die jedoch einen im Widerspruch zur Vernunft stehenden Glauben aus skeptizistischer Haltung bereits als Aberglauben einstufen, sind hier atheistischen Positionen gewichen. Diderots Naturphilosophie liegt ein monistischer Materialismus zugrunde (»Pensées sur l'interprétation de la nature«, 1754, deutsch »Gedanken zur Interpretation der Natur«; »Le rêve de d'Alembert«, 1769, deutsch »Der Traum d'Alemberts«; »L'entretien entre d'Alembert et Diderot«, 1769; »Suite de l'entretien. ..«, 1769). Alle Formen des Lebens werden aus einer einzigen materiellen, jedoch sensiblen Substanz abgeleitet. Trotz des Festhaltens an einer Sonderstellung des mit Vernunft begabten Menschen innerhalb des Kosmos ist damit eine deterministische Einstellung und eine Ablehnung der menschlichen Willensfreiheit gegeben. Wie seinen naturphilosophischen Ansätzen liegt Diderots ästhetischen Anschauungen die Vorstellung eines geordneten Ganzen zugrunde: Schön ist alles, was im Verstand die Idee von Beziehungen (»rapports«) innerhalb einer als Einheit begriffenen Mannigfaltigkeit zu wecken vermag (so auch im Artikel »Beau« der »Encyclopédie«). Von diesen Gedanken sind auch seine kunsttheoretischen Konzeptionen (u. a. im »Essai sur la peinture«, 1765, sowie im Rahmen der »Salons«, zwischen 1759 und 1781) geleitet, mit denen er die literarische Kunstkritik in Frankreich begründete. Fragen der Kultur-(besonders Zivilisations-)Kritik wandte er sich im »Supplément au voyage de Bougainville. ..« (herausgegeben 1796; deutsch »Nachtrag zu Bougainvilles Reise. ..«) zu.
 
Literaturtheoretische und literarische Schriften:
 
Diderots durch gesellschaftlich-emanzipatorische Absichten motivierte Kritik am klassischen französischen Drama (»De la poésie dramatique«, 1759, u. a.) vertiefte die theoretische Grundlegung des bürgerlichen Trauerspiels (»drame bourgeois«). Es sollte den Ernst der Tragödie mit dem Realitätscharakter der Komödie verbinden, den Bürger, seine sittlichen Grundsätze und Konflikte zum darstellungswürdigen Gegenstand auch des ernsten Schauspiels erheben. Damit wirkte er maßgebend auf G. E. Lessings »Hamburgische Dramaturgie« und sein dramatisches Schaffen. Diderots eigene dramatischen Versuche konnten die theoretischen Entwürfe nur zum Teil umsetzen (»Le fils naturel«, 1757, deutsch »Der natürliche Sohn«; »Le père de famille«, 1758, deutsch »Der Familienvater«). In »Le paradoxe sur le comédien« (herausgegeben 1830) entwarf Diderot eine Ästhetik der Schauspielkunst, die Selbstkontrolle und Reflexion (nicht das Gefühl) zur Grundvoraussetzung darstellerischer Fähigkeit erklärt; damit beeinflusste er noch B. Brecht.
 
Auch Diderots Romane und Erzählungen sind Mittler aufklärerischer Ideen. »La religieuse« (herausgegeben 1796; deutsch »Die Nonne«), ein Briefroman nach dem formalen Vorbild S. Richardsons, zeigt mit seiner Polemik gegen die Pervertierung menschlicher Natur durch falsche Frömmigkeit massiv antikirchliche Tendenz. In »Le neveu de Rameau« (Original herausgegeben 1891; deutsch »Rameaus Neffe«) entwirft Diderot in der Form eines Dialogs und mit der Figur eines sozialen Parasiten ein Bild der korrupten Gesellschaft des Ancien Régime und zugleich der unauflösbaren Widersprüche der menschlichen Natur (das Werk wurde 1805 von Goethe übersetzt). Formal angeregt von L. Sterne wurde »Jacques le fataliste et son maître« (herausgegeben 1796; deutsch »Jakob und sein Herr«), ein Werk in der Tradition des philosophischen und des pikaresken Romans, in dem das philosophische Problem von Freiheit und Notwendigkeit mit der sozialen Konstellation von Herr und Knecht verbunden wird. Formal ist der Roman mit seiner ständigen Unterbrechung der Handlung durch Anekdoten, weltanschaulichen und erzähltechnischen Überlegungen sowie den Dialogen des Autors mit dem Leser eine Infragestellung überkommener Muster und damit ein Abbild der für Diderot charakteristischen dialektischen Haltung, jedoch auch einer unabschließbaren Denkbewegung.
 
Ausgaben: Œuvres complètes, herausgegeben von J. Assézat und anderen, 20 Bände (1875-77, Nachdruck 1966); Lettres à Sophie Volland, herausgegeben von A. Babelon, 3 Bände (1930); Correspondance, herausgegeben von G. Roth und J. Varloot, 16 Bände (1955-70); Œuvres complètes, herausgegeben von H. Dieckmann u. a., auf 33 Bände berechnet (1975 folgende).
 
Ästhetische Schriften, herausgegeben von F. Bassenge, 2 Bände (1984); Das erzählerische Werk, herausgegeben von M. Fontius, 4 Bände (1984); Philosophische Schriften, übersetzt und herausgegeben von T. Lücke, 2 Bände (1984).
 
Literatur:
 
R. Mortier: D. in Dtl. 1750-1850 (a. d. Frz., 1972);
 J. Proust: Lectures de D. (Paris 1974);
 J. Proust: D. et l' »Encyclopédie« (Genf 1982);
 
D. u. die Aufklärung, hg. v. H. Dieckmann (1980);
 F. R. Spear: Bibliographie de D. Répertoire analytique international (Genf 1980);
 J. von Stackelberg: D. Eine Einf. (1983);
 R. Groh: Ironie u. Moral im Werk D.s (1984);
 R. Kempf: D. et le roman. .. (Neuausg. Paris 1984);
 P. Lepape: D. D. Eine Biogr. (a. d. Frz., 1994).
 

Universal-Lexikon. 2012.