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Uto|pie [uto'pi:], die; -, Utopien [uto'pi:ən]:etwas, was in der Vorstellung von Menschen existiert, aber [noch] nicht Wirklichkeit ist:
eine konkrete, schöne, sozialistische, linke Utopie; eine Utopie entwerfen; die Idee eines allgemeinen Friedens ist bis jetzt Utopie geblieben; eine Fahrt zum Mond ist keine Utopie mehr.
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Uto|pie 〈f. 19〉
1. Schilderung eines (meist erhofften, selten befürchteten) künftigen gesellschaftl. Zustandes
2. 〈allg.〉 Wunschtraum, Hirngespinst, Schwärmerei
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Uto|pie , die; -, -n [unter Einfluss von frz. utopie zu »Utopia«, dem Titel eines Werks des engl. Humanisten Th. More (etwa 1478–1535), in dem das Bild eines republikanischen idealen Staates entworfen wird; zu griech. ou = nicht u. tópos = Ort, Stelle, Land, also eigtl. = Nichtland, Nirgendwo]:
undurchführbar erscheinender Plan; Idee ohne reale Grundlage:
eine soziale, politische U.;
das ist doch [eine] U.!
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Utopie
[zu griechisch ou »nicht« und tópos »Ort«, also eigentlich »(das) Nirgendwo«] die, -/...'pi |en, nach dem 1516 erschienenen Roman »Utopia« von T. More benanntes literarisches Genre (utopische Literatur) und Phänomen des Utopischen, die seitdem unterschiedlich definiert und in ihrer Bedeutung unterschiedlich bewertet wurden. In der Umgangssprache wird »utopisch« auch im Sinne von »übersteigert«, »unrealistisch«, »träumerisch«, »realitätsblind« verwendet. Bei More ist Utopia die Fantasieinsel mit einer besten Staatsverfassung. Der englische Dichter O. Wilde äußerte sich 1891 zum Thema Utopie in folgender Weise: »Eine Weltkarte, in der das Land Utopia nicht verzeichnet ist, verdient keinen Blick, denn sie lässt die eine Küste aus, wo die Menschheit ewig landen wird. Und wenn die Menschheit da angelangt ist, hält sie Umschau nach einem besseren Land und richtet ihre Segel dahin. Der Fortschritt ist die Verwirklichung der Utopien.« Wildes positives Bekenntnis zu den Utopien war schon im 19. Jahrhundert nicht unumstritten. Mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaftssysteme in Europa hat eine vehemente Diskussion um den Begriff, die Bedeutung und die Zukunft der Utopie und des utopischen Denkens eingesetzt, verstand sich doch der Realsozialismus als zunehmende Verwirklichung des von den Sozialisten seit dem 19. Jahrhundert (C. H. de Saint-Simon, R. Owen u. a.) entwickelten utopischen Projekts einer perfekten, auf Gemeineigentum gegründeten Gesellschaft als Grundlage für menschliche Vervollkommnung, allgemeinen Wohlstand und Glück des Einzelnen wie des gesamten Gemeinwesens. Gilt den einen Utopie schlechthin als widerlegt und überholt, sehen andere im utopischen Denken nicht anders fassbare Potenziale, die soziale und gesellschaftliche Veränderungsmöglichkeiten projektieren.
Auch in den Wissenschaften gibt es keinen Konsens darüber, was man unter dem Begriff der Utopie zu verstehen hat. Der fachspezifische Eingrenzung der Utopie in Literaturwissenschaft, Geschichte, Philosophie und Soziologie kann nur dadurch begegnet werden, dass ihr ursprüngliches Selbstverständnis als Fantasiebild einer entweder staatlich verfassten oder staatsfreien idealen Gesellschaft aufgegriffen wird. Im weiteren Sinn als Beschreibung eines Zustands des Friedens, Wohlstands und Glücks reichen Utopien bis in die Mythologie zurück: z. B. Mythos vom goldenen Zeitalter, vom Garten Eden und, in die Zukunft gewandt, die jüdische Erwartung des neuen Jerusalem.
Sozialwissenschaftliche Modelle des Utopiebegriffs
Im sozialwissenschaftlichen Diskurs sind v. a. der intentionale, der totalitäre und der klassische Utopiebegriff traditionsbildend geworden. Die intentionale Konzeption geht in ihren Ursprüngen auf G. Landauer zurück. In seiner 1905 erschienenen Studie »Revolution« interpretierte er die Utopie als den entscheidenden sozialen Sprengsatz der revolutionären Umbrüche in Europa seit dem 16. Jahrhundert. Deren Mechanismen suchte er dadurch zu kennzeichnen, dass die gesellschaftliche Entwicklung immer zwischen zwei »Zuständen relativer Stabilität« pendelt. Diese Ordnungsgefüge, die alle Bereiche der Gesellschaft umfassen und auch in das Individualleben eingreifen, nannte er »Topien«. Deren Bestandssicherheit ist nicht absolut, weil es in ihrem Wirkungsbereich Potenziale gibt, die sie nicht zu absorbieren vermögen: die »Utopie«, die sich der Sphäre der herrschenden gesellschaftlichen Normen und Institutionen entziehen. Das intentionale, weil von der individuellen Handlungsmotivation ausgehende Utopieverständnis ist von K. Mannheim und E. Bloch folgenreich weiterentwickelt worden. Mannheim ordnet der Topie die die bestehenden Machtverhältnisse legitimierende Ideologie zu, während er die Utopie durch die Funktion kennzeichnet, die Strukturen der Topie zu sprengen. Auch Bloch sieht in der Utopie eine im Kern nach vorn gerichtete Intention, ein antizipatorisches Bewusstsein, das sich in Träumen, Wünschen, Sehnsüchten v. a. der Jugend, in gesellschaftlichen Wendezeiten wie der Französischen Revolution, dem deutschen Sturm und Drang, den Studentenunruhen 1968, in künstlerischer und wissenschaftlicher Produktivität Ausdruck verschafft und auf die Gestaltung der besseren Möglichkeiten einer keineswegs vollständig determinierten Zukunft drängt.
Lassen Landauer, Bloch und Mannheim das Urmuster des Utopischen mit den sozialrevolutionären Bestrebungen der Wiedertäufer und des Bauernkrieges beginnen, so führt K. R. Popper den totalitären Utopiebegriff auf Platons »Politeia« zurück. Dessen entscheidendes Gestaltungsprinzip sei der Holismus im Sinne eines geschlossenen Systementwurfs, der sich freilich mit dem geschichtsphilosophischen Historizismus und einer utopischen Sozialtechnik verbindet. Diese schafft als »Methode des Planens« des vollkommenen Staates, in dem jedes Individuum seine feste Stelle im Rahmen eines in Regierende, Wächter und Krieger und die große Masse des Volkes gegliederten Ganzen hat, irreversible Fakten. Zugleich ist die Anwendung des totalitären Terrors ihr notwendiges Korrelat, weil nur dann die Stetigkeit der utopischen Zielsetzung auf lange Zeit gesichert erscheint, wenn der Pluralismus konkurrierender Interessen ebenso zerstört wird wie alle anderen, aus dem sozialen Wandel folgenden Hindernisse, die der Verwirklichung des Endziels im Wege stehen.
Das Dilemma des intentionalen und des totalitären Utopiebegriffs liegt auf der Hand: Sie stehen unter dem Zwang, die utopische Fiktion auf ihr vorgegebene Größen wie »Totalitarismus« oder »Revolution« zurückführen zu müssen. Zwar können sie mit dem Utopischen konvergieren, dennoch sind sie mit ihm nicht identisch. Demgegenüber sind in der klassischen Tradition, die mit Mores »Utopia« begann, politische Utopien, wie N. Elias betont, Fiktionen innerweltlichen Gesellschaften, die sich zu einem Wunsch- oder Furchtbild verdichten. Ihre Zielprojektionen zeichnen sich durch eine präzise Kritik bestehender Institutionen und soziopolitischer Verhältnisse aus, der sie eine rational nachvollziehbare Alternative gegenüberstellen. Mit dem Wegfall reduktionistischer Zuordnungen wird der Weg frei für eine kritisch-hermeneutische Untersuchung der Utopien. Erst sie ermöglicht es, von den vielfältigen Gestalten des Utopischen zu reden und es als ein lernfähiges Phänomen zu begreifen. Daher soll im Folgenden ausschließlich vom klassischen Utopiebegriff die Rede sein.
Kontexte und Gestalten utopischen Denkens
Die klassische Utopien der Neuzeit riskieren zwar den Traditionsbruch mit der Herkunftswelt, in der sie entstanden sind, um eine Alternative zu deren gesellschaftlichen Fehlentwicklungen aufzeigen zu können. Gleichwohl lassen utopische Entwürfe sich nicht immer nur mit idealen Gemeinwesen oder zukünftigen Schreckensszenarien gleichsetzen und ausschließlich unter diesem Aspekt betrachten. Ebenso wichtig ist der soziopolitische Anlass, der sie hervorgebracht hat. Die Utopie der Renaissance und der Reformation bei More, T. Campanella, J. V. Andreä und Gerrard Winstanley (* 1609, ✝ 1652) reagieren auf die extreme Polarisierung zwischen Armen und Reichen, auf die feudale und frühkapitalistische Ausbeutung der arbeitenden Menschen, aber auch auf einen Staat und seine Justiz, die von den Interessen einer besitzenden Oberschicht bestimmt werden. Die Utopie im Zeitalter des Absolutismus, wie sie von Gabriel de Foigny (* 1630, ✝ 1692), Denis Vairasse (* um 1630, ✝ nach 1683), B. de Fontenelle, Louis Armand de Lom d'Arce, Baron de Lahontan (* 1666, ✝ um 1715), Fénelon, J. G. Schnabel, L. S. de Mercier, Morelly, D. Diderot, N. Restif de la Bretonne u. a. konzipiert wurden, greifen die Institution der Monarchie sowie deren Stützmächte in Gestalt des Adels und der katholischen Kirche an. Sie prangern den Luxus der Reichen ebenso an wie die Unterdrückung und das Elend der Armen. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert stellen Utopisten wie Saint-Simon, C. Fourier, Owen, Étienne Cabet (* 1788, ✝ 1856), E. Bulwer-Lytton, E. Bellamy, W. Morris, H. G. Wells und A. A. Bogdanow dem durch die Industrialisierung erzeugten gesellschaftlichen Reichtum ohne historisches Beispiel die äußerste Verelendung breiter Schichten der Bevölkerung gegenüber. Die »schwarzen« oder Negativutopien seit Beginn der 1920er-Jahre bei J. I. Samjatin, A. L. Huxley und G. Orwell gehen von der Destruktionskraft der modernen Technik im Ersten Weltkrieg und der Anwendung totalitärer Herrschaftstechniken sowohl in ihrer östlichen als auch in ihrer westlichen Ausprägung aus. In den »postmateriellen« Utopien, die von B. F. Skinner, Huxley, Ernest Callenbach (* 1929) und Ursula Le Guin entworfen wurden, kommt die Empörung über den ungehemmten Konsumismus der reichen Industrieländer und die zunehmende Verarmung der südlichen Regionen, die noch nicht erfolgte Gleichstellung der Frau mit dem Mann und die zunehmende Zerstörung der natürlichen Lebensbedingungen der Menschheit durch den Industrialisierungsprozess zum Ausdruck.
Aber der soziopolitische Kontext der klassischen Utopie ist nicht nur deren Auslöser; er wirkt auch auf die Entwürfe des utopischen Gemeinwesens selbst ein und bedingt somit deren jeweilige epochenspezifische Gestalt. In dem Maße nämlich, in dem das utopische Denken die mit dem jeweiligen Stand der Naturbeherrschung gegebenen Möglichkeiten seiner Ursprungsgesellschaft auslotet, bleiben seine Fiktionen ihr zumindest punktuell verhaftet. Zeigen lässt sich dies an der Triade »Wissenschaft/Technik«, »Arbeit« und »Bedürfnisse«, die als die Triebkraft der materiellen Reproduktion der utopischen Gemeinwesen zu gelten haben, sofern sich diese nicht als bloßes kritisches Korrektiv des Zivilisationsprozesses, wie in den anarchistischen Utopien des »edlen Wilden« (französisch bon sauvage) im 18. Jahrhundert, sondern auch als eine konstruktive Alternative zu ihm verstanden. So zogen die großen Utopisten der Renaissance und der Reformation aus dem begrenzten Stand der Naturbeherrschung durch Wissenschaft und Technik, der selbst bei F. Bacon den Rahmen der Agrargesellschaft nicht zu sprengen vermochte, zwei Konsequenzen: Sie werteten die physische Arbeit in einem Maße auf, wie es das Mittelalter und die Antike nicht kannten, und sie plädierten für deren vollständige Mobilisierung in möglichst effizienter Weise, die sich nicht selten am organisatorischen Vorbild militärischer Hierarchien orientierte. Dem niedrigen Stand der Produktivität der Arbeit entsprach das strikte Luxusverbot: Legitim war nur die Befriedigung »natürlicher« Bedürfnisse. Dadurch wurde es möglich, die gesamte Wirtschaft ausschließlich auf die Erzeugung lebensnotwendiger Güter festzulegen.
Zu einer Neubewertung dieser Triade kam es erst mit der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert: Wissenschaft und Technik eröffneten zum ersten Mal in der Geschichte die Perspektive einer Industriegesellschaft, die nicht mehr in der physischen Arbeit, sondern in der maschinellen Produktion die Quellen eines gesellschaftlichen Reichtums sieht, der die Perspektiven eines grenzenlosen materiellen Überflusses zu verbürgen schien. Aus dieser Erwartung zogen die Utopisten weit reichende Folgerungen: Das Sparsamkeitsgebot wurde ersetzt durch das Ideal hedonistischen Massenkonsums, und an die Stelle der physischen Fron trat die Maschine, die die menschliche Arbeit nicht abschaffte, ihr aber neue, qualifizierte Betätigungsfelder zuwies. Diese Entwürfe lebten von dem Glauben, dass die Technik an sich wertneutral sei: Ob sie sich zum Nutzen oder Schaden der Menschen auswirke, hänge allein von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab. Bereits in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, v. a. aber nach den Erfahrungen der großen Materialschlachten des Ersten Weltkriegs kamen Zweifel an dieser Prämisse auf: Sie wurden von den klassischen »schwarzen« Utopien zu einem Furchtbild der Zukunft verdichtet. Wissenschaft und Technik stellten sich nun als die große, durch Eigendynamik gekennzeichnete Zerstörungskraft dar, die die vollständige Versklavung der Menschen bewirkt. Auch die »postmateriellen« Utopien seit Anfang der 60er-Jahre sehen sich insofern auf ihre Ursprungsgesellschaft zurückverwiesen, als ihre Fiktionen entscheidende Impulse von der drohenden ökologischen Katastrophe erhalten. Sie sehen Wissenschaft und Technik nur noch insoweit als förderungswürdig an, als diese die Überlebensbedingungen der Menschheit sichern helfen. Bei gleichzeitiger Aufwertung der Bedürfnisse nach Schönheit und Kommunikation kehren sie zu einer Ethik des Konsumverzichts zurück, der eine Entlastung der menschlichen Arbeit von den Geboten äußerster Effizienz zugunsten selbst bestimmter, kreativer und in Freiheit verrichteter Tätigkeit entspricht.
Die Abhängigkeit der utopischen Fiktion von dem soziopolitischen Kontext ihrer Entstehung geht auch aus ihrem Geltungsanspruch hervor. Nicht zufällig ist er im 18. Jahrhundert in dem Augenblick einem wichtigen Paradigmenwechsel unterworfen, als eine Reihe bedeutender technischer Erfindungen, die von der Koksverhüttung des Eisens über die Dampfmaschine bis hin zur Dreschmaschine reichen, einen neuen Stand der Naturbeherrschung ankündigten, der auch neue Möglichkeiten der Gesellschaftsgestaltung zu eröffnen schien. Diese Weichenstellung der zivilisatorischen Entwicklung in Europa hinterließ im utopischen Denken tiefe Spuren. In den älteren Utopien stellte sich in der Regel die perfekte Gesellschaftsordnung bereits als fertig dar: Der Erzähler hatte deren ideales Funktionieren dem Leser lediglich mitzuteilen. Seit dem 18. Jahrhundert jedoch erlebt der Leser mit, wie das utopische Gemeinwesen entsteht: Die handelnden Subjekte werden zu Demiurgen einer idealen Welt; das utopische Konstrukt wird zu einer konkreten Aufgabe, die auch tatsächlich gelöst werden kann: eine Überzeugung, die im Umschlag von der Raum- zur Zeitutopie ihren prägnantesten Ausdruck findet. In der Epoche der Renaissance und der Reformation wurde das utopische Gemeinwesen, zumeist in Gestalt einer Insel, zeitgleich zu den kritisierten gesellschaftlichen Verhältnissen gedacht, denen es als die bessere Alternative entgegengehalten wurde. Utopisches Ideal und Ursprungsgesellschaften waren durch ein räumliches Kontinuum miteinander verbunden. Demgegenüber wird das utopische Ziel jetzt in die Zukunft projiziert, und zwar mit der geschichtsphilosophisch verbürgten Erwartung, dass die Realität es einholen wird.
Diese Verbindung des utopischen Entwurfs mit dem teleologischen Fortschrittsdenken hat u. a. auch mit dem wachsenden Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen zu tun, ihre gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf rational und zukunftswirksam gestalten zu können. Umgekehrt wirkte freilich die Erfahrung der Destruktionskräfte der Technik seit dem Ersten Weltkrieg auch auf den Geltungsanspruch der Zeitutopie zurück: Seit Samjatins Utopie »My« (1924) ist die geschichtsphilosophische Fortschrittsperspektive diskreditiert, weil in ihrem Namen selbst ernannte »Eliten« Menschen verachtende Unterdrückungssysteme gerechtfertigt haben. Dies vorausgesetzt, ist im neueren Utopiediskurs die Tendenz erkennbar, zum Geltungsanspruch der älteren Raumutopie zurückzukehren: Er hat den Status eines regulativen Prinzips, das immer nur annäherungsweise verwirklicht werden kann und nicht mehr auf eine revolutionäre Totalrevision der soziopolitischen Wirklichkeit abzielt, jedoch als die gegenwärtige Wirklichkeit übersteigender Zukunftsentwurf notwendig ist.
Utopien als Lernprozesse
Die klassische Utopie reagiert nicht nur auf die ihr von außen vorgegebenen Rahmenbedingungen; sie versucht, diese zugleich durch Ausschöpfung ihrer Potenziale zu erweitern. Darüber hinaus ist der utopische Diskurs durch alternatives Denken und durch seine Lernfähigkeit geprägt. Zu Recht ist oft darauf hingewiesen worden, dass die autoritäre Sozialutopie in der Nachfolge von More und Campanella die Welt in ein riesiges Kloster verwandelt, das seiner antiindividualistischen Stoßrichtung auf allen Ebenen der Gesellschaft Geltung verschafft: Militärische Disziplin und rationalistische Planung reglementieren den Tagesablauf und die Lebenswelt der einzelnen Menschen. Ihre Privatheit ist ganz oder weitgehend aufgehoben, ihre Bewegungsfreiheit von der Obrigkeit eingeschränkt, und ihre Bedürfnisse, Sitten und Gebräuche, ihre Zeremonien, selbst ihre Kleidung, Wohnungen und die Grundrisse ihrer Städte unterliegen dem Diktat vollständiger Homogenität.
Seit dem 16. Jahrhundert sind immer auch fiktive Gegenmodelle zu diesen utopischen Leviathanen konstruiert worden, die die individuelle Freiheit und die Vielheit der Bedürfnisse zur höchsten Maxime erhoben. In F. Rabelais' Abtei »Thélème« (in seinem Romanzyklus um Gargantua und Pantagruel) gibt es als Antwort auf Mores »Utopia« nur eine Regel: »Tu, was dir gefällt!« In de Foignys Australienutopie am Ende des 17. Jahrhunderts sind Gesetze und Staat abgeschafft: Alle Entscheidungen werden von Gleichen auf lokaler Ebene getroffen. Im Zeitalter des Absolutismus prägten v. a. de Lahontan und Diderot den utopischen Sozialcharakter des »edlen Wilden«: Er ruht in sich selbst und lebt mit seinesgleichen in einer »wohl geordneten Anarchie«, die - frei von aller individuellen Fremdbestimmung - durch das Gesetz der Natur sich selbst reguliert. Fourier und Morris entwarfen im 19. Jahrhundert das Szenario eines von institutionellen Zwängen weitgehend befreiten Gemeinwesens, damit sich die Individuen ohne Bevormundung autonom entfalten können. Selbst die utopischen Fiktionen bei Cabet und Bellamy lassen die Tendenz einer Individualisierung der menschlichen Bedürfnisse erkennen. Unterdessen haben diese Beispiele für das utopische Denken der Gegenwart Modellcharakter gewonnen: Im Unterschied zu den totalitären Sozialutopien der frühen Neuzeit wird die Garantie individueller Privatheit und die eigenverantwortliche Selbstentfaltung jedes Einzelnen zu einem unverzichtbaren Strukturelement der alternativen Fiktion.
Utopien ließen aber von Anfang an die Bereitschaft erkennen, die eigenen Prämissen zu überprüfen. Bereits bei More wird Hythlodeus, dem Parteigänger der Utopier, die entscheidende Frage gestellt, ob das kommunistische Gemeinwesen, das er propagiere, nicht das Gegenteil von dem bewirke, was er beabsichtige: nämlich Mord und Aufruhr sowie trostlose Nivellierung und lähmende Initiativlosigkeit. Theodor Hertzka (* 1845, ✝ 1924) und Wells kritisierten die klassische Tradition mit dem Argument, ihr Defizit bestehe darin, dass sie der Tugend einen viel höheren Stellenwert eingeräumt habe als der individuellen Freiheit. Diese Tendenz selbstkritischer Infragestellung der antiindividualistischen Stoßrichtung der klassischen Tradition erreicht dann im 20. Jahrhundert in den »schwarzen« Utopien ihren Höhepunkt: Tatsächlich lassen sich Samjatins »My«, Huxleys »Brave new world« (1932) und Orwells »1984« (1949) nicht nur als Reaktionen auf die totalitären Herrschaftstechniken, sondern auch als detaillierte Kritik der zentralen Strukturmerkmale der klassischen Tradition lesen. Vereinfacht ausgedrückt, werden deren normative Vorgaben in dem Maße in ihr Gegenteil verkehrt, in dem ihre ursprüngliche Absicht der Emanzipation der Menschheit von Ausbeutung und Unterdrückung entfällt. Da die Utopisten in der Nachfolge Mores ihre idealen Gemeinwesen nie vom Individuum, sondern immer vom Ganzen her dachten, ist diese Konsequenz gezogen, sobald das »Ganze« gleichgesetzt wird mit dem ebenso partikularen wie absoluten Machtanspruch einer totalitären Herrschaftskaste. Für Samjatin, Huxley und Orwell ist das Positive nur noch indirekt, im Schatten des Furchtbildes von »1984« erkennbar. Die postmaterielle Utopie der Gegenwart ist gleichsam durch den Filter dieser Utopiekritik hindurchgegangen. So wird zwar in Le Guins Utopie »Planet der Habenichtse« die Positivität des utopischen Konstrukts erneuert. Aber es streift zugleich den Schein höchster Perfektion des menschlichen Zusammenlebens ab. Stattdessen liefert der utopische Entwurf seine eigene Kritik gleich mit: Er ist reflexiv geworden, weil er selbst die Möglichkeiten des Scheiterns des utopischen Ideals aufzeigt. Und schließlich trägt er der ökologischen Kritik von H. Jonas dadurch Rechnung, dass er die Fiktion einer solidarischen Gesellschaft an den partnerschaftlichen Umgang der wissenschaftlich-technischen Zivilisation mit der äußeren Natur bindet.
Wirkungsgeschichte utopischen Denkens
Der klassische Utopiediskurs ist historisch von weit reichender Wirkung gewesen. Utopisches Denken fand seinen Ausdruck in einer Reihe von sozialen Institutionen und Bewegungen, z. B. im Täuferreich von Münster und im Jesuitenstaat von Paraguay. Auch die Zielsetzungen der Französischen Revolution waren durch »utopische« Züge bestimmt. Utopien wirkten sich sowohl auf die Struktur der westlichen Gesellschaften als auch auf die Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs aus. In Campanellas »Sonnenstaat« spielen Zeitmessgeräte und Wetterfahnen eine große Rolle. Sie symbolisieren das reibungslose Funktionieren der Einzelnen in den soziotechnischen Strukturen der westlichen Zivilisation. Die Erkenntnis der Utopisten insbesondere des 19. Jahrhunderts, dass infolge der immer komplexer werdenden Arbeitsteilung jeder von jedem auf einer sich stets erweiternden Stufenleiter in zunehmendem Maße abhängig werde, hat ihre Entsprechung in der Herausbildung von »Sachzwängen«, die den Einzelnen zu angepasstem Verhalten zwingen. In den kommunistischen Systemen findet sich die Vorstellung der autoritären Variante des utopischen Denkens wieder, dass das ideale Gemeinwesen nur zu verwirklichen ist, wenn die Politik Vorrang gegenüber der Wirtschaft, die Bürokratie gegenüber den Rechten der Einzelnen, die Planung gegenüber der individuellen Spontaneität und Kreativität, die Überwachung und Bevormundung gegenüber der persönlichen Autonomie und das Prinzip der Abschottung nach außen gegenüber dem Recht eines jeden Einzelnen auf ungehinderte Bewegungsfreiheit hat. Auch die Vision eines »neuen Menschen« findet sich im utopischen Denken der Bolschewiki. Dieser Vision hat L. Trotzkij emphatisch Ausdruck verliehen, als er 1924 schrieb, im vollendeten Sozialismus erhebe sich der gewöhnliche Mensch auf die Höhe eines Aristoteles, Goethe und K. Marx.
Über ihre Spuren in den gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen hinausgehend, sind Utopien in vielen anderen Lebensbereichen der Moderne präsent, z. B. in der Architektur und Malerei. So sind die Architekturkonzeptionen der klassischen Utopietradition in ihrem Vorbildcharakter für die Moderne nicht hoch genug einzuschätzen. Die Bauweise und der Grundriss der utopischen Stadt in der Renaissance (Idealstadt) sind vollkommen funktionalistisch und rationalistisch ausgerichtet. Orientiert an geometrischen Mustern, lassen sie ein instrumentelles Verhältnis zur Natur erkennen. Es handelt sich um Vorwegnahmen einer von technischer Zweckrationalität geprägten Bauweise und Stadtplanung, die heute zum Alltag der Weltzivilisation gehört. Aber die klassische Utopie insbesondere des 19. Jahrhunderts brachte auch Alternativen hervor. So gab Morris die an geometrischen Strukturen orientierte Stadt- und Landschaftsplanung auf: Er stellte sie in den Dienst einer groß angelegten Renaturalisierung, die z. B. der Gartenstadtbewegung entscheidende Impulse vermittelte. Wer heute eine Alternative zur »unwirtlichen Stadt« sucht, kann immer noch Anregungen in den Architekturkonzeptionen der utopischen Sozialisten wie Fourier und Owen finden, die ihre Baupläne in den Dienst der Befriedigung der sozialen Bedürfnisse der Menschen stellten. Der Konstruktivismus einer russischen Avantgarde zwischen 1915 und 1932 zog einen radikalen Schlussstrich unter die künstlerischen Formen der Vergangenheit. Sein Gestaltungsmedium war, an zentrale Strukturmerkmale der Renaissanceutopie erinnernd, die geometrische Figur, die die äußerste Radikalität des Traditionsbruches symbolisierte. Planung, Klassenlosigkeit, Ablehnung der Vergangenheit, der Aufbau eines »neuen Lebens« gleichsam vom Nullpunkt an sowie die Wende von der Analyse zur Synthese bezeichnen Elemente einer ästhetischen Programmatik, die ihre Herkunft aus dem utopischen Denken nicht leugnen können. Neue Impulse erhielt die utopische Architektur mit der Einführung der Stahl- und Betonbauweise. Die italienischen Futuristen, z. B. A. Sant'Elia, entwarfen in ihrer Città nuova (ab 1913) eine Industrie- und Handelsmetropole mit Hochhausarchitektur, Fahrbahnen auf verschiedenen Ebenen, Bahnhöfen und Flugplatz. In den 1950er- und 60er-Jahren wurden die urbanistischen Aufgaben v. a. von den japanischen Metabolisten und der britischen Gruppe Archigram aufgegriffen.
Zukunftsperspektiven utopischen Denkens
Spätestens seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Europa wird - z. B. von E. Nolte und J. Fest - die These vom Ende des utopischen Denkens vertreten, da dieses, notwendig mit Revolution und totalitärer Herrschaft verbunden, sich mit den Prinzipien einer offenen liberalen Gesellschaft als nicht vereinbar erwiesen habe. Diese These ist zutreffend, wenn man sie auf die autoritäre Linie des klassischen Utopiediskurses einschränkt. Die Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs haben alle Realisierungsbedingungen ihrer eigenen Utopie erfüllt: von der Abschaffung des privaten Eigentums an den Produktions- und Arbeitsmitteln über die Erziehungsdiktatur bis hin zur Alleinherrschaft einer selbst ernannten Elite. Dennoch brachen sie in sich zusammen, ohne dass es einer gewaltsamen Einwirkung von außen bedurft hätte. Die Gründe dieses welthistorischen Vorganges haben - neben vielen anderen Faktoren - auch mit den Strukturmerkmalen jener Fiktion zu tun, die in Bogdanows Marsutopie ihren klassischen Ausdruck fand. Drei Ursachenzusammenhänge sind besonders hervorzuheben: 1) Ein System, das einer kleinen Elite das Wahrheits- und Politikmonopol zugesteht, ist unfähig, auf neue Herausforderungen innovativ zu reagieren. Tatsächlich werden neue Einsichten immer nur von Minoritäten außerhalb der bestehenden Machtapparate vertreten. Wer sie unterdrückt, entzieht innovativen Ideen und damit jeder Weiterentwicklung den Boden. 2) Eine Gesellschaftsformation, die vorgibt, sie brauche keine individuellen Menschenrechte zu kodifizieren, weil - wie in den autoritären Utopien - den kollektiven Wertemustern der absolute Primat zugesprochen wird, muss für diese Prämisse einen hohen Preis bezahlen. Wenn bürgerliche Freiheiten fehlen, verkümmern die Talente von Millionen. Kulturelle, wirtschaftliche und ökonomische Stagnation ist die Folge. 3) Ein System, das nach dem Vorbild der autoritären Sozialutopie die große Masse der Bevölkerung bevormundet, untergräbt seine eigene Legitimität. Es beruht in letzter Instanz auf der Überwachung der Einzelnen, ohne wirkliche Loyalitäten entwickeln zu können, und bricht zusammen, sobald der Überwachungsapparat ausfällt.
Dennoch wäre es falsch, mit der autoritären Utopievariante utopischem Denken schlechthin seine Berechtigung abzusprechen. Der Problemdruck, der seit More Utopien hervorbrachte, besteht fort. Aber seine Qualität hat sich selbst noch im Vergleich zu den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts so verändert, dass die Lösungen der klassischen Tradition, insbesondere die Entwürfe des 20. Jahrhunderts, ihnen nicht mehr gewachsen sind. Heute stehen die Überlebensbedingungen der Menschheit selbst auf der politischen Tagesordnung. Dieser Bedrohung kann nur begegnet werden, wenn es zu einem neuen Ausgleich zwischen den unverzichtbaren Rechten der Einzelnen und den unabweisbaren Ansprüchen eines solidarischen, v. a. aus ökologischer Sicht auf die gesamte Menschheit und Erde ausgedehnten Ganzen kommt. Das eigentliche Problem, das von Anfang an im Zentrum des utopischen Denkens stand, das vorstellungsmäßige Überschreiten der eigenen zeitgeschichtlichen Wirklichkeit im Hinblick auf eine bessere Welt, ist also mit dem Scheitern der Ideale wissenschaftlich-technischen Fortschritts und unbegrenzten Wirtschaftswachstums wie auch nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Staatssysteme nicht gegenstandslos geworden. Im Gegenteil: Es stellt sich erneut mit aller Schärfe.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Alternativkultur · Autorität · Elite · Emanzipation · Fortschritt · Frieden · Gemeinwohl · Gesellschaftskritik · Glück · Hoffnung · Ideologie · Menschenrechte · politische Willensbildung · Technikfolgenabschätzung · Tradition · utopische Literatur
G. Landauer: Revolution (Neuausg. 3.-5. Tsd. 1977);
U.-Forschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitl. U., hg. v. W. Vosskamp, 3 Bde. (Neuausg. 1985);
U. Begriff u. Phänomen des Utopischen, hg. v. A. Neusüss (31986);
Der Traum vom besten Staat. Texte aus Utopien von Platon bis Morris, hg. v. H. Swoboda (31987);
E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde. (31990);
R. Saage: Polit. U. der Neuzeit (1991);
Hat die polit. U. eine Zukunft?, hg. v. R. Saage: (1992);
R. Saage: U.-Forschung (1997);
K. R. Popper: Die offene Gesellschaft u. ihre Feinde, 2 Bde. (a. d. Engl., 71992);
Der utop. Staat, übers. u. hg. v. K. J. Heinisch (112.-114. Tsd. 1993);
M. Winter: Ende eines Traums. Blick zurück auf das utop. Zeitalter Europas (1993);
H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technolog. Zivilisation (Neuausg. 121995);
K. Mannheim: Ideologie u. U. (a. d. Engl., 81995);
J. R. Bloch: U.: Ortsbestimmung im Nirgendwo. Begriff u. Funktion von Gesellschaftsentwürfen (1997).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Zukunftsforschung: Prognose und Zukunftsgestaltung
Arbeiterbewegung: Anfänge der Arbeiterbewegung
Morus, Campanella und Bacon: Politische Gedankenexperimente und Utopien
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Uto|pie, die; -, -n [unter Einfluss von frz. utopie zu Utopia]: als undurchführbar geltender Plan; Idee ohne reale Grundlage: eine politische U.; das ist doch [eine] U.!; die Bergpredigt ist die konkrete U. (schildert zwar einen nicht real existierenden Zustand, der aber durchaus Wirklichkeit sein könnte, wenn alle entsprechend handelten; Alt, Frieden 116); Hatten die russischen Konstruktivisten noch eine gesellschaftliche U. vor Augen ..., so genügt dem neuen Dynamismus die technologische Revolution (FAZ 17. 7. 99, 44); es ist sinnlos, neue -n zu entwickeln, die auf die Entwicklung nicht den geringsten Einfluss haben (Gruhl, Planet 305).
Universal-Lexikon. 2012.