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Geschichtsschreibung
Ge|schịchts|schrei|bung 〈f. 20; unz.〉 Aufzeichnung von geschichtl. Begebenheiten aufgrund von Urkunden od./u. eigenen Beobachtungen u. Erlebnissen; Sy Historiografie

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Ge|schịchts|schrei|bung, die:
schriftliche Darstellung der Geschichte (1).

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Geschichtsschreibung,
 
Historiographie, die Darstellung von Ereignissen, Entwicklungsprozessen und Zuständen der Vergangenheit sowie des Werdegangs von Personen, sozialen Schichten, Volksgruppen und Nationen mit dem Ziel, Geschichte bewusst werden zu lassen. Grundlegend für jegliche Geschichtsschreibung ist bis heute das vielschichtige Wechselverhältnis von Geschichtsbild und Gegenwartsbewusstsein geblieben. In ihrer Abhängigkeit vom Gestaltungswillen und der Gestaltungskraft des Geschichtsschreibers ist Geschichtsschreibung ein Teilbereich der Literatur. In ihrem Darstellungsziel bewegt sie sich zwischen bloßer Herrschaftslegitimation und kritischer Würdigung des Vergangenen in seinen politischen und gesellschaftlichen Bezügen. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich, auf dem Wege kritischer Quellenforschung die Geschichte in Wort und Bild zu analysieren und entsprechend ihrem Erkenntnisstand sachbezogen zu beschreiben. Die Geschichtsschreibung als ein Ertrag der Geschichtswissenschaft spiegelt den Stand, die Strukturen, Strömungen und Ambitionen der historischen Forschung wider. Wegen ihres empirischen Charakters steht die Geschichtsschreibung in einem Spannungsverhältnis zur Geschichtsphilosophie.
 
Altertum:
 
Während Ägypter, Babylonier, Assyrer und a. Völker des Alten Orients v. a. in Inschriften ihre Herrscher rühmten, stellten die Israeliten ihre Vergangenheit als Heilsgeschichte dar. Ansätze zu einer Geschichtsschreibung mit historischer Kritik und Fragen nach der geschichtlichen Wahrheit finden sich bereits bei den Hethitern. Die Geschichtsschreiber der griechischen Antike suchten die Darstellung der überlieferten Vorstellungs- und Gedankenwelt ihrer Kultur mit einem unbedingten Wahrheitsanspruch zu verbinden, bemühten sich aber auch zugleich, Ursachen und Zusammenhänge geschichtlicher Ereignisse aufzuzeigen: so Herodot, von Cicero später »Vater der Geschichte« genannt, in seiner Darstellung der Perserkriege, Thukydides in seinem Werk über den Peloponnesischen Krieg. Mit seinem Willen zu unparteiischer Prüfung der Zeugnisse und Erklärung der Motive wirkte Thukydides, der als Schöpfer der historischen Monographie gilt, bis in die Geschichtsschreibung des Mittelalters hinein. Durch Polybios, der Roms Aufstieg zur beherrschenden Macht im Mittelmeerraum erlebte und dies »pragmatisch« erklären wollte, wurde die römische Geschichtsschreibung angeregt. Im Gegensatz zu seiner Darstellungsweise war die römische Geschichtsschreibung, die in den Werken Sallusts, des Livius und des Tacitus gipfelt, stark auf Rechtfertigung der römischen Machtstellung bedacht; in ihrer Rhetorik knüpft sie an die griechischen Geschichtsschreiber an. Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. entwickelten Arrian, Curtius Rufus, Plutarch und Sueton die Biographie als Form der Geschichtsschreibung.
 
Europäisches Mittelalter:
 
Der allgemeine Rückgang der Schreibfähigkeit zu Beginn des Mittelalters zog auch die Geschichtsschreibung in Mitleidenschaft. Sie setzte, getragen von der Geistlichkeit, mit der allmählichen Übernahme antiker Kulturformen wieder ein; ihre Sprache war Latein. Der Römer Cassiodor gab mit seiner Gotengeschichte das Vorbild für die Volksgeschichten, wie sie Gregor von Tours über die Franken, Paulus Diaconus über die Langobarden, Beda über die Angelsachsen, Widukind von Corvey (* um 925, ✝ nach 973) über die Sachsen, Adam von Bremen über die Skandinavier, Thietmar von Merseburg und Cosmas von Prag über die Slawen schrieben. Alle diese Berichte (»Gesta«) gelten aber nur dem Adel, der im Sinne seiner Zeit die tragende Schicht des Volkes war. Im Hinblick auf die Darstellung einzelner Personen kannte das Mittelalter zunächst im Wesentlichen nur die Lebensbeschreibung von Heiligen (Heiligenvita). Mit seiner »Vita Karoli Magni« (um 835) schuf Einhard die erste Herrscherbiographie des Mittelalters. In den Klöstern entwickelte sich seit dem 8. Jahrhundert die Aufzeichnung der Zeitereignisse in Jahresberichten (»Annalen«), von knappen Eintragungen in Ostertafeln bis zu ausführlichen Darstellungen (so bei Lampert von Hersfeld).
 
Nach frühchristlichem Vorbild (Eusebios von Caesarea und Hieronymus) suchten Geschichtsschreiber seit dem 11. Jahrhundert die in den »Heilsplan« Gottes eingefügte »Weltgeschichte« in Chroniken darzustellen (Weltchronik). Ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung im Werk Ottos von Freising. In den Lehrbüchern der Bettelorden (Martinschroniken) wurde diese Sicht der Geschichte schulmäßig ausgebreitet. Seit dem 12. Jahrhundert wurden die Chroniken auch in der Volkssprache verfasst. Im Spätmittelalter verengte sich die Darstellung auf das Territorial- und Standesgeschichtliche, weitete sich im 15. Jahrhundert z. B. in Frankreich auf das Nationalstaatliche aus. Als Ausdruck eines neuen bürgerlichen Selbstbewusstseins entstand die Stadtchronik.
 
Die außereuropäische Geschichtsschreibung seit der Antike:
 
Gleichzeitig mit der abendländischen Historiographie entstand auch eine bedeutende, kontinuierliche Tradition der Geschichtsschreibung in Ostasien. Seit alters her kam der Beschäftigung mit der Geschichte in China eine tragende Rolle als Herrschafts- und Orientierungswissen zu; die ständige Bezugnahme auf die Vergangenheit und die Zitierung geschichtlicher Exempel bestimmten nicht nur die Diskurse der Gebildetenschicht im vormodernen China, sondern auch die Debatten über die Modernisierung Chinas und seine kulturelle Identität im 20. Jahrhundert. Schon früh entwickelte sich neben der Annalistik - exemplarisch vertreten in den Konfuzius (* 551 v. Chr., ✝ 479 v. Chr.) zugeschriebenen »Frühlings- und Herbstannalen« - die große narrative Geschichtsschreibung. Gestützt auf die in der Bibliothek am Kaiserhof des Han-Einheitsreichs (202 v. Chr.- 220 n. Chr.) aufbewahrten Schriften und geschichtlicher Dokumente verfasste Sima Qian sein monumentales, als Weltgeschichte konzipiertes Werk »Shiji« (»Historische Aufzeichnungen«), durch das zugleich der Grund für die Struktur der insgesamt 25 Dynastiegeschichten gelegt wurde. Mit Errichtung des Geschichtsamtes in der frühen Tangdynastie (629) lag die Abfassung der Dynastiegeschichten der jeweils vorangegangenen Dynastien in den Händen eines Kollektivs von Literatenbeamten. Die chinesische Geschichtsschreibung verstand Geschichte v. a. als einen belehrenden »Spiegel«, für den das moralische Werturteil im Mittelpunkt stand. Andererseits ist für die historiographische Tradition Chinas die Orientierung an der Poetik und der Literatur- und Textkritik charakteristisch. Die die Geschichtsschreibung reflektierende Tradition fand in Zhang Xuecheng (* 1736, ✝ 1801) und seinem Werk »Durchgängige Erörterung der schriftlichen Zeugnisse und Geschichtswerke« (»Wenshi tongyi«) ihren Höhepunkt.
 
Die Vergewisserung von Vergangenheit erfolgte im alten Indien über die in den Puranas enthaltenen Genealogien der Königsgeschlechter; sie brechen im 2. Jahrhundert n. Chr. ab. Chronikartig angelegt sind einige Jahrhunderte später Geschichten buddhistischer Klöster, die v. a. auf Ceylon (Sri Lanka) entstanden. Eine umfassende Regionalgeschichte ist die einzigartig gebliebene Chronik von Kalhana über Kaschmir (»Rajatarangini«, 12. Jahrhundert). Mit der Errichtung der islamischen Mogul-Dynastie im frühen 16. Jahrhundert wurden persische Formen der Historiographie übernommen. Es bildete sich eine reiche politische und biographische Geschichtsschreibung von hoher erzählerischer Kunstfertigkeit heraus.
 
Die vom Islam geprägten Kulturen, insbesondere die arabischen, verfügen seit dem 8. Jahrhundert über eine reiche und vielseitige Historiographie. Nach islamischer Weltsicht begann die Geschichte mit der Schöpfung der Welt, erlebte ihren bisherigen Höhepunkt im beispielhaften Wirken des Propheten Mohammed und geht dem Weltende entgegen. In der mittelalterlichen Literatur begegnen uns neben annalistischen »Weltchroniken« (z. B. at-Tabari, * 839, ✝ 923), Dynastien- und Lokalgeschichten v. a. umfangreiche Gelehrtenprosopographien. Ansätze landeskundlicher wie sozialhistorischer Betrachtung finden sich bereits bei al-Masudi und erreichen einen Höhepunkt in den »Prolegomena« von Ibn Chaldun. Diese Traditionen werden bis heute fortgeführt. Außerdem gewannen verschiedene westeuropäische geschichtswissenschaftliche Richtungen Einfluss.
 
Nicht außer Acht gelassen werden dürfen Kulturen, die zwar keine schriftliche, aber reichhaltige Traditionen oraler Geschichte pflegten, wie es im subsaharischen Afrika bis zum Kontakt mit der arabischen Welt der Fall war. In Äthiopien bestand allerdings eine ältere koptische Tradition der Geschichtsschreibung, die bis in die Antike zurückging.
 
Humanismus und Reformation:
 
Seit dem 16. Jahrhundert nahmen besonders N. Machiavelli und F. Guicciardini die antike Geschichtsschreibung als Vorbild für die Darstellung der politischen Geschichte der italienischen Staaten. Unter dem Einfluss der Glaubenskämpfe wurde die von den Humanisten wenig beachtete Kirchengeschichte wieder aufgegriffen. Der Widerstreit der Konfessionen in den »Magdeburger Zenturien« des Lutheraners M. Flacius und den »Annales ecclesiastici« des Oratorianerkardinals Caesar Baronius (* 1538, ✝ 1607) bewirkte die kritische Fundierung der beiderseitigen Angriffe. Das Abklingen der konfessionellen Kämpfe nach 1650 veranlasste die quellenkrittischen Arbeiten zur Geschichte der katholischen Kirche und ihrer Orden durch die jesuitischen Bollandisten und benediktinischen Mauriner (J. Mabillon).
 
Die Zeit der Aufklärung:
 
Die Geschichtsschreibung der Aufklärung maß die Vergangenheit des Menschen an einer vernunftorientierten Moral und sah alle Geschehnisse eingebunden in eine Universalgeschichte der Menschheit. Sie unterzog die historische Überlieferung einer an Rationalität orientierten Kritik und löste sie aus ihrer Einbettung in die christlich-theologischen Vorstellungen einer Heilsgeschichte. In diesem Sinne ist sowohl die stärker literarisch orientierte französische als auch die britische Aufklärungshistoriographie angelegt. In seinem »Essai sur l'histoire générale et sur les mœurs et l'esprit des nations« (1756) stellte Voltaire die Geschichte nicht mehr als Gang der göttlichen Vorsehung dar, sondern er deutete sie als einen nach eigenen Entwicklungsgesetzen sich vollziehenden, auf Vernunft gerichteten Vorgang. In seinen Betrachtungen über Größe und Untergang des Römischen Reiches sah Montesquieu sowohl die Idee der Freiheit als auch die Notwendigkeit der Staatsräson als entwicklungsbestimmendes Prinzip der Geschichte an. Die »History of England« (1754-62) des schottischen Historikers D. Hume war eines der ersten neueren, auf empirischer Quellenforschung beruhenden Geschichtswerke. Der viel gelesene schottische Geschichtsschreiber W. Robertson vollzog die Trennung von Profan- und Kirchengeschichte. Neben den Werken S. von Pufendorfs ist die Weltgeschichte A. L. von Schlözers ein herausragendes Beispiel der deutschen Aufklärungshistoriographie. Auch Geschichtsvereine und Akademien förderten eine an der Aufklärung orientierte Geschichtsschreibung.
 
19. und 20. Jahrhundert:
 
Die mit E. Burkes »Reflections on the revolution in France« (1790) beginnende politische Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution von 1789 löste - verbunden mit den Ideen der Romantik - neue Tendenzen in der europäischen Geschichtsschreibung aus. Sie trug wesentlich zur Entstehung der modernen Geschichtswissenschaft bei und förderte - besonders in Deutschland - den Historismus. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts. entwickelten sich Geschichte und Geschichtsschreibung als Fachwissenschaft, v. a. an den Universitäten. Die Vollendung der historischen Methode wurde dabei der herausragende deutsche Beitrag zur Grundlegung der modernen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert; die Errichtung öffentlicher Archive förderte diesen Prozess. Die systematische Quellenedition und Quellenkritik wurden zur Grundlage jeder Geschichtsforschung mit wissenschaftlichem Anspruch. Gleichzeitig verloren aber literarisch-ästhetische Gesichtspunkte nicht an Bedeutung. J. Michelet, T. Carlyle, T. B. Macaulay, G. Bancroft, aber auch L. von Ranke und T. Mommsen sind Beispiele dafür. Der verallgemeinernden Bewertung geschichtlicher Kräfte setzten besonders L. von Ranke und B. Niebuhr die individualisierende Sicht der Geschichte entgegen. Nach ihnen besitzen alle historischen Phänomene - unabhängig vom jeweiligen Betrachter - Eigenständigkeit und eine ihnen eigentümliche Entwicklung. Befruchtend auf die Geschichtsschreibung dieser Art wirkten die historisch orientierten Schulen der Rechtswissenschaft und der Nationalökonomie. In Frankreich entstand mit F. Guizot, A. de Tocqueville, Numa Fustel de Coulanges (»La cité antique«, 1864) und H. Taine eine Geschichtsschreibung, die kulturelle und strukturelle Faktoren betonte. Nicht zu vergessen im deutschen Sprachbereich sind die sehr unterschiedlichen sozialgeschichtlichen Ansätze von L. von Stein und K. Marx und die kulturgeschichtlichen Werke von J. Burckhardt und in den Niederlanden von J. Huizinga.
 
In den verschiedenen Strömungen der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wird ihre enge Verbindung zu den politischen Tendenzen der Zeit deutlich. Im Zeichen des Vormärz schrieben die liberalen Historiker K. W. von Rotteck, K. T. Welcker, G. G. Gervinus und F. C. Dahlmann. Obwohl der Anspruch der Wissenschaftlichkeit im Prinzip Objektivität und Unparteilichkeit (Ranke) voraussetzte, fand tatsächlich eine zunehmende Politisierung der Geschichtsschreibung und der Geschichtswissenschaft statt. Dies hing damit zusammen, dass Geschichte im Zeichen der bürgerlichen Nationalbewegungen nicht nur in Deutschland, sondern ebenso in Frankreich und anderswo zum disziplinären Fach wurde. Auch in Japan, wo sich am Ende des Jahrhunderts die Verwissenschaftlichung der Geschichte nach deutschem Muster durchsetzte, diente sie nationalen, politischen Zielen. Im Übrigen trug die neue Geschichtswissenschaft trotz ihres Wissenschaftsanspruches häufig wie bei J. G. Droysen und H. von Treitschke in Deutschland sowie J. Michelet und E. Lavisse in Frankreich zur Untermauerung nationaler Mythen bei.
 
Nach der deutschen Reichseinigung unter (1870/71) entwickelte sich in Deutschland eine stark nationalistisch geprägte Geschichtsschreibung. Antisemitischen Tendenzen Treitschkes trat T. Mommsen entschieden entgegen (»Antisemitismusstreit«).
 
In bewusstem Gegensatz zur eng politisch orientierten Geschichtsschreibung entwickelte sich seit der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Historiographie, die soziale Impulse stärker in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung stellte, im deutschsprachigen Raum z. B. in den Arbeiten G. Freytags und W. H. Riehls. Unter dem Einfluss zahlreicher Zeitströmungen verband sich im 20. Jahrhundert bei O. Spengler die kulturhistorische Sicht der Vergangenheit mit geschichtsphilosophischen Gedankengängen, die wiederum das Werk des britischen Historikers und Kulturtheoretikers A. J. Toynbee beeinflusste (»A study of history«, 1934-61).
 
Ausgehend von einer Krise des Historismus wurde F. Meinecke - neben W. Dilthey und E. Troeltsch - mit seiner Epoche machenden Darstellung (1908) des geistigen Übergangs der Deutschen vom Weltbürgertum zum Nationalstaat im Zeitalter der Befreiungskriege einer der Begründer der Geistes- und Ideengeschichte.
 
Beeinflusst durch K. Marx und F. Engels entwickelte sich eine Geschichtsschreibung, die sich an den sozialen Auseinandersetzungen in der Gesellschaft orientierte. In diesem Sinne schrieb F. Mehring eine marxistische Geschichte der Arbeiterbewegung. G. von Schmoller, K. Lamprecht und O. Hintze gaben der Sozialgeschichte Anstöße. Mit dem Aufstieg der Sozialwissenschaften, besonders durch das Wirken von M. Weber und É. Durkheim, erhielt die moderne Geschichtsschreibung entscheidende Impulse; Gesellschaftsanalyse und Geschichtsschreibung bewegten sich seitdem - besonders unter dem Eindruck der politisch-militärischen Katastrophen und sozialen Krisen des 20. Jahrhunderts - immer stärker aufeinander zu; es kam dabei zu einer grundsätzlichen Veränderung des Blickwinkels. In Opposition zur bisherigen Geschichtsschreibung entwickelte sich in Frankreich die »Histoire synthétique«, in den USA die »New History«. Zahlreiche Historiker orientierten sich nunmehr an den Strukturen der Gesellschaft (Strukturgeschichte), in den Mittelpunkt ihrer Geschichtsschreibung rückte die Darstellung einer umfassenden Sozialgeschichte (Annales; u. a. M. Bloch, L. Febvre, F. Braudel, G. Duby). Die starke Orientierung auf die Geschichte und Analyse sozialer Strukturen wurde aber in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ergänzt durch eine stärkere Betonung der subjektiven, kulturellen Aspekte des geschichtlichen Lebens. Die historische Anthropologie gewann an Bedeutung. Der Gegenstand der Geschichtsschreibung erweiterte sich und bezog die breiten Schichten des Volkes in ihrem alltäglichen Leben in die Geschichte ein. Während im 19. Jahrhundert die Nationalgeschichte eine besondere Bedeutung erreichte, wandten sich Historiker und jetzt zunehmend auch Historikerinnen in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie das Beispiel der Annales zeigt, zunehmend übernationalen oder regionalen Gegenständen zu. Mit dem Zweifel an Fortschritt und Entwicklung in der Geschichte entfernte sich die Geschichtsschreibung von den im 19. Jahrhundert betonten Bemühungen, die Geschichte in der Form einer kontinuierlichen Erzählung (grand narrative) darzustellen. Während im 19. Jahrhundert Vorstellungen von einer zusammenhängenden Weltgeschichte, die eigentlich die Geschichte der europäischen oder der von Europa beherrschten Welt war, dominierten, setzte sich im späten 20. Jahrhundert zunehmend das Bewusstsein durch, dass es nicht eine, sondern viele Geschichten gäbe (z. B. in der italienischen Microstoria) und die Lebenszusammenhänge zunehmender Globalisierung unterliegen.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Geschichtsbewusstsein · Geschichtsphilosophie · Geschichtswissenschaft · Historismus
 
Literatur:
 
Historians of China and Japan, hg. v. W. G. Beasley u. E. G. Pulleybank (1961);
 
Historians of India, Pakistan and Ceylon, hg. v. C. H. Philips (London 1961);
 G. P. Gooch: Gesch. u. Gesch.-Schreiber im 19. Jh. (1964);
 H. Ritter von Srbik: Geist u. Gesch. vom dt. Humanismus bis zur Gegenwart, 2 Bde. (2-31964);
 H. Cancik: Myth. u. histor. Wahrheit (1970);
 W. J. Mommsen: Die Geschichtswiss. jenseits des Historismus (21972);
 G. G. Iggers: Dt. Geschichtswiss. (a. d. Engl., 31976);
 R. Feller u. E. Bonjour: G. der Schweiz. Vom Spät-MA zur Neuzeit, 2 Bde. (Basel 21979);
 
African historiographies, hg. v. B. Jewsiewicki u. a. Beverly Hills, Calif., (1986);
 H. Grundmann: G. im MA (41987);
 
G. u. Geschichtsbewußtsein im späten MA., hg. v. H. Patze (1987);
 
G. zw. Wiss. u. Politik. Dtl. - Frankreich - Polen im 19. u. 20. Jh., hg. v. H. Timmermann (1987);
 L. Niethammer: Posthistorie: Ist die Gesch. zu Ende? (1989);
 G. Endreß: Der Islam. Eine Einf. in seine Gesch. (21991);
 R. S. Humphreys: Islamic history. A framework for inquiry (1991);
 H. White: Metahistory. Die histor. Einbildungskraft im 19. Jh. in Europa (1991);
 O. Lendle: Einf. in die griech. G. Von Hekataios bis Zosimos (1992);
 F. Gundolf: Anfänge dt. G. von Tschudi bis Winckelmann (Neuausg. 3.-4. Tsd. 1993);
 M. Hose: Erneuerung der Vergangenheit. Die Historiker im Imperium Romanum von Florus bis Cassius Dio (1994);
 L. Raphael: Die Erben von Bloch u. Febvre. »Annales« — G. u. »nouvelle histoire« in Frankreich 1945-1980 (1994);
 N. Kersken: G. im Europa der »nationes«. Nationalgeschichtl. Gesamtdarstellungen im MA. (1995);
 D. Rothermund: Gesch. als Prozeß u. Aussage. Eine Einf. in Theorien des histor. Wandels u. der G. (Neuausg. 1995);
 Chinese historiography in comparative Perspective, in: History and Theory, Jg. 35, H. 4 Middletown Conn.,(1996);
 G. G. Iggers: Geschichtswissenschaft im 20. Jh. Ein krit. Überblick im internat. Vergleich (21996);
 C. Simon: Historiographiegeschichte (1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Geschichte: Was ist Geschichte?
 
ab urbe condita: Die römische Geschichtsschreibung
 
Herodot, Thukydides, Xenophon: Vom Geschichtenerzählen zur Geschichtsschreibung
 

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Ge|schịchts|schrei|bung, die: schriftliche Darstellung der ↑Geschichte (1).

Universal-Lexikon. 2012.