Entwicklung.
Unter Entwicklung werden Veränderungen im psychophysischen Bereich verstanden, die sinnvollerweise auf das Lebensalter bezogen werden können. Dabei wird es möglich, Sequenzen von Entwicklungsabschnitten zu unterscheiden, bei denen ein nachfolgender Abschnitt im Regelfall (zumindest im Kindes- und Jugendalter) in qualitativer oder quantitativer Hinsicht als über den vorausgegangenen hinausführend bewertet werden kann. Entwicklung ist also ein gerichteter Prozess. Gemessen am Entwicklungsstand zu einem früheren Zeitpunkt, ist der Entwicklungsstand eines Kindes oder Jugendlichen normalerweise durch einen Entwicklungsfortschritt gekennzeichnet, doch muss auch mit einem Entwicklungsstillstand oder mit einem Entwicklungsrückschritt gerechnet werden.
Aussagen über die steuernden und regulierenden Faktoren des Entwicklungsprozesses versuchen die verschiedenen Entwicklungstheorien zu machen. Dabei werden manchmal Extrempositionen vertreten, die als milieutheoretischer Optimismus oder Empirismus beziehungsweise als milieutheoretischer Pessimismus oder Nativismus bekannt sind. Beide Auffassungen gelten als wenig geeignet, mit ihrer einseitigen Perspektive das komplexe Entwicklungsgeschehen zu erklären. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Entwicklung immer auf einer Wechselwirkung von Anlage- und Umweltfaktoren (Anlage-Umwelt-Problematik), Reifungs- und Lernprozessen beziehungsweise inneren und äußeren Entwicklungsbedingungen beruht. Dies ist die Kernaussage des Konvergenzprinzips. Zu den inneren Faktoren ist neben den Anlagen auch die bewusste Selbststeuerung zu rechnen. Als äußere Entwicklungsbedingungen können auch angebotene oder unterlassene pädagogische Maßnahmen gelten.
Die menschliche Entwicklung ist kein Prozess, der sich von selbst vollzieht; sie ist nicht nur aktive Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt, sondern resultiert auch aus den ständigen Anforderungen der Gesellschaft an das Individuum.
Die soziohistorische Theorie der Entwicklung (L. S. Wygotskij) sieht deshalb nicht das, was ein Kind aktuell vermag, als wesentlich an, sondern das, was es mithilfe der Erwachsenen leisten könnte. Die Förderung eines Kindes soll, ausgehend von der Zone der aktuellen Entwicklung, innerhalb der Zone der nächsten Entwicklung ansetzen. Dabei hilft der kompetentere Partner dem Kind auf dem nächsthöheren Entwicklungsniveau zu Leistungen, zu denen es allein noch nicht fähig ist. Nach einiger Zeit wird dann das Kind selbstständig in der Lage sein, die Anforderungen der neuen Stufe zu bewältigen.
Unter Entwicklungsniveau oder Entwicklungsstufe versteht man einen zeitlich begrenzten Abschnitt des Lebenslaufs, der durch einen charakteristischen, von anderen Entwicklungsstufen abweichenden Entwicklungsstand gekennzeichnet ist. Weit verbreitet sind grobe Einteilungen des Lebenslaufs in die Stufen Kindheit, Jugend, Erwachsenen- und Greisenalter, wobei vielfach noch Teilstadien angegeben werden.
Für eine gezielte Entwicklungsförderung reicht eine solche Grobeinteilung allerdings nicht aus. Mit eigens konstruierten diagnostischen Verfahren wird dort deshalb versucht, Entwicklungssequenzen mit einem weit höheren Auflösungsgrad zu erfassen.
Im Verlauf der Entwicklung können auch Ereignisse eintreten, die ein Stehenbleiben der Entwicklung (Fixierung) auf einer Entwicklungsstufe oder eine Regression, das heißt ein Zurückfallen auf eine frühere Entwicklungsstufe, zur Folge haben. In beiden Fällen spricht man von Entwicklungsstörungen. Dagegen stellen Entwicklungsbeschleunigungen (Akzelerationen) oder Entwicklungsverzögerungen (Retardierungen) nicht unbedingt Störungen der Entwicklung dar, sondern sind zumeist im Bereich des Normalen liegende Varianten des Entwicklungstempos. Aufgrund solcher Schwankungen des Entwicklungstempos entspricht der Entwicklungsstand nicht immer der Altersnorm. Mithilfe von Entwicklungstests lassen sich Entwicklungsbeschleunigungen und -verzögerungen erfassen und durch einen Entwicklungsquotienten auch in Zahlen ausdrücken.
Anders als bei diesen am Durchschnitt der betreffenden Altersgruppe orientierten Verfahren sind Entwicklungsskalen konzipiert, bei denen im Rahmen einer Entwicklungsdiagnose der Entwicklungsstand eines Individuums relativ zu den einzelnen Stufen einer oft als natürlich begriffenen Entwicklungssequenz erfasst wird. Die Stadien der Denkentwicklung nach Piaget mit ihren Teilstadien und Zwischenstufen können als eine solche natürliche Abfolge von Entwicklungsschritten interpretiert werden. Entwicklungsskalen der genannten Art haben den Vorteil, dass sie bei Bemühungen zur Entwicklungsförderung (etwa bei geistig oder lernbehinderten Kindern) sowohl Informationen über die Zone der aktuellen Entwicklung als auch über die Zone der nächsten Entwicklung liefern.
Universal-Lexikon. 2012.