Montesquieu
[mɔ̃tɛs'kjø], Charles de Secondat [də səkɔ̃'da], Baron de la Brède et de Montesquieu [də la'brɛːd-], französischer Schriftsteller und Staatsphilosoph, * Schloss La Brède (bei Bordeaux) 18. 1. 1689, ✝ Paris 10. 2. 1755; wurde nach humanistischen und juristischen Studien 1714 Parlamentsrat, 1716-26 Präsident des Parlaments (des Gerichts) von Bordeaux, bereiste dann fast alle europäischen Länder (Englandaufenthalt 1729-31) und wurde Mitglied mehrerer Akademien; zuletzt war er fast völlig erblindet.
Schlagartig berühmt wurde Montesquieu mit den »Lettres Persanes« (1721; deutsch u. a. als »Persische Briefe«), einer sarkastischen, halb romanhaften Darstellung französischer und europäischer Verhältnisse in Form einer fiktiven Korrespondenz zweier Perser, die Frankreich bereisen. Der Abstand der Fremden, deren Urteile wiederum fragwürdig erscheinen, lassen das geistvolle Buch zu einem frühen Beispiel des Kulturrelativismus werden. Die »Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence« (1734; deutsch u. a. als »Betrachtungen über Ursachen der Größe und des Verfalls der Römer«) leiten die Größe Roms aus dem Prinzip der Freiheit, aber auch der strikten Staatsräson ab, in der Montesquieu ähnlich wie N. Machiavelli ein Lebensrecht politischer Gebilde sieht, und deuten den Verfall des Imperiums als Folge einer zu großen Gebietsausdehnung und der Preisgabe jener ursprünglichen Prinzipien.
Mit seinem Hauptwerk, »De l'esprit des lois« (1748; deutsch »Vom Geist der Gesetze«), erhob Montesquieu die Staatswissenschaft in den Rang einer umfassenden Kulturphilosophie. Ausgehend von der antiken Lehre der drei Staatsformen (Demokratie, Monarchie, Despotie), untersucht er - ebenfalls in Fortbildung einer antiken Lehre - jede dieser Formen in ihrer Abhängigkeit von natürlichen, besonderen geographischen und klimatischen Bedingungen. Seine eigentliche Leistung besteht darin, dass er einen Staat nicht nur als politisches System auffasst, sondern in Verbindung bringt mit allen gesellschaftlichen, rechtlichen, wirtschaftlichen und moralischen Eigentümlichkeiten einer Nation, die sowohl in ihren organischen Beziehungen untereinander als auch in ihrer gemeinsamen Prägung durch die jeweilige Natur gedeutet werden. Obwohl er mit den naturwissenschaftlichen Begriffen des Gesetzes und der mechanischen Kausalität arbeitet, ist Montesquieu zu einem der wichtigsten Begründer des historischen Denkens geworden, weil er an die Stelle der Staatsutopie und der einheitlichen, von der Vorsehung gelenkten Universalgeschichte die Anschauung der nationalen Individualitäten setzt. Obwohl er die Demokratie antiken Stils bevorzugt, wünscht er realpolitisch nur eine Beseitigung des Absolutismus, dessen Gesellschaftsstruktur er in einer noch heute unübertroffenen Weise durchleuchtet hat, zugunsten einer nach englischem Vorbild entworfenen konstitutionellen Monarchie. »De l'esprit des lois«, eines der wichtigsten Werke der französischen Aufklärung, wirkte wesentlich auf die Verfassung der Französischen Revolution von 1791 und auf die der USA, darüber hinaus durch die Lehre von der Gewaltenteilung auf die moderne Demokratie.
Zu Montesquieus reizvollsten erzählerischen Schriften gehören die philosophisch-satirischen Romane »Le temple de Gnide« (1725; deutsch »Der Tempel zu Gnidus«) und »Histoire véritable« (postum, kritische Ausgabe von R. Caillois, 1948; deutsch »Wahrhaftige Geschichte«). Als glänzender Aphoristiker und Moralist zeigt er sich in seinen aus dem Nachlass veröffentlichten tagebuchähnlichen Aufzeichnungen (»Pensées et fragments inédits«, 2 Bände, 1899-1901; deutsch »Gedanken«, in: »Die französischen Moralisten«, 1948).
Ausgaben: Œuvres complètes, herausgegeben von E. Laboulaye, 7 Bände (1875-79, Nachdruck 1972); Œuvres complètes, herausgegeben von A. Masson, 3 Bände (1950-55).
Sämmtliche Werke, 10 Bände (1827-31).
V. Klemperer: M., 2 Bde. (1914-15);
W. Krauss: Studien zur dt. u. frz. Aufklärung (1963);
R. Shackleton: M. A critical biography (Neuausg. London 1970);
S. Goyard-Fabre: La philosophie du droit de M. (Paris 1973);
C. J. Beyer: Nature et valeur dans la philosophie de M. (Paris 1982);
L. Desgraves: Répertoire des ouvrages et des articles sur M. (Genf 1988);
L. Desgraves: M. (a. d. Frz. (1992);
J. Starobinski: M. (a. d. Frz., Neuausg. 1995);
P. Kondylis: M. u. der Geist der Gesetze (1996);
Universal-Lexikon. 2012.