Wanderung
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Mi|gra|tion [migra'ts̮i̯o:n], die; -, -en:Abwanderung von Menschen in ein anderes Land, in eine andere Gegend, an einen anderen Ort; Auswanderung:
Migration ist eine der großen Herausforderungen unserer Zeit.
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Mi|gra|ti|on auch: Mig|ra|ti|on 〈f. 20〉
1. Wanderung (von Bevölkerungsgruppen, auch von Zugvögeln)
2. Wirtswechsel (von Parasiten)
3. Wanderung von Erdöl od. Erdgas aus dem sie bildenden Muttergestein in ein umliegendes Speichergestein
[zu lat. migratio „Wanderung, Auswanderung“]
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Mi|g|ra|ti|on [lat. migratio = Wanderung, Auswanderung]:
1) in der Kunststoff- u. Textiltechnik Bez. für die unerwünschte Diffusion von Pigmenten, Weichmachern, Stabilisatoren u. a. Additiven aus dem Werkstoffinneren an die Oberfläche;
2) in der Geologie Bez. für die Wanderung von Erdöl u. Erdgas aus dem Mutter- in das Speichergestein;
3) in der org. Chemie (im dt. Sprachgebrauch unübliche) Bez. für Wanderungen von Gruppen oder Bindungen bei Umlagerungen, vgl. migro-.
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1.
a) (Biol., Soziol.) Wanderung od. Bewegung bestimmter Gruppen von Tieren od. Menschen;
b) (Soziol.) Abwanderung in ein anderes Land, in eine andere Gegend, an einen anderen Ort:
illegale M.;
die M. aus der Dritten Welt.
2. (EDV) das Migrieren von Daten, z. B. in ein anderes Betriebssystem.
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I Migration
[dt. »Völkerwanderung«], Umstellung eines Computersystems, z. B. auf ein anderes Betriebssystem.
II
Migration
1) Biologie: eine dauerhafte Abwanderung (Emigration) oder dauerhafte Einwanderung (Immigration) einzelner bis vieler Individuen (Migranten) aus einer Population in eine andere Population der gleichen Art. Einwanderungen schließen Ansiedlungen der betreffenden Individuen ein. Je nach den Verhältnissen, die die zugewanderten Tiere vorfinden, kann es durch Isolation zu einer neuen Unterart oder (später) Art kommen (Migrationstheorie). Zuwanderungen ohne Ansiedlung werden als Durchzug (Permigration) bezeichnet (z. B. während eines Vogelzugs). Einen Sonderfall der Migration bildet die Invasion.
Migration
die, -/-en, Wanderung, sozialwissenschaftlicher und politisch-historischer Begriff, der Prozesse räumlicher Bewegung von Menschen bezeichnet. Das jeweilige Erscheinungsbild von Migration wird von zahlreichen Faktoren bestimmt. Hierzu gehören geographische, klimatologische und demographische Aspekte ebenso wie ökonomische, ökologische, politische, soziale und nicht zuletzt religiöse und kulturelle Impulse und Bedingungen. Für die Bevölkerungsentwicklung eines Landes stellt die Migration neben Fruchtbarkeit und Sterblichkeit die dritte wichtige Komponente dar. Im Zentrum der Migrationsforschung stehen neben einer das Gattungswesen Mensch betreffenden anthropologischen Fragestellung auch Untersuchungen über die Erwartungen der jeweiligen Individuen, die sich zur Migration entscheiden oder dazu gezwungen sehen. In der Bevölkerungs-Wissenschaft und in der Migrationssoziologie bezeichnet Migration auf Dauer angelegte räumliche Bewegungen von Menschen und Gruppen (F. Tönnies), wobei die Verlagerung des Lebensmittelpunktes oder Wohnortes als Maßstab der Zuordnung gelten kann. Andere Formen räumlicher Mobilität, also etwa Reisen und Pendeln, werden damit ausgeschlossen, auch wenn Letzteres zuweilen als Form der zirkularen Migration angesprochen wird.
Migrationsforschung und Formen der Migration
Eine erste, an mathematischen Modellen orientierte Untersuchung zur Erforschung von Migrationsprozessen legte E. G. Ravenstein 1885 vor; in der Folge entwickelte sich Migrationsforschung zunächst in den »klassischen« Einwanderungsländern, besonders in den USA. Hier standen Prozesse der Assimilation, des Kulturschocks und der Marginalisierung im Vordergrund (R. E. Park; W. I. Thomas), danach die Untersuchung von Eingliederungsprozessen im Blick auf die weiteren Generationen (Einwandererkolonie). Eine andere Quelle der Migrationsforschung stellen bevölkerungswissenschaftliche und soziologische Untersuchungen zu den Formen der Binnenmigration, zu statistischen Erfassungsmöglichkeiten und zu den Möglichkeiten von Prognosen dar (R. Heberle). Eine mikrosoziologisch orientierte Forschung untersucht vorrangig die Perspektiven der Individuen, analysiert aber auch - so J. A. Schumpeter oder R. Thurnwald - soziale Folgen und Prozesse der Einwanderung von Eliten, die Mechanismen der »sozialen Siebung« u. ä. Erscheinungsformen des Migrationsprozesses. Dagegen geht es in den makrosoziologischen Betrachtungen um die Erfassung, Beschreibung und Interpretation von Migrationsbewegungen zwischen mehreren Regionen, in größeren Gruppen und globalen Zusammenhängen. Angesichts weltweit zunehmender Migrationsbestrebungen sind Migrationsforschungen im Zusammenhang mit Arbeitsmarkt- und Entwicklungspolitik, Friedensforschung sowie mit der Regelung innergesellschaftlicher Konflikte zwischen unterschiedlich lange ansässigen und kulturell verschieden orientierten sozialen Gruppen bedeutsam.
Als entscheidend für den Charakter einer bestimmten Migration erweisen sich damit nicht nur die Bewegungen »von Menschen über Grenzen, sondern auch die Bewegung von Grenzen über Menschen hinweg« und nicht zuletzt »die Ausgrenzung von, Fremden' innerhalb der Grenzen selbst« (Klaus Jürgen Bade, * 1944).
Unterschieden werden im Allgemeinen innergesellschaftliche Migration (Binnenmigration; Nah-/Fernmigration; Stadt-Land-Migration, Zu-/Abwanderung) von zwischengesellschaftlichen beziehungsweise zwischenstaatlichen und Überseemigration (Außenmigration; internationale, interkontinentale Migration). Nach dem Grad der Zielgerichtetheit einer Migration lassen sich Auswanderung und Einwanderung je nach dem Anlass, der zur Migration führt, freiwillige und erzwungene Migration unterscheiden. Bei Letzterer kann die Breite der Zwangserfahrungen wirtschaftliche Benachteiligung und religiöse Diskriminierung von Minderheiten ebenso umfassen wie direkte Gewalt (Deportation, Verbannung, Ausweisung, Zwangsumsiedlung, Bedrohung mit physischer Vernichtung). Migrationen können auch danach eingeteilt werden, ob sie sich auf Individuen als Träger beziehen (individuelle Migration, die, falls erfolgreich, oft weiter gehende Migrationsbewegungen, z. B. Kettenmigration, auslöst) oder ob es sich um die Migration größerer Einheiten (Familien, Gruppen, Stämme Völker, Angehörige bestimmter Konfessionen) handelt (Gruppenmigration), ferner ob es - zumindest der Perspektive ihrer Träger nach - einmalige, auf Zeit angelegte oder regelmäßige (zyklische), also zeitlich begrenzte Migrationen sind; zu Letzteren zählen Nomaden wie auch Saison- und Wanderarbeiter.
Die Bevölkerungs-Wissenschaft unterscheidet zwischen dem Migrationssaldo (Nettomigration), d. h. der Differenz zwischen Ein- und Auswanderung, und Messziffern wie der Migrationsrate (Mobilitätsziffer), die die Zahl der Ein- beziehungsweise Auswanderer auf die Einwohnerzahl (in der Regel 1 000 Einwohner) bezieht. Zusätzlich werden geschlechts- und altersspezifische Migrationsraten berechnet.
Ursachen
Da räumliche Veränderungen ein Merkmal menschlichen Verhaltens sind, können nahezu alle Impulse, die menschliches Handeln und Verhalten bewirken, auch als Anlässe individueller und globaler Migrationsbestrebungen angesehen werden. Hinzu kommt die Tatsache, dass sich Sesshaftigkeit als Gegenmodell zur Lebensform der Wanderschaft stammesgeschichtlich erst vergleichsweise spät ausgebildet hat. Als Ursachen für Migration (im engeren Sinn) können dagegen solche Umstände und Ereignisse angesehen werden, die zahlreiche Individuen und Gruppen oder ganze Bevölkerungsteile zur Migration veranlassen. Das sind zunächst die nicht von den Menschen verantwortlich bewirkten, also gleichsam »natürliche« Anlässe, wie etwa Naturkatastrophen oder Umweltveränderungen wie Klimaverschlechterungen, Bodenerosion oder Bodenerschöpfung, Wasserverknappung (Desertifikation), aber auch Kriege, Armut und Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit, politische oder religiöse Verfolgung, die auf gesellschaftlicher Verantwortung zurückverweisen, auch wenn der Einzelne darauf oft keinen Einfluss zu nehmen vermag. Gegenwärtig treten jedoch zunehmend die »natürlichen« Migrationsursachen als Folgen menschlichen Handelns in Erscheinung, so etwa die Migration aufgrund wachsender Bevölkerungszahlen im Zusammenhang des mit der Entwicklung zur Industriegesellschaft verbundenen demographischen Übergangs. Hierzu gehört die in zahlreichen Ländern der Dritten Welt stattfindende Landflucht, mit der die Menschen auf die Verschlechterung ihrer natürlichen Lebensgrundlagen und auf die Folgen strukturell heterogener Entwicklung und gesellschaftlicher Benachteiligung reagieren.
I. Allgemeinen werden in der Migrationsforschung Druck- und Sogfaktoren (»Push«- und »Pull«-Faktoren) unterschieden; bei den Ersteren handelt es sich um Faktoren wie Menschenrechtsverletzungen, Bedrohungen von Minderheiten, Krieg und Bürgerkrieg, Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger, Verelendung und Umweltprobleme, die Menschen dazu bewegen oder zwingen, sich anderswo bessere (Über-)Lebensbedingungen zu suchen. Bei den Sogfaktoren treten die Hoffnungen, Erwartungen, gegebenenfalls auch die Versprechungen und Angebote in Erscheinung, die bestimmte Ziele für Wanderungswillige attraktiv machen können. Darüber hinaus spielen bessere Lebensbedingungen wie gute Ausbildungsmöglichkeiten und ein breiteres Angebot des Arbeitsmarkts eine Rolle. Für eine genauere Klassifizierung der Ursachen müssen allerdings noch andere Faktoren wie soziale Schichtzugehörigkeit, Berufs- und Ausbildungsstand, Geschlechtszugehörigkeit und Lebensalter berücksichtigt werden. Schließlich stellen politische (z. B. die Förderung von Migration zur Reduktion innergesellschaftlicher Probleme) und soziale (z. B. Familienzusammenführung) sowie allgemeine gesellschaftliche und technologische Entwicklungen, z. B. die Verbesserung der Verkehrsmittel, verbreitete Kenntnisse über die Attraktivität bestimmter Länder und Gebiete, insbesondere die zunehmende Vernetzung der Erde durch (Massen-)Kommunikationsmittel und eine je nach Schichten unterschiedliche Angleichung bestimmter Lebensformen und -vorstellungen wichtige Ursachen der weltweiten Migrationsvorgänge dar. Sie gehören heute zu den vordringlichsten globalen Problemen.
Migration in der Geschichte
Nach der zurzeit dominierenden wissenschaftlichen Erkenntnis über den Ursprung menschlicher Populationen hat sich die Menschheit in einer komplizierten Kette von Migrationen von Afrika aus über den ganzen Planeten ausgebreitet. Eine historische Betrachtung der Anfänge von Migration muss also notwendig zu kurz greifen. Eine Möglichkeit bietet die Differenzierung in historischen und neuzeitlichen Migrationen, wobei die Trennungslinie der Betrachtung mit der von Europa ausgehenden Einführung systematischer Erfassung der Migrationsbewegungen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts gezogen wird. Eine andere Möglichkeit bietet die Beachtung historischer »Schwellen« (B. Schäfers). Menschheitsgeschichtlich sind drei große »Schwellen« auszumachen: Migration vor der Sesshaftwerdung; Migration prinzipiell Sesshafter; Migration (mit der dominant werdenden Arbeitskräftemigration) seit Beginn der Industrialisierung und Verstädterung. In der historischen Entwicklung Europas spielen v. a. die Migrationsbewegungen zu Beginn der abendländischen Geschichte (Einwanderungen nach Griechenland und Italien, Ausbreitung indogermanischer Sprachen in Zentral- und Westeuropa) und die Veränderungen der politischen Geschichte, der Siedlungsräume und der kulturellen Grenzen durch das Hinzutreten bislang nicht ansässiger Menschen und Bevölkerungsgruppen (»Völkerwanderung«, Bedeutung der normannischen, tatarischen, arabischen, osmanischen, aber auch der christlichen Expansion) im Laufe des Mittelalters und der frühen Neuzeit eine wichtige Rolle, wobei die Existenz von in Europa ansässigen Nomaden ebenso wenig vergessen werden darf wie die Situation der durch Antisemitismus und zahlreiche Pogrome (Judenverfolgung) immer wieder zur Migration gezwungenen Juden. Die neuzeitliche Geschichte der Migration mit ihren bis heute anzutreffenden Strukturen, Folgen und Problemen beginnt mit der Entstehung des »modernen Weltsystems« (I. Wallerstein) durch die Entdeckung Amerikas und die damit forcierte europäische Expansion. Bereits das Leben der Menschen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit war trotz einer rigiden Ständeordnung und der Ansätze der frühmodernen Territorialstaaten zur Ansiedlung, ja zur »Einschließung« (M. Foucault) ganzer Bevölkerungsgruppen und zur Ausgrenzung Landfremder (M. Stolleis) in einem erheblichen Maß von Wanderschaft und einem unsteten Leben geprägt. Soziale Entwurzelung, die Reaktionen auf Kriege, Hunger, Armut und Naturkatastrophen, Bevölkerungs-Überschuss und nicht zuletzt die Suche nach Abenteuern hatten neben der christlichen Pilger- oder Wallfahrtstradition schon die Bereitschaft zur Teilnahme an den Kreuzzügen des Hochmittelalters gestärkt; sie begründeten für die Neuzeit das, was L. Febvre den »Nomadengeist« der Epoche genannt hat. Durch die neuzeitliche Entdeckung Amerikas erhielten diese Bestrebungen und Impulse ein neues Ziel, und es wird verständlich, dass es zunächst Abenteurer und gesellschaftlich wenig integrierte Personen waren, die das Gros der Konquistadoren und ersten Auswandererkontingente stellten. Wurden so, nicht zuletzt durch die Erzählungen von »El Dorado« und dem Gold der amerikanischen Indianer, die Sogfaktoren der europäischen Expansion verstärkt, so nahmen im Zuge der europäischen neuzeitlichen Entwicklung auch die Druckfaktoren zu. Hierzu gehören neben dem Wachstum der Bevölkerung v. a. die konfessionellen und religiösen Spannungen sowie die mit der Einrichtung der Territorialstaaten verbundenen beziehungsweise durch diese beendeten Bürgerkriege, die Auswanderung und Flucht in die überseeischen Gebiete in Gang setzten. Auch innerhalb Europas wurden zahlreiche Bevölkerungsgruppen zur Migration gezwungen (die spanischen Juden im 15. Jahrhundert, die Protestanten aus den südlichen Niederlanden im 16. Jahrhundert, die Hugenotten am Ende des 17. Jahrhunderts aus Frankreich). In dieser ersten großen Migrationsbewegung wanderten bis zum 18. Jahrhundert etwa 2-3 Mio. Europäer nach Übersee aus, und gleichzeitig wurden etwa 7,5 Mio. Menschen aus Afrika als Sklaven verschleppt. Die zweite große Migrationsbewegung setzte im 19. Jahrhundert ein. Sie hatte gesellschaftliche Umbrüche des 18. Jahrhunderts zur Voraussetzung (Französische Revolution, industrielle Revolution, soziale Frage und Liberalismus). So stieg die Zahl der Auswanderer von Europa nach Übersee von 120 000 Menschen im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts auf 8,5 Mio. im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Insgesamt wanderten im 19. Jahrhundert etwa 29 Mio. Menschen von Europa nach Übersee aus (A. R. Zolberg). Im gleichen Zeitraum erreichte die Binnenmigration in Europa ein nie gekanntes Ausmaß: Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte, Ost-West-Migration innerhalb des Deutschen Reiches, Entstehung der modernen Industriezentren mit Massenverelendung, Wohnraumnot und sozialer Desintegration, die letztlich die Entscheidung zur Migration als »problemlösendes Sozialverhalten« (G. Albrecht) erscheinen lassen. Dies betraf zunächst Irland und England, in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts auch Deutschland und Italien. Auswanderung war weithin Export der sozialen Frage.
Von den Hungerjahren 1816/17 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 kamen 5,5 Mio. Deutsche in die USA, allein zwischen 1846 und 1893 jährlich meist über 100 000, in den 1850er- und 1880er-Jahren auch über 200 000 Auswanderer (K. J. Bade). Erstmals trat auch innereuropäisch eine beträchtliche Arbeitsmigration in Erscheinung, die wie in der Gegenwart von den Niedriglohnländern zu Ländern mit einem höheren Lohnniveau führte: von Irland nach England, von Spanien nach Frankreich, aus Italien in die Schweiz und nach Frankreich, von Polen nach Deutschland und Frankreich. Seit den 1970er-Jahren, besonders aber ab 1989/90, ist die Bundesrepublik Deutschland das wichtigste Zielland für Zuwanderungen aus europäischen und zunehmend auch aus außereuropäischen Ländern.
Bevölkerungswissenschaftliche und soziologische Aspekte zur Migration im 20. Jahrhundert
Neben Armuts- und Arbeitsmigration sowie der politisch erzwungenen Migration setzte mit der Weiterentwicklung der industriegesellschaftlichen Lebensformen und der zum Teil unfreiwilligen Industrialisierung vieler außereuropäischer Gesellschaften, die mit der Zerstörung traditioneller Gesellschafts- und Familienformen einhergeht, mit dem 19. Jahrhundert eine Entwicklung ein, die die Migrationsbewegungen bis in die Gegenwart hinein bestimmt: Einer abflachenden Bevölkerungsentwicklung in den industrialisierten Staaten Westeuropas und Nordamerikas steht ein starker Bevölkerungsanstieg v. a. in Afrika und Asien gegenüber. Europa verliert in der Folge seine Bedeutung als Auswanderungsregion und wird zunehmend zum Zielgebiet von Einwanderung. Hiermit korrespondierend wurde seit der Wende zum 20. Jahrhundert versucht, die Migrationsbewegungen zu steuern beziehungsweise mithilfe von Restriktionen zu verlangsamen oder zu stoppen. Im 20. Jahrhundert wurden besonders von autoritären Staaten zusätzliche Schranken gegen die Auswanderung errichtet (Zolberg). Nicht allein hierdurch nimmt die Migration politisch Verfolgter als Reaktion auf politische Unterdrückung, Vertreibung oder sonstige Gewalttätigkeiten (Folter) neben der Armutsmigration und der Arbeitsmigration eine zentrale Stelle ein. Alle Einschätzungen gehen davon aus, dass sich der Migrationsdruck in den nächsten Jahrzehnten bei einer wachsenden Weltbevölkerung, bei sich verschlechternden ökologischen Bedingungen und bei zunehmender Verelendung großer Teile der Weltbevölkerung verstärken wird, zumal sich die wohlhabenderen Länder zunehmend abschotten. Auch politische Unsicherheiten und Destabilisierung spielen hier eine wichtige Rolle, besonders seit 1989. Nach Umfragen aus dem Jahr 1992, die im Auftrag der EU durchgeführt wurden, dachten etwa 13 Mio. Bürger Osteuropas an eine Westmigration (A. Mühlum), nach Befragungen von 1991 waren es etwa 10 % der Gesamtbevölkerung. Inzwischen ist aber festzustellen, dass die großen Ströme (bisher) ausgeblieben sind. Neben der Ost-West-Migration, die auf dauerhaftes Aus- beziehungsweise Einwandern gerichtet ist, hat sich zunehmend eine grenzüberschreitende »Mobilität« entwickelt. Sie ist überwiegend legal im Rahmen gegebener Reisemöglichkeiten. Die wesentlichen Migrationsbewegungen vollziehen sich u. a. auch deshalb außerhalb Europas und haben nicht Europa als Ziel. Tatsächlich betreffen die weltweiten Migrationsbewegungen v. a. diejenigen Länder, die wie Äthiopien, Somalia, Malawi, Liberia und Sudan von verschiedenen Katastrophen und politischen Unsicherheiten betroffen sind und gegenseitiges Ziel der Migrations- und Fluchtbestrebungen der jeweiligen Bevölkerung geworden sind. Die zentralen Migrationsbewegungen finden derzeit in Südostasien, an der Grenze Mexikos zu den USA, in den unterschiedlichsten Regionen Afrikas, im Mittelmeerraum sowie in den Golfstaaten statt, während die nördlicher gelegenen Staaten der EU v. a. von Flüchtlingen aus dem postkommunistischen Osteuropa aufgesucht werden. Allein im Jahrzehnt 1990-1999 belief sich der Zuwanderungsüberschuss aus den Außenwanderungen von Deutschen und Ausländern auf rd. 5 Mio. Personen.
Entwicklungen in Deutschland
Das Problem der gesellschaftlichen Integration von »Fremden« (Immigranten) hat es in Deutschland schon in Mittelalter und früher Neuzeit gegeben (z. B. Juden, Salzburger Exulanten, Hugenotten). Während Deutschland im 19. Jahrhundert v. a. als Auswanderungsland in Erscheinung trat, vollzog sich mit der Industrialisierung ab 1870/80 der Umbruch von einem Auswanderungs- zu einem »Arbeitseinfuhrland« (Bade), v. a. durch die Einwanderung von Polen in das Industriegebiet an der Ruhr. Im 20. Jahrhundert (Kriegswirtschaft in den beiden Weltkriegen, Saisonarbeiter in Ostdeutschland während der Zeit der Weimarer Republik, Zwangsarbeit und Deportation von Menschen während der nationalsozialistischen Herrschaft als erzwungene Migration) stellte - mit unterschiedlichen Konjunkturen - der Arbeitskräftebedarf der deutschen Industrie und Landwirtschaft das Kriterium für den Umgang mit Ein- beziehungsweise Zuwanderung dar.
Deutschland hat seit 1945 mehrere große Einwanderungsschübe erlebt: Die Aufnahme von knapp 15 Mio. Flüchtlingen und Vertriebenen nach 1945 brachte sowohl für die von der Vertreibung betroffenen Menschen als auch für die aufnehmende Gesellschaft die Aufgaben und Belastungen eines tatsächlichen Einwanderungsprozesses mit sich (Bade). Zwischen 1950 und dem 13. 8. 1961 (Bau der Berliner Mauer, Abriegelung der innerdeutschen Grenze) kam eine hohe Zahl von Migranten aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland (Sowjetzonenflüchtling). Bereits Mitte der 1950er-Jahre, verstärkt aber ab 1961, begann mit der Anwerbung zunächst italienischer, dann aus dem gesamten Mittelmeerraum stammender Arbeitsmigranten eine weitere Phase der Migration, die bis zum Anwerbestopp im Jahr 1973 etwa 14 Mio. Menschen in die Bundesrepublik Deutschland führte, von denen etwa 11 Mio. zurückkehrten. Mit einer sich schon in den späten 60er-Jahren abzeichnenden Migration von Familienangehörigen ausländischer Arbeitnehmer verringerte sich ab 1973/74 die Ausländerfluktuation, während sich die Zahl beziehungsweise der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung durch eben diesen Zuzug sowie die höhere Geburtenrate gegenüber den Deutschen erhöhte. Das Rückkehrhilfegesetz von 1984 konnte diesen Trend nur kurzfristig umkehren. Schließlich setzte Ende der 1980er-Jahre eine verstärkte Migration von deutschstämmigen Aus- und Übersiedlern aus Osteuropa ein. (zwischen 1988 und 2000 insgesamt 2,7 Mio. Personen). Durch den politischen Umbruch in Osteuropa erhöhte sich die Einwanderung nach Deutschland ebenso wie durch die im Laufe der 1980er-Jahre zunehmende Zahl von Schutz Suchenden aus den unterschiedlichsten Krisengebieten der Erde. Infolge gesetzlicher Änderungen zum Asylrecht (Mai 1993) gingen die Asylanträge jedoch bereits 1993 auf 323 000 zurück, 2000 auf circa 79 000. Dagegen ist aufgrund der instabilen Verhältnisse in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die Zahl der Einwanderungswilligen deutlich gestiegen (so suchen neben den Deutschstämmigen als Reaktion auf den wachsenden Antisemitismus in Osteuropa auch Juden in Deutschland Zuflucht). (Aussiedler, Spätaussiedler, Deutschland, Bevölkerung).
Im Hinblick auf die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, wird zwischen folgenden Sichtweisen unterschieden: 1) Im rechtlichen Sinn ist Deutschland kein Einwanderungsland. Deutschland hat kein Einwanderungsgesetz, die Begriffe »Einwanderer« oder »Migrant« kommen im Grundgesetz und im Ausländergesetz nicht einmal vor. 2) Viele Zuwanderer haben keine dauernde Bleibeabsicht, sie verstehen sich als Saison- oder Gastarbeiter oder haben als Flüchtlinge oder Asyl Suchende die Absicht, in ihre Heimatländer zurückzukehren. Faktisch beträgt aber die Aufenthaltsdauer bei weit mehr als der Hälfte der zugezogenen Ausländer über zehn Jahre. 3) In der politischen Öffentlichkeit und im Bewusstsein der Bevölkerung spielen die genannten Daten und Fakten erst in jüngster Zeit eine größere Rolle. Die von der Regierung eingesetzte so genannte Süssmuth-Kommission hat im Juli 2001 ihre Vorschläge für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt. Aus demographischen und wirtschaftlichen Gründen (Abmilderung des Bevölkerungsrückgangs und der Alterung, Mangel an hochqualifizierten Fachkräften) wird eine Einwanderung in begrenztem Umfang für notwendig erachtet. Nach den Vorstellungen der Kommission sollen 20 000 Bewerber im Jahr nach einem Punktesystem ausgewählt und auf Dauer ins Land gelassen werden; weitere circa 20 000 Personen sollen für maximal 5 Jahre angeworben werden können, um eine akute Lücke auf dem Arbeitsmarkt zu schließen. Ob eine parteiübergreifende gesetzliche Regelung der Einwanderungsfrage gelingt, ist zur Zeit noch offen.
Die Folgen der Zu- beziehungsweise Einwanderungen werden unter Themen wie Integration, Assimilation, Akkulturation und multikulturelle Gesellschaft kontrovers diskutiert.
Angesichts der vielfältigen kulturellen, sozialen, ökonomischen und politischen Faktoren hinsichtlich der Ursachen und des Erscheinungsbildes von Migrationen lassen sich Reaktionen und Folgen im Umgang mit anderen und fremden Menschen nicht allein auf angenommene anthropologische oder sogar genetische Grundlagen reduzieren. Tatsächlich sind die Folgen so unterschiedlich wie die Ursachen von Migrationen und die Situationen in den einzelnen Ländern und Aufnahmegesellschaften. Kosten-Nutzen-Rechnungen können allenfalls als ein Indiz zur Beurteilung des Phänomens genommen werden, dem andere Aspekte - Menschenrechte, internationale Arbeitsteilung, unaufhebbare internationale Vernetzung und wirtschaftliche Abhängigkeitsbeziehungen, Exportorientierung, aber auch Ressentiments in der Aufnahmegesellschaft, begrenzte Kapazitäten u. a. - gegenübergestellt werden müssen. Derzeitige Rechnungen - unter Abwägung der ökonomischen Folgen - ergeben, dass die Zuwanderer für die deutsche Gesellschaft einen Überschuss erwirtschaften, und weisen auf die Notwendigkeit von Einwanderern in der Zukunft (H. Geissler) hin. Erfolgsrechnungen, die auf den gesamtgesellschaftlichen Nutzen einer kontrollierten Einwanderung verweisen, stehen oftmals tief sitzende Ressentiments gegenüber, die sich ihrerseits auf das Scheitern verschiedener Vorstellungen eines konfliktfreien Lebens unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen (»melting pot«; Ethnisierung politischer Konflikte z. B. in den Großstädten der USA) stützen können. Migration bedeutet aber auch für die abgebenden Gesellschaften mitunter den Verlust der leistungsfähigsten beziehungsweise gut ausgebildeten oder politisch engagierten Kräfte, die so nicht mehr für die Entwicklung des eigenen Landes zur Verfügung stehen (Braindrain).
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Asylrecht · Ausländer · ausländische Arbeitnehmer · Auswanderung · Bevölkerungsentwicklung · Einwanderung · Flüchtlinge · globale Probleme · Landflucht · Mobilität · multikulturelle Gesellschaft · Nord-Süd-Konflikt
E. G. Ravenstein: The laws of migration, in: Journal of the Royal Statistical Society, Jg. 48 u. Jg. 52 (London 1885 u. 1889); R. Heberle: Theorie der W., in: Schmollers Jb. für Gesetzgebung, Verw. u. Volkswirtschaft, Bd. 75 (1955);
G. Albrecht: Soziologie der geograph. Mobilität (1972);
H. Harbach: Internat. Schichtung u. Arbeitsmigration (1976);
H. Esser: Aspekte der Wanderungssoziologie (1980);
P. Franz: Soziologie der räuml. Mobilität (1984);
Das Weltflüchtlingsproblem, hg. v. P. J. Opitz (1988);
Generation u. Identität. Theoret. u. empir. Beitrr. zur Migrationssoziologie, hg. v. H. Esser u. J. Friedrichs (1990);
J. A. Hauser: Bevölkerungs- u. Umweltprobleme der Dritten Welt, 2 Bde. (Bern 1990-91);
Transnat. Migranten in der Arbeitswelt. Studien zur Ausländerbeschäftigung in der Bundesrep. Dtl. u. zum internat. Vergleich, hg. v. J. Fijalkowski (1990);
World population monitoring, hg. v. Department of International Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen (New York 1990 ff., früher u. a. T.);
P. J. Brenner: Reisen in die Neue Welt (1991);
D. Oberndörfer: Die offene Rep. Zur Zukunft Dtl.s u. Europas (1991);
L. Hoffmann: Die unvollendete Rep. Zw. Einwanderungsland u. dt. Nationalstaat (21992);
Rassismus u. M. in Europa, hg. vom Inst. für Migrations- u. Rassismusforschung e. V. (1992);
Sozialwiss. Studien über das Weltflüchtlingsproblem, hg. v. J. Blaschke u. A. Germershausen, auf mehrere Bde. ber. (1992 ff.);
Weltflüchtlingsbericht, Losebl. (1992 ff.);
K. J. Bade: M. in Gesch. u. Gegenwart, in: Gesch. lernen, Jg. 6 (1993), H. 33; Deutsche im Ausland - Fremde in Dtl. M. in Gesch. u. Gegenwart, hg. v. K. J. Bade: (31993);
Ausländer, Aussiedler, Asyl in der Bundesrep. Dtl., hg. v. K. J. Bade: (31994);
M. - Ethnizität - Konflikt. Systemfragen u. Fallstudien, hg. v. K. J. Bade: (1996);
H. Birg: Demograph. Wirkungen polit. Handelns, in: Altern hat Zukunft - Bev.-Entwicklung u. dynam. Wirtschaft, hg. v. J.-U. Klose (1993);
H. Birg u. a.: Migrationsanalyse, in: Forschungen zur Raumentwicklung, hg. v. der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde u. Raumordnung, Bd. 20 (1993); Bundesforschungsanstalt für Landeskunde u. Raumordnung,: u. E.-J. Flöthmann: Bev.-Projektionen für das vereinte Dtl. bis zum Jahr 2100 (1993);
Zwischenbericht der Enquete-Kommission »Demograph. Wandel« (1994),
Mit Fremden leben. Eine Kulturgesch. von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. A. Demandt (1995);
W. Seifert: Die Mobilität der Migranten (1995);
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Mi|gra|ti|on, die; -, -en [lat. migratio = (Aus)wanderung, zu: migrare = wandern, wegziehen]: 1. a) (Biol., Soziol.) Wanderung od. Bewegung bestimmter Gruppen von Tieren od. Menschen; b) (Soziol.) Abwanderung von jmdm. in ein anderes Land, in eine andere Gegend, an einen anderen Ort; Auswanderung: In dem Bewusstsein, dass geographische Kriterien im Zeitalter von Medien und M. nur noch bedingt zur Klassifizierung von Kunst taugen (Woche 14. 11. 97, 43); Sammlungen eines Essener Dokumentationszentrums über die M. aus der Türkei (Spiegel 46, 1993, 70). 2. (Geol.) das Wandern bestimmter Stoffe, bes. von Erdöl, in porösem od. klüftigem Gestein.
Universal-Lexikon. 2012.