Akademik

Friedensforschung
Frie|dens|for|schung 〈f. 20; unz.〉 wissenschaftl. Erforschung der Voraussetzungen für Krieg u. Frieden

* * *

Frie|dens|for|schung, die:
wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen für Krieg u. Frieden.

* * *

I
Friedensforschung,
 
Die Friedensforschung widmet sich der wissenschaftlichen Erforschung der Beziehungen zwischen sozialen »Einheiten«, die durch Androhung oder Anwendung von Gewalt erhalten oder verändert werden sollen. Sie analysiert die Ursachen verdeckter wie offener Konflikte und versucht u. a. mithilfe von Ideologiekritik, Kritik der politischen Ökonomie, der Herrschaftsverhältnisse und der Sozialisationsbedingungen gesellschaftspolitische sowie sozialpsychologische und pädagogische Möglichkeiten der praktischen Überwindung von Gewalt- und Aggressionspotenzialen zu erschließen. Sie untersucht zunächst die psychischen und sozialen Abläufe, die Konflikt und Integration in sozialen oder politischen Gruppen und Organisationen bestimmen, da diese innergesellschaftlichen Ordnungsverhältnisse und Unstimmigkeiten nach außen wirksame Kräfte wie »Rüstungswettlauf«, Militarismus und Imperialismus hervorrufen.
 
Die Friedensforschung geht von zwei Hypothesen aus: Es gibt Übergangslösungen, die keine Ausweitung der Gewalt mit sich bringen, und der angestrebte »optimale Friede« ohne Anwendung persönlicher Gewalt kann herbeigeführt werden. Unter »optimalem Frieden« werden Lebensbedingungen verstanden, die, über den »negativen Frieden« (Abwesenheit von Krieg) und den »positiven Frieden« (Abwesenheit von persönlicher und struktureller Gewalt, soziale Gerechtigkeit) hinausweisend, dem Individuum in der Gesellschaft wie auch der menschlichen Gemeinschaft insgesamt die Grundbedürfnisse nach Existenzerhaltung und -entfaltung sichern.
 
Ein internationaler Zusammenschluss der Friedensforscher ist die International Peace Research Association (IPRA). Die Friedensforscher der Bundesrepublik Deutschland sind in der 1968 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) organisatorisch zusammengeschlossen. Aufgabe der 1970 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung e. V. (DGFK) ist es, Friedensforschungsprojekte finanziell zu fördern und zur Verbreitung des Friedensgedankens beizutragen. Mitglieder der DGFK sind Bund und Länder (von denen das Saarland 1975 ausschied und Bayern aus forschungspolitischen Gründen austrat) sowie kirchliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Spitzenverbände.
 
Schwerpunktprogramme sind »Friedenswahrung und Übergangsstrategien in Europa« und »Konflikte zwischen westeuropäischen Industriestaaten und Entwicklungsländern und deren friedliche Entwicklung«; daneben ist v. a. die friedenspädagogische Forschung und Vermittlungsarbeit von Bedeutung.
 
Ansätze einer Friedenserziehung im schulischen Bereich wurden im Rahmen des bestehenden Fächerkanons (Gesellschaftslehre, Geschichte, Geographie, Religion) praktiziert; hier sollen die verschiedenen Formen der Gewalt und Friedlosigkeit im internationalen Bereich, z. B. Krieg und Besetzung, sowie im innergesellschaftlichen Bereich, z. B. Not, Ausbeutung, Unterdrückung, Aggression, thematisiert und ihre Ursachen analysiert werden, um die Zusammenhänge sowie die ökonomischen, soziokulturellen, technologischen und ideologischen Voraussetzungen von Gewalt und Unfrieden und deren Wirkungen auf die eigene Lebenswelt zu erkennen.
II
Friedensforschung,
 
Friedens- und Konflịktforschung, interdisziplinäre wissenschaftliche Richtung, die die Ursachen von Kriegen und die Bedingungen des Friedens systematisch erforschen will. Ansatzpunkt ist die steigende Gefährdung der Menschheit durch die Zerstörungskraft moderner, v. a. atomarer Waffensysteme, durch machtpolitisch-ideologische und weltweite sozioökonomische Konflikte (Nord-Süd-Konflikt) sowie durch ökologische Krisen. Die Friedensforschung versucht, Fragen der Politik-, Rechts-, Gesellschafts-, Geschichts-, Militär- und Wirtschaftswissenschaften, der Sozialpsychologie wie auch der Informatik und technischen Wissenschaften zu verbinden. Dabei berührt sie andere Praxisbereiche wie Friedenspädagogik, gewaltfreie Konfliktverarbeitung, Bewältigung von Gewalterfahrungen, interkulturelle Kommunikation.
 
Die unterschiedliche Definition des Begriffs Frieden bestimmt im Kern die Entwicklung der Friedensforschung; ihre ältere Forschungsrichtung ging von der Annahme aus, dass Frieden »Abwesenheit von Krieg« bedeute. Sie knüpfte in diesem Sinne an Erkenntnisse der Politikwissenschaft an, v. a. an deren Analysen der internationalen Beziehungen: Erforschung der Kriegsursachen im völkerrechtlichen Rahmen, Behandlung von Krisen zur Vermeidung des Ausbruchs von offener Gewalt, die Entwicklung von Strategien zur friedlichen Konfliktregelung. Themen wie Rüstungsdynamik, Rüstungskontrolle und Abrüstung standen im Vordergrund.
 
Die jüngere Friedensforschung zielt in ihren Analysen nicht nur auf Mechanismen und Strukturen, die die Gefahr kriegerischer Auseinandersetzungen vermindern, sondern auch auf die Beseitigung internationaler Interessenkonflikte und in gesellschaftliche Systeme eingebauter Unterdrückungsapparate, zumindest insofern sie kriegsträchtig sind. Ein wirklicher Frieden als ein Zustand harmonischer Solidarität im internationalen Rahmen ist erst dann erreicht, wenn bei Ausschluss kriegerischer Auseinandersetzungen das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen den Industriestaaten und den weniger entwickelten Staaten sowie innerhalb der jeweiligen Gesellschaften selbst (»strukturelle Gewalt«) gemindert beziehungsweise beseitigt ist. Seit dem Ende der bipolaren Weltordnung 1989/90 verlagerten sich die Schwerpunkte der Friedensforschung zum einen auf die Untersuchung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse sowie ökologische Probleme, die den Frieden gefährden können, zum anderen auf die Konzeption neuer multilateraler Sicherheitssysteme und den Aufbau beziehungsweise die Reform intermediärer und supranationaler Organisationen zur Konfliktbewältigung (UNO, KSZE, OSZE). Außerdem konzentriert man sich verstärkt auf innergesellschaftliche Prozesse wie soziale Desintegration (etwa durch Arbeitslosigkeit) und deren gesellschaftliche Hintergründe sowie auf die ideologischen Grundlagen und Ausdrucksformen sozialer Konflikte, wie sie als Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, als ethnisch oder religiös radikale Einstellung zum Ende des Jahrtausends erneut und verstärkt zu beobachten sind. Auch neue Konzepte zwischen- und überstaatlicher (möglicherweise militärisch getragener) Interventionen als Mittel der Friedenssicherung beziehungsweise -herstellung (etwa bei Regionalkonflikten oder Völkermord) und die Rolle der Nicht-Regierungs-Organisationen (NRO) bei der Eindämmung von Konflikten werden zunehmend in die Friedensforschung einbezogen. Dabei wird vorgeschlagen, dass sich die Friedensforschung auf einen »harten Kern« (L. Brock) konzentriert, der die Anwendung physischer Gewalt und kriegerischer Handlungen zu minimieren beziehungsweise zu unterbinden sucht. Dieser Eingrenzung des Themenfeldes steht andererseits eine Ausweitung des Arbeitsansatzes entgegen, da Gewaltaktionen und kriegerische Handlungen nicht nur auf zwischenstaatlicher Ebene anzutreffen sind, sondern zunehmend unterhalb der nationalstaatlichen Strukturen eine Rolle spielen (u. a. Regionalkonflikte, Diskriminierung von Minderheiten, Auseinandersetzungen mit religiösem Hintergrund oder im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität).
 
Unter dem Eindruck der Weltkriege entstanden neben dem Völkerbund und dem Internationalen Gerichtshof in den USA und Großbritannien Institute, die sich mit den Ursachen von Kriegen und Revolutionen sowie mit den möglichen Bedingungen eines dauerhaften Friedens beschäftigten. Das 1964 gegründete »Journal of Peace Research« trug wesentlich zur Ausbreitung der Friedensforschung bei. Im selben Jahr konstituierte sich in Groningen die »International Peace Research Association«. Mit der Gründung des »Stockholm International Peace Research Institute« (SIPRI) erzielte die Friedensforschung international einen wissenschaftlichen Durchbruch. In der Bundesrepublik Deutschland entstanden die »Deutsche Gesellschaft für Friedens- und Konfliktforschung«, die »Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung«, das »Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt« (seit 1980 »Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften«) und weitere Institute und Stiftungen, die allerdings inzwischen aus politischen oder finanziellen Gründen reduziert oder wieder geschlossen wurden. Dem steht das zunehmende Interesse und auch die Anerkennung gegenüber, die internationale Institutionen (wie dem Europäischen Gerichtshof, dem internationalen Gerichtshof, den verschiedenen Tribunalen zur Aufklärung von Kriegsverbrechen) im Hinblick auf ihre konfliktbegrenzenden beziehungsweise -bearbeitenden Funktionen zuteil werden. Zugleich belegen wachsende innergesellschaftliche Gewaltpotentiale, die zahlreichen regionalen Konflikte und ihre globalen Auswirkungen (Flüchtlinge) die Notwendigkeit weiterer Friedensforschung nur allzu deutlich. Ihre Schwerpunkte und Zielsetzungen haben sich allerdings verschoben: Nicht mehr die Vorstellung einer »Welt ohne Krieg« steht im Zentrum der Arbeit, sondern die »Zivilisierung« des Umgangs mit Konflikten, die Eindämmung kriegerischer Gewalt und ihrer Ursachen.
 
Literatur:
 
Bibliogr. zur F., hg. v. G. Scharffenorth u. a. (1970);
 
Neue Bibliogr. zur F., hg. v. G. Scharffenorth: (1973);
 E.-O. Czempiel: Schwerpunkte u. Ziele der F. (1972);
 
Probleme der internat. Beziehungen, hg. v. E. Krippendorff u. a. (1972);
 
F. u. Gesellschaftskritik, hg. v. D. Senghaas (Neuausg. 1973);
 
Krit. F., hg. v. D. Senghaas: (61981);
 H. Schierholz: F. u. polit. Didaktik (1977);
 
F. - Entscheidungshilfe gegen Gewalt, hg. v. M. Funke (21978);
 H. G. Brauch: Entwicklungen u. Ergebnisse der F. 1969-1978 (1979);
 
Frieden als Gegenstand von Wiss., hg. v. P. Lock (1982);
 C. von Krockow: Gewalt für den Frieden? Die polit. Kultur des Konflikts (1983);
 J. Lider: Der Krieg. Deutungen u. Doktrinen in Ost u. West (a. d. Engl., 1983);
 J. Galtung: Strukturelle Gewalt (a. d. Engl., 31.-33. Tsd. 1984);
 
Forschen zw. Krieg u. Frieden, hg. vom Forum Naturwissenschaftler für Frieden u. Abrüstung (1986);
 J. Reusch: F. in der Bundesrep. (1986);
 
Friedensgutachten, hg. v. der Hess. Stiftung Friedens- u. Konfliktforschung u. a. (1987 ff., jährlich);
 E. Krippendorff: Staat u. Krieg. Die histor. Logik polit. Unvernunft (31987);
 E. Krippendorff: Militärkritik (1993);
 
F. u. Friedensbewegung nach dem Golfkrieg (1991);
 E.-O. Czempiel: Die Reform der UNO (1994);
 
Krieg u. gewaltfreie Konfliktlösung. Friedensforscher zur Lage, bearb. v. C. Schiemann Rittri u. R. Steinweg (Chur 1994);
 M. Alfs: Wiss. für den Frieden? Das schwierige Theorie-Praxis-Verhältnis der Friedens- u. Konfliktforschung (1995);
 
Den Frieden denken, hg. v. D. Senghaas (1995);
 
Tod durch Bomben. Wider den Mythos vom ethn. Konflikt, bearb. v. C. Schiemann Rittri u. R. Steinweg (Chur 1995).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Konfliktforschung: Identität und Abgrenzung
 
Konfliktforschung: Nationalismus, Fundamentalismus, Multikulturalität
 
Konflikt: Feindbilder, Gewaltbereitschaft, Gewaltarten
 
Krieg: Eine besondere Konfliktform
 
Konflikt: Friedliche Konfliktbearbeitung und Kriegsverhütung
 
Konfliktforschung: Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg
 

* * *

Frie|dens|for|schung, die: wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen für Krieg u. Frieden.

Universal-Lexikon. 2012.