mụltikulturelle Gesellschaft,
Sozialwissenschaftlicher und politischer Begriff, der seinen wesentlichen Bezugspunkt darin hat, dass unter den Bedingungen weltweiter Migration zunehmend mehr Menschen unterschiedlichster kultureller Orientierungen, individueller Wertvorstellungen, religiöser Bekenntnisse, ethnischer Herkunft und Muttersprachen in einer Gesellschaft zusammenleben beziehungsweise aufeinander treffen und wo die wechselseitige Achtung und Anerkennung dieser verschiedenen kulturellen Muster und Leitvorstellungen für die Gesellschaft ständige Herausforderung und politische Aufgabe zugleich ist.
Problematik und Hintergrund des Begriffs
Dass der durch das alltägliche Zusammenleben im Rahmen einer in der Regel nationalstaatlich verfassten Gesellschaft zustande kommende Zusammenhang vielgestaltiger Lebensformen, Erziehungsstile und Werthaltungen nicht in völliger Beliebigkeit stattfindet, sondern seinerseits einer bestimmten Wertordnung bedarf, die Toleranz, Menschenrechte, Individualrechte, einen demokratischen Verfassungsstaat und rechtliche Gleichstellung umfasst, ist heute - wenn auch (noch) nicht unumstritten - in der Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft erkannt worden und stellt einen Leitgedanken innerhalb des gegenwärtigen Diskussionsprozesses dar.
Unbedingter Kulturrelativismus (»alles ist Kultur, jede Kultur so gut wie eine andere«) ist dabei einem gemäßigten Relativismus gewichen, dessen Denkansatz davon ausgeht, dass Kulturen und kulturelle Orientierungen zwar der Möglichkeit nach jeweils gleichwertig sein können, es aber de facto, d.h. in ihrer konkreten historischen und politischen Gestalt, keineswegs sind; etwa dort, wo individuelle Menschenrechte nicht gewährleistet werden oder die Diskriminierung bestimmter Menschen und Gruppen (z. B. die Parias [»Unberührbaren«] im indischen Kastensystem) zu den Grundlagen kulturellen Selbstverständnisses zählt (C. Taylor). Anders als in den Anfängen der Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft vielleicht intendiert, hat sich der Begriff in den 1990er-Jahren zum Schlüsselbegriff eines auf dem Individualismus und der Menschenrechtsdiskussion der europäischen und nordamerikanischen Aufklärung aufbauenden Gesellschaftsdiskurses entwickelt. Freilich haftet ihm ebenfalls eine auf die europäische Romantik und ihre Vorläufer und Anreger im 18. Jahrhundert (z. B. J. G. Herder) zurückgehende Vorstellung jeweiliger Geschlossenheit, Einmaligkeit und Unvermittelbarkeit der verschiedenen Kulturen an, die den Diskurs um die Nationalkulturen im Europa und Lateinamerika im 19. Jahrhundert wesentlich bestimmte und auch im 20. Jahrhundert in unterschiedlicher Weise Niederschlag in politischen Konzeptionen und Auseinandersetzungen gefunden hat, z. B. in der Programmatik des antikolonialen Befreiungskampfs in der Dritten Welt und den innergesellschaftlichen Konflikten um die Anerkennung fremder Lebensmuster und kultureller Orientierungen in den westlichen Migrationsgesellschaften am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
In seinen Wurzeln und mit seinen Kernaussagen steht der Begriff multikulturelle Gesellschaft allerdings eindeutig für eine »westliche« Konzeption des Zusammenlebens in der Gesellschaft, der in der Welt andere kulturelle und religiöse Traditionen gegenüberstehen, die ihrerseits Formen der Anerkennung und des gewaltfreien, tolerierenden Umgangs mit »anderen« ausgebildet haben.
Der Begriff multikulturelle Gesellschaft leitet sich von englisch »multiculturalism« ab. Das mit diesem Wort bezeichnete Konzept wurde - beeinflusst v. a. durch die kulturanthropologische Schule in den USA (Kulturrelativismus) und die französische strukturale Anthropologie (C. Lévi-Strauss) - zuerst in Kanada in den 1960er-Jahren entwickelt, wo »multiculturalism« den dort zuvor gebräuchlichen Begriff (entwickelt in Bezug auf die französisch- und englischsprachigen Bevölkerungsgruppen) des »Bikulturalismus« ablöste. Damit verknüpft war auch eine unter anderem durch die Bürgerrechtsbewegung angestoßene Verlagerung der Wahrnehmung von den europäisch bestimmten Kulturmustern auf andere Einwandererkulturen (Lateinamerikaner, Asiaten), unterprivilegierte Gruppen (Afroamerikaner, Indianer) und die damit verbundenen innergesellschaftlichen Konflikte. In ähnlichen Zusammenhängen fanden der Begriff und damit verbundene konzeptionelle Erwartungen und Ansprüche dann Eingang in die politischen und sozialen Diskussionen anderer »klassischer« Einwanderungsländer wie Australien, die USA und Neuseeland und führten dort bereits in den 1970er-Jahren auch zu normativen Regelungen sowie administrativen Einrichtungen und Institutionen (»Canadian Multicultural Council«; »Office of Multicultural Affairs« in Australien). Dabei spielte für die Zuwendung zum Konzept der multikulturellen Gesellschaft im angelsächsischen Bereich auch das Scheitern der vorhergehenden Leitvorstellung des »melting pot« und der entsprechenden Assimilationsstrategien des »Schmelztiegels« eine wichtige Rolle. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger Globalisierung zeigt sich allerdings, dass auch das Konzept der multikulturellen Gesellschaft unter den sich verschärfenden Verteilungskämpfen um wirtschaftliche Ressourcen in seinen Realisierungschancen gefährdet ist, wofür als ein Beispiel die rigide Abwehr von Flüchtlingen in Australien Ende der 1990er-Jahre und die sich darin zeigende Fremdenangst stehen.
In der Bundesrepublik Deutschland fand der Begriff in Anlehnung an die nordamerikanische Diskussion in den 1970er- und 1980er-Jahren zunächst in Bereichen Eingang, die in der Sozialpädagogik, in der kirchlichen Bildungsarbeit und in der politischen Arbeit mit Migranten angesiedelt waren und v. a. darauf abzielten, Hintergründe und Handlungsmuster von Menschen aus anderen Ländern anzuerkennen und sie in akzeptierender Weise in die herkömmlichen Bildungs- und Integrationsprozesse einzubinden. Neben diesen auf eine mögliche gleichwertige Anerkennung anderer Kulturen zielenden Vorstellungen, die sich auch gegen alte und neue »national getönte« Ansprüche auf größtmögliche Anpassung von Zuwanderern an das gesellschaftliche Zusammenleben in Deutschland richteten und zugleich einer weit verbreiteten Unkenntnis beziehungsweise Geringachtung anderer Kulturen entgegenwirken wollten, wurden in den 1990er-Jahren im großen Umfang auch arbeits-, sozial- und bevölkerungspolitische Gesichtspunkte in die Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft eingebracht, die von einer Notwendigkeit weiterer Einwanderung ausgingen und dafür einen auf Pluralität beruhenden Gesellschaftsentwurf suchten.
Da allerdings bis heute (noch) keine politisch-gesellschaftliche Übereinkunft darüber besteht, ob Deutschland überhaupt ein Einwanderungsland ist und die deutsche Gesellschaft somit als Einwanderungsgesellschaft anzusehen sei, besteht der Unterschied in den grundlegenden Diskussionsansätzen in Bezug auf die multikulturelle Gesellschaft zwischen Deutschland und den oben genannten »klassischen« Einwanderungsländern weiter fort. Während in Deutschland besonders von nationalkonservativer Seite, aber auch aus der gesellschaftlichen Mitte heraus vor der mit dem Multikulturalismus verbundenen Aufsplitterung national homogener Kulturmuster gewarnt und ein Zerfall der deutschen Gesellschaft in »Parallelgesellschaften« befürchtet wird, verbindet sich in den meisten Einwanderungsgesellschaften mit dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft die Erwartung, dass diese ein realisierbares, freilich keineswegs konfliktfreies Integrations- und Entwicklungsmodell fortgeschrittener Industriegesellschaften unter den Rahmenbedingungen europaweiter Integration und weltweiter Globalisierungsprozesse darstellen könnte. Da im Rahmen der Europäischen Union besonders im Zusammenhang ihrer »Osterweiterung« die Möglichkeiten räumlicher und sozialer Mobilität von Menschen (Migration) wachsen, spielt das Konzept der multikulturellen Gesellschaft v. a. in dreierlei Hinsicht eine wichtige Rolle: (1) als gesellschaftlich gegebenes Faktum der mit zunehmender Mobilität und räumlicher Freiheit sich einstellenden kulturellen und sozialen Heterogenität; (2) als Beschreibung eines Rahmens für die Gleichstellung und gegenseitige Achtung von Menschen im Zusammenleben kulturell unterschiedlich geprägter Menschen und Gruppen; (3) als Leitvorstellung beziehungsweise Programm eines politischen Handelns, das sich gegen Diskriminierung und Ausschluss wendet und den Respekt für andere Menschen und Wertorientierungen fördern soll.
Auf der anderen Seite wurde bereits zu Beginn der 1990er-Jahre davor gewarnt, den Begriff der Kultur in der Diskussion um das politische und soziale Zusammenleben von Einheimischen und Zugewanderten zu stark zu betonen, da so die Bedeutung ökonomischer, rechtlicher, politischer und sozialpolitischer Aspekte und Konflikte hinter kulturellen Fragen verschwinden könnte und zugleich der kulturellen Zuordnung auch für die Zuwanderer eine Übermacht eingeräumt würde, die ihr in den Lebenszusammenhängen einer individualistisch geprägten Marktgesellschaft, in der jede Form von kultureller Praxis Privatsache und Spielfeld symbolischer Zuordnungen zugleich ist, nicht zukommt. In einer Art »kulturalistischer Reduktion« (E. Balibar) bestehe die Gefahr, dass die spezifisch moderne individuelle Vielfalt kultureller Zuordnungen und Wahlmöglichkeiten zugunsten einer - in der Regel nationalkulturellen - Zurechnung vernachlässigt würde (Ethnisierungsprozess von Migranten und Konflikten). Ende der 1990er-Jahre wandelte sich die Diskussion um die multikulturelle Gesellschaft unter dem Eindruck anhaltender sozialer Probleme (besonders andauernde hohe Arbeitslosigkeit; erneutes Aufkommen von Fremdenangst), zu denen dann noch die Terroranschläge vom 11. September 2001 als »Menetekel« hinzugetreten sind, wieder dahingehend, dass kulturelle Homogenität im Sinne einer die Gesellschaft tragenden »Leitkultur« der mit der multikulturellen Gesellschaft verbundenen Ausbildung von »Parallelgesellschaften« entgegengesetzt wurde.
Politische, gesellschaftliche und soziale Handlungsfelder der multikulturellen Gesellschaft
Als Gesellschaftskonzept zielt die multikulturelle Gesellschaft auf die politische, soziale, v. a. aber normative und alltagskulturelle Gestaltung des Zusammenlebens von Menschen in einer Migrationsgesellschaft, einer Gesellschaft, die von Ein- und Auswanderungsprozessen betroffen ist, was fast alle Gesellschaften zu jeder Zeit waren (K. J. Bade). Hinsichtlich der in ihm formulierten Ansprüche zielt es auf den Abbau der mit dem Aufeinandertreffen unterschiedlich sozialisierter und kulturell orientierter Gruppen gesellschaftlich gegebenen Diskriminierungsprozesse, lehnt in jeglicher Art die erzwungene Anpassung unterschiedlicher kultureller Auffassungen und Handlungsmuster an die gesellschaftlich vorherrschende Kultur (Assimilation) ab, setzt sich für einen kulturellen Pluralismus ein (»das Andere darf anders bleiben«, D. Grimm) und fordert einen grundlegenden, auch rechtlich und institutionell abgesicherten Konsens im Sinne der Anerkennung prinzipieller Gleichheit aller Menschen und der Gültigkeit universaler Menschenrechte (UNO-Menschenrechtserklärung; GG Art. 3 Absatz 3).
In Deutschland ist dieser rechtliche Rahmen zur Ausgestaltung eines Zusammenlebens auf der Basis von Gleichberechtigung und Toleranz mit dem unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs und der Massenverbrechen während des Nationalsozialismus einen Neuanfang formulierenden Grundgesetzes (Menschenrechte, Asylrecht, Verbot friedensstörender Politik, Antidiskriminierungsgebot, Freiheit der Religionsausübung, besonderer Schutz der Familie und des Elternrechts in Erziehungsfragen) gegeben. Die aktuelle gesellschaftliche Diskussion über die multikulturelle Gesellschaft in Deutschland prägen allerdings eher skeptische bis ablehnende Standpunkte.
Dabei stehen nach wie vor zwei Vorstellungen im Vordergrund: Deutschland sei kein Einwanderungsland und habe - ungewollt - zugleich einen der höchsten Ausländeranteile aller europäischen Staaten, was sich v. a. in wirtschaftlicher, nach den Ergebnissen der PISA-Studie (PISA) auch in bildungspolitischer Hinsicht negativ auswirke; hinzukämen hohe Belastungen der Sozialkassen durch Flüchtlinge und Asylsuchende sowie eine wachsende Kriminalitätsbelastung durch ungehinderten Zuzug von Menschen aus anderen sozialen Verhältnissen und kulturellen Standards. Vor dem Hintergrund weltweiter wirtschaftlicher Umbrüche und nationalen Strukturwandels finden solche Gedanken der »ungewollten Überlastung« Widerhall und Zuspruch bei Menschen, die sich durch die veränderten wirtschaftlichen und politischen Bedingungen in ihrer sozialen Lage bedroht fühlen, wobei dann v. a. rechtspopulistische Parteien (2001 und 2002 europaweit in Erscheinung getreten) diese Befürchtungen und Ängste der Menschen politisch instrumentalisieren.
Hier öffnet sich ein zentrales Handlungsfeld für das Konzept der multikulturellen Gesellschaft. Es gilt, umfassende und differenzierte Informationen zur Verfügung zu stellen, die das komplexe - im Einzelnen durchaus widersprüchliche und verschieden gelagerte - Zusammenleben von Einheimischen und Zuwanderen unter den Bedingungen einer sich rapide wandelnden Industriegesellschaft steuern und auf der Basis wechselseitiger Toleranz verbessern können. Dies setzt entsprechende Bildungsangebote an einheimische und zugewanderte Menschen in ihren differenzierten Lebenslagen (also für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, für Männer und Frauen, für Industriearbeiter wie für Führungskräfte) ebenso voraus wie die Teilnahme der Zugewanderten an gesellschaftlichen Diskursen bis hin zur Wahlbeteiligung, gegebenenfalls auch religionsspezifische Unterrichtsangebote (Religionsunterricht) sowie die Berücksichtigung von Migrantenkulturen und Migrationserfahrungen in Lese- und Geschichtsbüchern, Bildungsgängen und bei der Gestaltung der Alltagskultur (z. B. Feste, Bräuche). Unumstritten ist in diesem Zusammenhang die Notwenigkeit sprachlicher Kompetenz, womit in Deutschland zunächst die Bedeutung der deutschen Sprache hervorgehoben wird, aber auch die Sprachen der zugewanderten Bevölkerungsgruppen Aufmerksamkeit erfahren (»kulturelle Mehrsprachigkeit«), und die Möglichkeiten des Spracherwerbs für bestimmte Migrantengruppen (z. B. unter den Hausfrauen) erst einmal geschaffen bzw. verbessert werden müssen. Ein weiteres Erfordernis in Hinsicht auf die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Implikationen des Konzepts der multikulturellen Gesellschaft besteht darin, die Bedingungen anzusprechen, unter den Migranten in Deutschland leben und dabei auch misslungene bzw. unzureichende Integration klar zu benennen. Hierzu gehören der Blick auf die Bildungssysteme, die Wohnverhältnisse, die Arbeitssituation, die Lage der Familie (namentlich auch auf die Stellung und gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten von Frauen) sowie auf die Teilhabe von Migranten am politischen Leben.
Als ein zweites Handlungsfeld mit dem Konzept der multikulturellen Gesellschaft verbunden sind die Sozialpolitik und alle Handlungsebenen und Prozesse, in denen sich die Wirtschaft und die Arbeitsmärkte einer fortschreitenden Industriegesellschaft gesellschaftlich ausdrücken. Unterschiede sind v. a. in Bezug auf den Arbeitsmarkt festzustellen: In bestimmten Niedriglohnsektoren, besonders in der Bauindustrie, herrscht eine erhebliche Konkurrenz zwischen den »gewollten« Freiheiten der EU-Bürger (zur Arbeit, aber auch zur Gründung von Unternehmen in anderen Ländern), illegalen Arbeitern und wirtschaftlich ebenfalls gewollten Zeit- beziehungsweise Saisonarbeitern. Andererseits gibt es angesichts bestehender Ausbildungsprobleme und der aktuellen wie auch der prognostizierten demographischen Entwicklung einen großen Arbeitskräftebedarf, dessen Spektrum von den zeitweilig viel diskutierten IT-Spezialisten (»Green Card«; Arbeitserlaubnis) über Facharbeiter in Handwerksberufen, Pflegekräfte bis hin zu angelernten Arbeitern und Hilfskräften in Gastronomie und Landwirtschaft reicht. So waren es auch v. a. wirtschaftliche Interessenverbände und Unternehmen, die in den letzten Jahren für mehr Freizügigkeit und für Zuwanderung eingetreten sind.
Ein drittes Handlungsfeld eröffnet sich für das Konzept der multikulturellen Gesellschaft mit der Weiterentwicklung rechtlicher Regelungen. So erfordert die multikulturelle Gesellschaft Gesetze und Regelungen, die Grund- und Menschenrechte für alle Gesellschaftsmitglieder lebenspraktisch erfahrbar werden lassen. Dazu gehört unter anderem, verfassungsmäßige Rechte wie den besonderen Schutz der Familie und des religiösen Bekenntnisses und die Möglichkeit politischer Tätigkeit in der gesellschaftlichen Praxis auch für Migranten zu gewährleisten, bei Anerkennung der Verfassungsordnung durch die Migranten selbst. Ob es neben unverbrüchlichen Individualrechten auch spezifische Gruppenrechte geben kann, ist im Zusammenhang der multikulturellen Gesellschaft umstritten, wobei vielleicht zu bedenken ist, dass die mit der modernen Gesellschaft verbundenen Individualisierungsprozesse es eher in die Verantwortung, auch in die Freiheit der Individuen legen, wie sie sich selbst zuordnen und mit welchen Konsequenzen sie dies tun.
Schließlich ist als viertes Handlungsfeld im Konzept der multikulturellen Gesellschaft der Bereich kultureller Aktivitäten, Ereignisse und Prozesse zu nennen. Hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Funktion wird die Kultur dabei dahingehend beschrieben, dass sie den Lebenszusammenhang und die Themenvielfalt der multikulturellen Gesellschaft sichtbar macht und die Vielfalt und Besonderheit ihrer Akteure - als gleichberechtigt in der Gesellschaft Agierende - deutlich werden lässt.
Perspektiven des Konzepts der multikulturellen Gesellschaft
Die gesellschaftlichen Debatten um Migration und Integration in den 1990er-Jahren waren zunächst sehr stark auf symbolhafte Konflikte fixiert, die sich v. a. entlang einer religiösen Linie Christentum - Islam bewegten (Kopftuchtragende Lehrerinnen; Bau von Minaretten und Gebetsrufe in deutschen Großstädten, Kritik der zwangsweisen Verschleierung von Frauen). Andere Grenzziehungen und soziale Konfliktfelder wie soziale Ungleichheiten und Benachteiligung, Diskriminierung und andere Faktoren, die eine soziale Integration behindern (Mangel an Sprachunterricht und Arbeitsplätzen, Unterrepräsentation im weiterführenden Bildungssystem, geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) werden gesellschaftlich relevant erst in allerjüngster Zeit im Zusammenhang des »Multikulturalismus« diskutiert, d. h. bewusst in die Diskussion um die Zuwanderung und das Zusammenleben von »Einheimischen« und »Zugewanderten« in einer Gesellschaft eingebunden. Hinzugetreten ist am Anfang des neuen Jahrtausends in der westlichen Welt eine wachsende Sorge um Gefahren und Gefährdungen, denen ihre Gesellschaften ausgesetzt sind, welche nicht wenige Menschen in ihrem Alltag nicht als »multikulturell«, sondern als in verschiedene »Einzelkulturen« aufgespalten erfahren. Das in die 1970er-Jahre zurückreichende europäische gesellschaftspolitische Konzept der multikulturellen Gesellschaft wird solche mit dem Zusammenleben von Menschen verschiedener kultureller Prägung und ethnischer Herkunft vorhandenen gesellschaftlichen Problemlagen und Konfliktpotenziale niemals vollständig »auflösen« können. Wohl aber aber kann es der Gesellschaft Impulse verleihen, dass alle ihre Mitglieder zur Gestaltung von humanen Lebensverhältnissen unter den Bedingungen von Globalisierung, Migration und Individualisierung beitragen.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Asylrecht · ausländische Arbeitnehmer · Flüchtlinge · Heimat · kulturelle Identität · Migrantenliteratur · Migration · Minderheit
M. G. - multikulturelle Erziehung?, hg. v. V. Nitzschke (1982);
L. Hoffmann: Die unvollendete Rep. Einwanderungsland oder dt. Nationalstaat (1990);
W.-D. Bukow: Leben in der m. G. Die Entstehung kleiner Unternehmer u. die Schwierigkeiten im Umgang mit ethn. Minderheiten (1993);
Die multikulturelle Herausforderung. Menschen über Grenzen - Grenzen über Menschen, hg. v. K. J. Bade (1996);
C. Taylor: Multikulturalismus u. die Politik der Anerkennung (a. d. Amerikan., Neuausg. 1997);
Globalkolorit. Multikulturalismus u. Populärkultur, hg. v. R. Mayer u. M. Terkessidis (Sankt Andrä-Wördern 1998);
W. Kymlicka: Multikulturalismus u. Demokratie. Über Minderheiten in Staaten u. Nationen (a. d. Amerikan., 1999);
Zuwanderung im Zeichen der Globalisierung. Migrations-, Integrations- u. Minderheitenpolitik, hg. v. C. Butterwegge u. G. Hentges (2000);
H. Halter: Migrationspolitik zw. Abschottung u. Multikulturalismus. Analysen, Ziele u. Leitplanken aus sozialeth. Perspektive (Basel 2000);
M. Terkessidis: Migranten (2000);
Multikulturelle Demokratien im Vergleich. Institutionen als Regulativ kultureller Vielfalt?, hg. v. H. Behr u. S. Schmidt (2001);
K.-H. Meier-Braun: Dtl., Einwanderungsland (2002).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Konfliktforschung: Nationalismus, Fundamentalismus, Multikulturalität
Universal-Lexikon. 2012.