Akademik

Rasputin
I
Raspụtin,
 
1) Grigorij Jefimowitsch, russischer Wanderprophet und Günstling der Zarenfamilie, * Pokrowskoje (bei Tjumen) 22. 1. 1869, ✝ (ermordet) Petrograd (Sankt Petersburg) 30. 12. 1916; Bauer und Pilger; trat als »Gottesmann« und »Wunderheiler« auf; kam 1904 nach Sankt Petersburg. Seit 1907 lebte er ständig am Kaiserhof, gewann durch seine angebliche Fähigkeit, dem an der Bluterkrankheit leidenden Thronfolger Aleksej Nikolajewitsch durch hypnotische Kräfte zu helfen, steigenden Einfluss auf das Kaiserpaar, Nikolaus II. und Alexandra Fjodorowna. Als sich seine Anmaßungen und Ausschweifungen zu einer Belastung für die Monarchie auswuchsen, wurde er von Angehörigen der Hofgesellschaft ermordet.
 
 
Literatur:
 
A. A. Amalrik: Raspoutine (a. d. Russ., Paris 1982);
 H. Liepmann: R. (Neuausg. 21986);
 E. Heresch: R. Das Geheimnis seiner Macht (1995).
 
 2) Walentin Grigorjewitsch, russischer Schriftsteller, * Ust-Uda (Gebiet Irkutsk) 15. 3. 1937; begann mit Skizzen über das sibirische Dorf; bekannt wurde die Erzählung »Den'gi dlja Marii« (1968; deutsch »Geld für Maria«). Hier wie in anderen Kurzromanen sind einfache Dorfbewohner die Handlungsträger (»Poslednij srok«, 1970, deutsch »Die letzte Frist«; »Živi i pomni«, 1975, deutsch »In den Wäldern die Zuflucht«, auch unter dem Titel »Leb und vergiß nicht«). Rasputin ist einer der bemerkenswerten Vertreter der Dorfprosa, der sich zunehmend als Vertreter russischnationaler Kräfte sieht. Er macht die Bedrohung von Mensch und Natur angesichts einer rücksichtslosen Industrialisierung einsichtig (»Proščanie s Materoj«, 1976, deutsch »Abschied von Matjora«; »Požar«, 1985, deutsch »Der Brand«).
 
Weitere Werke: Essays: Bajkal (1989); Sibir', sibir' (1991).
 
Ausgaben: Izbrannye proizvedenija, 2 Bände (1990).
 
Leb und vergiß nicht (21979); Natascha (1986).
 
Literatur:
 
R. Schäper: Die Prosa V. G. R.s (1985);
 G. Hasenkamp: Gedächtnis u. Leben in der Prosa Valentin Rasputins (1990).
II
Rasputin
 
Der Lebensweg von Grigori Jefimowitsch Rasputin ist untrennbar mit dem Schicksal des letzten russischen Zaren Nikolaus II. verknüpft. Von den einen als »Heiliger« und »Prophet« verehrt, von anderen verteufelt, gelang dem sibirischen Bauern ein spektakulärer Aufstieg an die Spitze der St. Petersburger Gesellschaft, der jedoch tragisch enden sollte. Als Sohn eines gut situierten Muschiks (russische Bezeichnung für einen Bauern) geboren, nutzte Rasputin schon früh seine Begabung, auf andere Menschen Einfluss auszuüben. Er wurde zum Anhänger einer Sekte, der Chlysten, deren Lehre die Sünde als Weg zur Heiligkeit verstand. Erst indem man sich der Leidenschaft hingab und sie anschließend bereute, konnte man auf Erden den Weg in das Reich Gottes beschreiten. Rasputin sollte nach dem Willen der konservativ-religiösen Kräfte als Mann des Volkes die Rolle der orthodoxen Kirche im Zarenreich stärken, doch in dem Maß, wie sein Einfluss wuchs, wurde er in den Augen weiter Teile der Gesellschaft zur Gefahr. Seine enge Freundschaft mit der Zarenfamilie ermöglichte ihm, auf politische Entscheidungen erheblichen Einfluss auszuüben. Den Thronfolger Alexei, der an der Bluterkrankheit litt, konnte er durch seine unerklärlichen Heilkräfte mehrmals erfolgreich behandeln. Die Macht, die Rasputin durch seine politischen Gönner und seine hypnotische Ausstrahlung erreicht hatte, nutzten viele für ihre eigenen Interessen aus. Der Zusammenbruch des Zarenreiches, der größtenteils in den erstarrten politischen Strukturen begründet lag und durch die Führungschwäche des Zaren Nikolaus II. verstärkt wurde, lag schon zu der Zeit Rasputins in der Luft. Viele machten ihn für die schlechte Lage Russlands verantwortlich. Nicht nur durch seine Einflussnahme, auch durch seinen sexuell ausschweifenden Lebenswandel wurde er für die gehobene Gesellschaft schließlich untragbar. In der Nacht vom 16. auf den 17. Dezember 1916 (29./30. Dezember 1916 nach dem gregorianischen Kalender) wurde er von dem Fürsten Felix Jussupow und dessen Mitverschworenen ermordet. Nur wenige Monate später bereitete die Februarrevolution von 1917 der Zarenherrschaft der Romanows ein Ende.
 
 Die Anfänge
 
Grigori Jefimowitsch Rasputin wurde am 10. Januar (nach der modernen Datierung am 22. Januar) 1869 im sibirischen Dorf Pokrowskoje, Gouvernement Tobolsk, geboren. So ist es im kirchlichen Taufbuch des Ortes vermerkt, worauf die Russlandexpertin Elisabeth Heresch in ihrem 1995 erschienenen Rasputin-Buch anhand des abgedruckten Dokuments aufmerksam macht; gleichwohl finden sich in der biografischen Literatur häufig Schätzungen über Rasputins Geburtsjahr, die von 1864/1865 bis 1872 reichen. Seine Eltern, der wohlhabende Bauer und Fuhrmann Jefim Jakowitsch und dessen Frau Anna Wasiljewna, hatten einen weiteren Sohn, Mischa, der jedoch starb, als Rasputin 12 Jahre alt war. Als junger Mann war Grigori auf dem Hof seines Vaters beschäftigt und fuhr häufig Getreide in die Nachbarstadt Tjumen, aber auch Reisende in nahe gelegene Orte. Trotz diverser Frauengeschichten und Alkoholexzessen erledigte er seine Arbeit zufriedenstellend. 1887 heiratete er die junge Paraskjewa (genannt Praskowja) Fjodorowna Dubrownina, mit der er drei Kinder zeugte, Matrjona, Warwara und Dmitri (»Mitja«). Mit seinem einzigen Sohn, der etwas zurückgeblieben war, verband ihn eine innige Beziehung. Seinen liederlichen Lebenswandel gab er trotz seiner Heirat nicht auf und sprach weiterhin dem Alkohol und den Frauen zu.
 
 Entdeckung einer geheimnisvollen Welt
 
Während seiner Tätigkeit als Fuhrmann kam Rasputin immer wieder mit Reisenden aller Art zusammen, von denen sich eine Begegnung als schicksalhaft für sein weiteres Leben erweisen sollte. Auf einer Fahrt in den Ort Werchoturje lernte er einen Mönchsnovizen kennen, dessen Weg in das dort ansässige Kloster führte. Rasputin, der schon in seiner Kindheit von religiösen Dingen fasziniert gewesen war, hörte von den heimlichen Lehren des Klosters, die im Gegensatz zur orthodoxen Kirche mit ihren Vorschriften und Geboten nicht die Sünden der kleinen Leute verurteilten und ihnen somit von vornherein die Möglichkeit des göttlichen Heils verwehrten. Während seines folgenden Aufenthaltes im Kloster erkannte Rasputin, dass dort Anhänger der Sekte der Chlysten unter dem Schein eines rechtschaffen geführten Klosterlebens ihrem Glauben nachgingen. Die Heimlichkeit, mit der die Sektierer ihren Glauben praktizierten, war zugleich eines der wesentlichen Gesetze der Chlysten. Gerade durch die eifrige Einhaltung der »falschen Lehren« der orthodoxen Kirche, die in den Augen der Jünger lediglich leere Verheißungen in einem starren, buchstabengläubigen System waren, sollte es möglich sein, sich innerlich ganz auf den »wahren« Glauben einzustellen. Die im 17. Jahrhundert entstandene Sekte der Chlysten (»Geißler«), die sich selbst »Gottesleute« nannten, war von Danil Filippow gegründet worden, in dem sich der chlystischen Glaubenslehre nach Gott selbst verkörpert hatte, um auf der Erde zu wandeln und den Menschen in der Gestalt eines einfachen Bürgers den »wahren Glauben« nahe zu bringen. Wie sein Sohn Christus nach der Kreuzigung war auch Gott der Lehre nach immer wieder auf der Erde erschienen, um in Menschengestalt unter dem Volk zu wirken. Im Mittelpunkt der Heilslehre der Chlysten stand die Überzeugung, die Menschen könnten sich schon zu Lebzeiten mit Gott vereinigen, indem sie den »geheimnisvollen Tod Christi« sterben, um danach auf Erden »wieder aufzuerstehen«. Da dem Menschen von Natur aus ein sündiger Lebenswandel anhaftete, galt es diesen durch Selbstverleugnung und unbedingte Abkehr von der Leidenschaft zu überwinden. Die Sünde selbst barg die Erlösung in sich, denn nur durch das Bitten um Vergebung konnte man den rechten Weg zu Gott finden. »Nur wer sich durch die Sünde erniedrigt, dessen Buße kann wahrhaft gottgefällig sein,« soll Radajew, ein Prophet der Chlysten, gesagt haben, als man ihn wegen seines besonders ausschweifenden Lebenswandels verurteilen wollte. Für Rasputin bargen diese Zusammenhänge die Erleuchtung; auf diesem Weg konnte auch er, der dem orthodoxen Glauben nach ein Sünder ohne Hoffnung auf Erlösung war, schon zu Lebzeiten heilig werden. Danach, so die Lehre, würde der göttliche Geist in ihm wohnen und er wäre in der Lage, zu heilen und wahrzusagen. Bevor sich Rasputin dieser Aufgabe stellen wollte, besuchte er in der Nähe des Klosters Werchoturje den Einsiedler Makari, einen Starez (»Weiser«), den viele Menschen um Rat fragten. Auch Makari soll in seinem früheren Leben in Sünde gelebt und keine Versuchung ausgelassen haben, bis es ihm gelungen war, diese zu überwinden und den »geheimnisvollen Tod« zu sterben. Frei von Schwächen und fleischlicher Lust lebte er nun in einer einsamen Hütte und deutete den Menschen ihr Schicksal. Für Rasputin sollte sich diese Begegnung ein weiteres Mal als schicksalhaft erweisen: der Starez erkannte dessen vorgezeichneten Weg und bestärkte ihn darin, sein Dorf und seine Familie zu verlassen, um auf Wanderschaft zu gehen. Um die innere Einstellung zu vervollständigen, ist in der russisch-religiösen Tradition auch die physische Wanderschaft unabdingbar, die das Loslösen von jeglichen Bindungen beinhaltet. Die Sektierer der Chlysten werden zu Stranniki (»Wanderer«), die auf Pilgerschaft gehen und auf ihrer Reise bei Glaubensgenossen in den Dörfern Unterschlupf finden.
 
 Wanderjahre
 
Rasputin kehrte noch einmal in sein Dorf zurück, um sich von seiner Familie zu verabschieden. Auf seinen Reisen erwarb er in den folgenden Jahren eine tief gehende Menschenkenntnis und erfuhr die Lebensweise der Chlysten-Anhänger auf den Dörfern am eigenen Leib. Seine Reise führte ihn auch in fremde Länder und Städte, u.a. nach Griechenland (Athos), wesentlich später, nämlich 1911, auch nach Konstantinopel (das heutige Istanbul) und in die heilige Stadt Jerusalem. Während seiner Besuche der heiligen Stätten fand er seinen Aufzeichnungen zufolge ein tieferes Verständnis der Religion und Inspiration für seinen weiteren Lebensweg. Wie die anderen Stranniki lebte er als Pilger in Russland das Leben eines »Kellerlochmenschen«, eines «Podpolnik«; diese bekamen von den Dorfbewohnern eine unterirdische kleine Kammer für ihren zeitweiligen Aufenthalt zur Verfügung gestellt, u. a. auch zum Schutz vor der behördlichen Verfolgung. Während dieser Zeit erlebte er, wie der Glauben der Chlysten-Sekte unter den einfachen Dorfbewohnern praktiziert wurde, wie sich deren Anhänger in Ritualen den Einzug in das Reich Gottes auf der Erde versprachen. Nach religiösen Gesängen im hemmungslosen Rausch gefangen, gaben sich die Anhänger im Namen des Heiligen Geistes schließlich der Sünde hin, um sich derart erniedrigt für die Wiedergeburt nach dem »geheimnisvollen Tod« von allen Leidenschaften frei zu machen. Seine Reise führte Rasputin durch viele Dörfer und in ebensolche Versammlungen. Mit der Zeit erzählte man sich Geschichten über einen außergewöhnlichen Wanderer, über zahlreiche Wunder, die dieser Fremde vollbracht haben soll, aber auch über unheimliche »Gottesdienste«, in denen er sich den teilnehmenden jungen Frauen, die von ihm fasziniert waren, unzüchtig genähert haben soll. Während ein Teil der Bevölkerung in diesem Unbekannten, von dem man glaubt, es könne sich den Beschreibungen nach nur um Rasputin handeln, einen Ketzer und Ehebrecher sah, waren die Anhänger der Chlysten überzeugt, der göttliche Geist habe sich erneut in einem der Ihren verkörpert.
 
 Heimkehr
 
Nach vielen Jahren der Wanderschaft kehrte Rasputin eines Tages wieder in sein Heimatdorf Pokrowskoje in das Haus seiner Familie zurück. Der Wunsch seiner Frau Praskowja nach einem erneuten Familienleben ging jedoch nicht in Erfüllung. Stattdessen zog sich Rasputin in das für die Stranniki bereitgehaltene ärmliche Kellerloch zurück, um fortan Tag und Nacht zu beten und für seine Sünden zu büßen. Jammervolles Wehklagen und jubelnde Gesänge drangen abwechselnd aus dem unterirdischen Raum. Obwohl die Dorfbewohner das unheimliche Szenario zuerst misstrauisch und neugierig verfolgten, so sollen sie Berichten zufolge nach Besuchen bei Rasputin auf unerklärliche Art geläutert und verwandelt gewesen sein. Vor allem auf Frauen schien der »Heilige« eine seltsame Faszination auszuüben. Die überwältigende Wirkung, die von Rasputin ausging, war so groß, dass man ihn von nun an voller Ehrfurcht als einen von Gott auserwählten Heiligen ansah, und auch der Geistliche des Dorfes, der als Einziger in Rasputin einen Abgesandten des Teufels, einen »Antichristen«, sah, konnte gegen dessen Anziehungskraft nichts ausrichten. Stattdessen verbreitete sich sein Ruf über die Dorfgrenzen hinaus und zog eine große Pilgerschar an. Nach drei Wochen verließ Rasputin umringt von seinen Verehrern sein selbst gewähltes Exil, um in die russische Hauptstadt St. Petersburg zu ziehen.
 
 Einführung in die Petersburger Gesellschaft
 
Rasputin erreichte St. Petersburg im Mai 1904 (nach anderen Angaben schon Ende 1903). Während seines Aufenthaltes im Priesterseminar der geistlichen Akademie traf Rasputin auf zwei Menschen, die in dem Ehrfurcht gebietenden Starez zunächst einen idealen Verbündeten für ihre politischen Zwecke sahen, später jedoch zu seinen erbittertsten Feinden werden sollten. Der Rektor der geistlichen Akademie, Vater Theophan (Feofan), und Bischof Hermogen führten Rasputin beim Zentralkomitee der »Union des russischen Volkes« ein. Mit der Unterstützung des Mönchspriesters Iliodor, der den Ruf eines brillanten Rhetorikers hatte, konnten die beiden Geistlichen die Mitglieder des Verbandes von der Wichtigkeit des unter der Landbevölkerung so beliebten »Heiligen« überzeugen. Iliodor stand dem fremden, ungehobelten Starez eher skeptisch gegenüber, konnte sich dessen Aura jedoch angeblich nicht entziehen. Bei der »Union des russischen Volkes« handelte es sich um strenge Verfechter des Kaiserreiches, die gegen eine zunehmende Verwestlichung und damit gegen die sinkende Bedeutung der Kirche kämpften. Rasputin sollte in diesem Rahmen das russische Volk verkörpern. Durch die Verehrung Rasputins, der als einfacher Bauer zum Heiligen wurde, erkannte man gleichzeitig die Heiligkeit des gesamten russischen Volkes an, so dessen Befürworter. Wenn also einer aus ihrer Mitte ein Heiliger werden konnte, so stellte dies für viele Mitglieder das beste Argument für die Ziele des Verbandes dar.
 
 Die letzte Zarenfamilie - Agonie des russischen Kaiserreichs
 
Nach der Einführung ins öffentliche Leben von St. Petersburg nahm die Bekanntheit Rasputins rasch zu. Nicht nur in Kirchenkreisen, auch in den politischen Salons der gehobenen Gesellschaft sprach man von den wundersamen Fähigkeiten des einfachen Bauern aus dem Gouvernement Tobolsk. Das Bild, das Rasputin bot, war das eines groben, mit einem Schafspelz und schweren Stiefeln bekleideten Dorfmenschen, dessen auffälligstes Merkmal seine hervorstechenden Augen waren, die die Menschen trotz seiner ärmlichen Erscheinung in seinen Bann zogen. Die politischen Salons hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts immer mehr an Bedeutung gewonnen, eine Entwicklung, die im russischen System und seinem Monarchen, Zar Nikolaus II., begründet lag. Die Distanz des Zaren zu den obligatorischen Staatsgeschäften sollte den Niedergang des russischen Kaiserreiches beschleunigen. Nikolai Alexandrowitsch Romanow hatte 1894 nach dem Tod seines Vaters Alexander III. mit erst 26 Jahren den Thron bestiegen. Einen knappen Monat später heiratete er eine deutsche Prinzessin, die 1872 geborene Alica (»Alix«) von Hessen-Darmstadt, in Russland Alexandra Fjodorowna genannt, deren Wahl bei Alexander III. und seiner Frau Maria Fjodorowna auf großes Missfallen gestoßen war. Und obwohl der sterbende Zar sie letztendlich als seine künftige Schwiegertochter anerkannt hatte, fühlte sich Alexandra in den Hofkreisen von Beginn an nicht wohl.
 
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern vermied es Nikolaus II., sich in der Zarenresidenz in der Hauptstadt St. Petersburg aufzuhalten, sondern suchte zusammen mit seiner Frau die Abgeschiedenheit im Alexanderpalais von Zarskoje Selo. Politisch unerfahren, zeigte der Zar in den folgenden Jahren wenig Interesse an der politischen Machtausübung, Kontakte mit seinen Ministern pflegte er meistens auf schriftlichem Weg. Während in früheren Jahren das politische Leben im Winterpalais in St. Petersburg pulsiert hatte, entfernte sich Nikolaus II. immer weiter von seinem Volk und dessen politischen Würdenträgern, die sich vermehrt in den Salons trafen.
 
Im Gefolge einer schweren Niederlage Russlands im Krieg gegen Japan (1904-1905), mit dem man sich zuvor nicht auf diplomatischem Wege über einen Interessenausgleich im Fernen Osten hatte einigen können, brach dann 1905 eine Revolution des darbenden, zunehmend unzufriedeneren Volkes im Zarenreich aus. Durch den brutalen Einsatz des Militärs (u. a. »Blutsonntag am 9. [22.] Januar 1905, bei dem in St. Petersburg ein Petitionszug russischer Arbeiter und ihrer Familien zusammengeschossen wurde) und durch das entschlossene Handeln einiger Minister, die Nikolaus II. zu politischen Konzessionen bewegen konnten (konstitutionelle Reformansätze durch das »Oktobermanifest« von 1905, das zur Gründung der Duma führte) wurde der Kaiserthron noch einmal gerettet. Das soziale und politische Unruhepotenzial aber blieb angesichts der ungelösten Probleme des Vielvölkerreichs erhalten; die gescheiterte Revolte von 1905 war nur eine »Generalprobe« für die Revolution von 1917.
 
Der Zar, der schon seit langem ein Faible für die russische Mystik hatte, glaubte an die Prophezeiung, wonach unter dem Kaiser, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts regierte, schreckliche Dinge in Russland geschehen würden. Tatsächlich war bereits das Krönungsfest 1896 von einem tragischen Unglück überschattet: Unter den Schaulustigen, die den Feierlichkeiten beiwohnen wollten und sich in Erwartung von Geschenken auf dem Chodynka-Feld bei Moskau zu Hunderttausenden eingefunden hatten, brach in der Nacht vom 17. zum 18. (nach neuer Datierung vom 29. zum 30.) Mai eine Grube ein, wobei ca. 1 300 Menschen den Tod fanden.
 
Sein Aberglaube lähmte Zar Nikolaus II. besonders in seinen politischen Geschäften und machte ihn nicht nur gegenüber Personen in seinem Umfeld, sondern auch gegenüber Entscheidungen misstrauisch und unsicher. Auch die Zarin hegte den Glauben an die Kraft der Religion und Mystik; zahlreiche Wunderheiler, Prediger und angebliche Heilige gingen in der Zarenresidenz in Zarskoje Selo ein und aus. Einige von ihnen, so z. B. der berühmte »Heilige« Johann von Kronstadt, der französische »Magier« Dr. Philippe oder der burjatische, mit der tibetischen Medizin vertraute Arzt und »Zauberer« Pjotr Alexandrowitsch Badmajew, hatten erheblichen Einfluss auf politische und militärische Entscheidungen des Zaren. Auch Rasputin, der im November 1905 zum ersten Mal auf das Zarenpaar treffen sollte und im Oktober 1906 seine erste Privataudienz bei Nikolaus II. und dessen Familie erhielt (wobei er eine Ikone aus dem Kloster Werchoturje überbrachte), erwies sich später als bedeutender Ratgeber.
 
Eine wichtige Mittlerrolle spielten zu Beginn der Herrschaft Zar Nikolaus' II. die Großfürsten Nikolai und Pjotr Nikolajewitsch sowie deren montenegrinischen Frauen Anastasia und Miliza, die sich durch ihre Kontakte zur mystisch-religiösen Szene die Gunst des Zarenpaares, insbesondere der Zarin, sichern konnten. Zu den »Heiligen«, die in den Salons der »Montenegrinerinnen« Miliza und Anastasia vorstellig wurden, gehörten auch so genannte »Jurodiwi« (»heilige Narren«), geistig zurückgebliebene und oftmals körperlich entstellte arme Leute, die vor allem unter der ländlichen Dorfbevölkerung hoch angesehen waren, da man ihnen gerade aufgrund ihrer Idiotie eine besondere »Heiligkeit« und Nähe zu Gott nachsagte. Auch in den gehobenen Kreisen glaubten viele an ihre Prophezeiungen und Wundertaten. Nicht nur bei politischen Entscheidungen spielten die »Heiligen« eine wichtige Rolle. Die Zarin erhoffte sich durch die Gebete und Beschwörungen, Gott möge ihr den ersehnten Thronfolger schenken.
 
 Heiler des Thronfolgers
 
In der Tat hatte Alexandra am 30. Juli (12. August) 1904 einen Sohn zur Welt gebracht, der den Namen Alexei erhielt. Bald stellte sich jedoch heraus, dass der junge Zarewitsch an der Bluterkrankheit (Hämophilie) litt und ständig in Gefahr war, schon bei der kleinsten Verletzung zu verbluten. Die Zarin widmete fortan die meiste Zeit ihrem anfälligen Jungen. Im Glauben an die Vorherbestimmung ertrug der Zar die Krankheit seines einzigen Sohnes wie viele andere tragische Ereignisse mit fatalistischer Ergebenheit. Zu den engsten Vertrauten von Alexandra gehörte in dieser Zeit Anna Wyrubowa, Hofdame und Tochter des kaiserlichen Kanzleidirektors Alexander Tanejew. Das Zarenpaar war oft in ihrem Haus unweit des Schlosses von Zarskoje Selo zu Gast und Anna blieb bis zum Tode Alexandras 1918 deren einzige Freundin, die das volle Vertrauen der Zarin genoss. Da in Alexandras Familie die Bluterkrankheit erblich war, gab sie sich die Schuld am Schicksal ihres Sohnes, und da die normale Medizin der Krankheit Alexeis in den meisten Fällen hilflos gegenüberstand, flüchtete sich die Zarin zunehmend in die Religion. Im Salon der Gräfin Ignatjewa, in dem auch die »Montenegrinerinnen« verkehrten, war in der Zwischenzeit der seltsame »Heilige« Rasputin zum Gesprächsthema der gehobenen Gesellschaft avanciert. Über die Großfürstin Anastasia erfuhr die Zarin von Erzählungen über die heilenden Fähigkeiten Rasputins und schöpfte wieder Hoffnung. Als der Thonfolger Alexei sich 1907 beim Spielen verletzte und ihm die Ärzte nicht zu helfen vermochten, wurde Rasputin nach Zarskoje Selo gerufen. Ihm gelang es tatsächlich, die Blutungen des Thronfolgers auf ungeklärte Weise zu stoppen (laut Augenzeugen stand er nur am Fußende des Krankenbettes und betete). Von nun an genoss Rasputin die volle Unterstützung des Zarenpaares, in dessen Augen er zunehmend unverzicht- und unfehlbarer wurde. Insbesondere Alexandra verehrte diesen Mann, der Alexei gerettet hatte. Auch Anna Wyrubowa und die Zarentöchter waren von Rasputin fasziniert. Für Alexei wurde er gar zum Freund. Erzählungen zufolge sollen schon Telefongespräche zwischen den beiden zu einer Besserung des Gesundheitszustandes des Zarewitschs geführt haben.
 
 Aufstieg zur Macht
 
In den kommenden Jahren weitete sich der Einfluss Rasputins (der sich auf eigenen Antrag seit 1907 Rasputin-Nowy nennen durfte) auch außerhalb der kaiserlichen Familie aus. Schon früh hatte er trotz seiner ungehobelten Ausdrucksweise das Vertrauen des Zaren gewonnen, der mit Rasputin auch politische Entscheidungen diskutierte. Die enge Beziehung des obskuren »Gottesmannes« mit dem Zarenpaar brachte zwangsläufig Gegner ins Spiel, denen Rasputin gefährlich schien. In weiten Teilen der hohen Geistlichkeit und der politischen Klasse, auch unter seinen ehemaligen Förderern stieß er zunehmend auf Ablehnung und Missgunst, welche sich noch steigerten, als seine Einwirkungsmöglichkeiten auf die Staatsgeschäfte wuchsen.
 
Negativ auf seinen Ruf wirkte sich auch sein ausschweifendes Privatleben aus, um das sich zahlreiche Gerüchte und Geschichten rankten. In der Tat prahlte Rasputin im betrunkenen Zustand mit seiner sexuellen Anziehungskraft, der sich auch die Zarenfamilie nicht hätte entziehen können. Obwohl diese Darstellung jeder Grundlage entbehrte, schadete sie dem Ansehen der Monarchie. Die Freundschaft zum Zarenpaar konnte jedoch auch der anstößige Lebenswandel Rasputins zum Leidwesen seiner Gegner nicht beeinträchtigen. Als der Zar Rasputin Ende des Jahres 1911 nahe legte, sich einige Zeit zurückzuziehen, bis sich die Wogen wieder geglättet hätten, soll sich dieser verabschiedet haben mit den Worten: »Ich weiß, dass böse Menschen darauf aus sind, mir euer beider Liebe zu rauben. .. Solltet ihr euch von mir trennen, so werdet ihr innerhalb eines halben Jahres euren Sohn und eure Krone verlieren!« Rasputin verließ Anfang 1912 St. Petersburg und kehrte in sein Heimatdorf Pokrowskoje zurück, nicht ohne danach wiederholt in die Hauptstadt zu fahren, um seine Anhängerinnen zu treffen oder sich mit Prostituierten zu amüsieren, wie das Beobachtungsprotokolle der ihn beschattenden Agenten der Geheimpolizei dokumentieren. Nach einem Unfall des Zarewitschs, nach dem dieser auf dem kaiserlichen Jagdgut Spala mit dem Tod rang, konnte Rasputin erneut seine unerklärlichen Heilkräfte unter Beweis stellen (»Wunder von Spala«) und bald danach zurückkehren, um seinen Aufstieg fortzusetzen.
 
 Audienz bei einem »Heiligen« - Verführer und Freund
 
Der nicht unerhebliche Einfluss der Zarin, die nach diesem Ereignis endgültig von der »göttlichen Weisheit« Rasputins überzeugt war, machte ihn zu einem wichtigen Ratgeber des Zaren. Rasputin hatte schon zuvor die Bedeutung des einfachen Volkes für den Fortbestand der russischen Monarchie betont und sollte nun die Distanz des Zaren zu seinen Untergebenen überbrücken. Rasputins Einfluss ging so weit, dass er Minister sowie andere hohe Beamte und Geistliche absetzen oder ins Amt berufen konnte. So gelangte z. B. Boris Stürmer (Ministerpräsident) auf seinen einflussreichen Posten. In seiner St. Petersburger Wohnung, im dritten Stock der Gorochowajastraße 64 gelegen, ging nicht nur die gehobene Gesellschaft ein und aus, auch arme Bittsteller wurden von ihm empfangen. Seine Gestalt, die der eines einfachen Bauern entsprach, war auf den ersten Blick wenig ansprechend, doch besaß er eine unerklärliche Ausstrahlung. Insbesondere seine unheimlichen Blicke und der verführerische Unterton seiner Stimme verfehlten nicht ihre Wirkung. Seine Anziehungskraft auf Frauen nützte Rasputin vor allem bei Treffen mit jungen Damen aus, die ihn aus verschiedenen Gründen aufsuchten. Manche von ihnen verfielen ihm ganz, wie das Beispiel von Olga Lochtina, der Frau eines Staatsrates, zeigte, die Rasputin - nachdem dieser sie von einer Krankheit befreit hatte - auf geradezu psychopathische Weise verehrte und verfolgte und die er sogar in seinem Haus in Pokrowskoje aufnahm.
 
Während besonders die Damenwelt, ob Jung oder Alt, den heiligen Starez verehrte, gab es auch einflussreiche Männer, die sich der Macht Rasputins bedienten. Zum einen gelangte Rasputin auf diese Weise an nicht unerhebliche finanzielle Mittel, die sowohl als Spende für sein »heiliges Werk« gedacht waren als auch zu einem großen Teil als Bestechungsgelder für seine politische oder geistliche Einflussnahme gezahlt wurden. Zum anderen teilte Rasputin das eingenommene Geld wieder unter den Bittstellern auf, die ihn in seiner Wohnung besuchten. Obwohl er kein armer Mann mehr war, fehlte ihm die rechte Beziehung zu finanziellen Dingen. In diesen Angelegenheiten verließ er sich stattdessen auf seinen Freund und gelegentlichen Sekretär Aron Simanowitsch sowie die Bankiers und Industriellen Ignati P. Manus und Dmitri (»Mitja«) Rubinstein, die Rasputin zwar für ihre eigenen Geschäfte und Belange ausnutzten, aber auch sein Geld anlegten. Rasputin wurde nicht selten betrogen, was ihn jedoch nicht weiter störte, genauso wenig wie die Tatsache, dass die meisten seiner Angestellten die Geheimpolizei (die »Ochrana«) mit Informationen versorgten. Sie und andere Agenten, die sich ständig in Rasputins Nähe aufhielten, konnten den Ministern ein genaues Bild seines Lebenswandels liefern. Zu den Personen, die Rasputin öfter besuchten, zählten u.a. Anna Wyrubowa, Miliza Nikolajewna sowie Frau Golowina und ihre Tochter Maria. Obwohl die beiden Letzteren zu seinen glühendsten Verehrerinnen zählten, trugen sie tragischerweise indirekt zu seiner späteren Ermordung bei. Rasputin hielt sich im Laufe der Zeit immer seltener in Zarskoje Selo auf, stand jedoch mit der Zarenfamilie in ständigem Telefonkontakt. Auch seinen Einfluss auf politische und militärische Entscheidungen des Zaren übte er weiterhin aus. Als am 28. Juni 1914 Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo erschossen wurde und Österreich danach Serbien ein Ultimatum stellte, konnte Rasputin den Kriegseintritt Russlands nicht verhindern. Seinen Aussagen zufolge wäre er in gesundem Zustand in der Lage gewesen, den Kaiser von einer Kriegsbeteiligung abzuhalten. Am 29. Juni 1914 hatte jedoch eine in Zarizyn wohnende Frau namens Chionia Gusjewa einen Anschlag auf ihn verübt, von dessen Folgen er sich nur langsam erholte.
 
Aus Berichten geht hervor, dass Rasputin ein entschiedener Gegner von kriegerischen Auseinandersetzungen war, unter denen seiner Meinung nach immer nur das einfache Volk zu leiden hatte, während die hohen Beamten, die den Krieg geplant hatten, sicher in ihren Dienstzimmern saßen. Seine Machtposition nützte er später aus, um die Kriegsführung des Zaren zu beeinflussen. So kam es u. a. durch seine Intervention zur Entlassung seines ehemaligen Gönners Nikolai Nikolajewitsch, eines Onkels von Nikolaus II., vom Posten des Oberbefehlshabers. Der Zar selbst übernahm an dessen Stelle das Oberkommando über die russischen Truppen.
 
 Feinde
 
Der Anschlag im Juni 1914 war nicht das einzige Attentat, das man gegen Rasputin geplant hatte. Die Zahl seiner Feinde war mit seiner politischen und gesellschaftlichen Machtposition stetig gewachsen. Auch sein ausschweifender Lebenswandel wurde für viele in der Gesellschaft St. Petersburgs untragbar. Zu seinen neuen Feinden zählten nun auch die Montenegrinerinnen Miliza und Anastasia, Nikolai Nikolajewitsch und Vater Theophan. Erbittertster Gegner und Urheber des Anschlages vom 29. Juni war der Mönchspriester Iliodor, dessen Beziehung zu Rasputin seit jeher von tiefem Hass und Missgunst geprägt war. Hatte er anfangs mitgeholfen, Rasputin in der Gesellschaft von St. Petersburg zu etablieren, so war ihm das Wirken Rasputins später zutiefst zuwider geworden, insbesondere seit er während einer gemeinsamen Reise die Verbindung Rasputins zur Chlysten-Sekte erkannt hatte. Nachdem er zusammen mit Vater Theophan und Bischof Hermogen einen Überfall auf Rasputin organisiert hatte, wurde er in ein Kloster verbannt, von wo aus er wenig später nach Norwegen flüchten konnte. Von dort aus gelang es ihm, über seine Anhänger in Russland den Mordanschlag auf Rasputin vorzubereiten. Hinter einem weiteren Mordkomplott verbarg sich der ehemals von Rasputin protegierte Minister des Inneren und Polizeichef Alexei Chwostow. Er hatte sich von Rasputin und dessen guten Beziehungen zu Zar Nikolaus II. Unterstützung für seine weiteren politischen Pläne erhofft. Zu diesen gehörte in erster Linie die Wiedereinberufung der Duma, die nach Kriegsbeginn 1914 aufgelöst worden war. Chwostow hoffte, das Parlament würde ihn nach der Abwahl des alten Ministerpräsidenten Goremykin zum neuen Regierungschef ernennen. Obwohl Chwostow mithilfe des (angeblichen georgischen) Fürsten Andronnikow auf Rasputin einwirkte und ihn hofierte, dachte dieser überhaupt nicht daran, den Zaren zugunsten Chwostows zu beeinflussen. Chwostow plante daraufhin die Ermordung des Starez mit der Hilfe seines Untergebenen Stepan Beletzki und des Chefs der »Besonderen Bewachung«, Oberst Michail Komissarow. Das Komplott scheiterte jedoch an internen Intrigen, und Boris Stürmer trat an Goremykins Stelle, die Chwostow für sich beansprucht hatte. Mit dem Plan, die Schuld am Tod Rasputins auf Beletzki zu schieben, hatte er seine Mitverschwörer gegen sich aufgebracht, die von nun an gegen ihn arbeiteten. Auf diese Weise scheiterte auch eine weitere Verschwörung Chwostows, die er zusammen mit Iliodor geplant hatte, und Chwostow wurde aus seinen Ämtern entlassen.
 
 Tragisches Ende
 
Für Rasputin waren die Berichte über die gescheiterten Anschläge seiner Feinde die Bestätigung seiner unangreifbaren Macht. Doch Rasputin unterschätzte den Hass, den viele gegen ihn hegten. Während die meisten ihn aufgrund seines politischen Einflusses beseitigen wollten, so war das Motiv seines tatsächlichen Mörders eher persönlicher Natur. Der junge Fürst Felix Jussupow konnte die Verehrung, die die Damenwelt von St. Petersburg für Rasputin empfand, nicht nachvollziehen. Im Salon Golowin hatte er Rasputin zum ersten Mal kennen gelernt. Maria Golowina, mit der ihn eine engere Bekanntschaft verband, gehörte zu den glühendsten Verehrerinnen Rasputins. Obwohl Rasputin dem Fürsten seit der ersten Begegnung im Salon Golowin große Sympathien entgegenbrachte, war dieser von der Art und Weise, wie Rasputin ungehemmt seinen hypnotischen Einfluss auf Frauen ausübte, überaus schockiert. Jussupow hatte sich durch die Heirat mit Irina Alexandrowna, einer Nichte des Zaren, in die obersten Kreise der Gesellschaft eingeführt. Sein sorgenfreies Leben wurde ihm schnell langweilig, und so fand er in seiner Verachtung für den absonderlichen Starez eine neue Herausforderung. Dessen Ermordung, die bisher keinem gelungen war, wurde zu einer fixen Idee des Fürsten. Bisher war noch jeder, der es versucht hatte, gescheitert, und auch alle Bemühungen, das Zarenpaar von der Gefahr Rasputins zu überzeugen, waren fehlgeschlagen. In dem Maße, wie sich die Gesellschaft über Rasputin erregte und wilde Gerüchte die Runde machten, wuchs der Glaube Jussupows, durch diesen Mord eine Heldentat für sein Vaterland zu vollbringen. Einen überzeugten Verbündeten bei seinen Plänen fand er im Dumaabgeordneten Wladimir Purischkjewitsch. Dieser hatte in seinen Reden keine Gelegenheit ausgelassen, Rasputin für die katastrophale Kriegslage Russlands verantwortlich zu machen. Dritter im Bunde wurde der Großfürst Dmitri Pawlowitsch, dessen familiäre Bindung zur Zarenfamilie man sich zunutze machen wollte. War ein Mitglied der kaiserlichen Familie an einem Verbrechen beteiligt, so konnte sich dieses (samt seiner Mitstreiter) auf die kaiserliche Immunität berufen und alle blieben von der gesetzlichen Strafverfolgung verschont. Für den Plan, Rasputin zu vergiften, wurde ein Assistent Purischkjewitschs, der Arzt Lasowert, eingeweiht, der die erforderliche Giftmenge besorgen, aber auch als Chauffeur am Mordabend fungieren sollte. Ein weiterer Beteiligter war der mit Jussupow befreundete Offizier Suchotin.
 
Jussupow, der sich von den Treffen mit Rasputin zurückgezogen hatte, musste erneut versuchen, dessen Vertrauen zu gewinnen. Sein enges Verhältnis zu Maria Golowina, die schon früher versucht hatte, die beiden Männer einander näher zu bringen, konnte er für diesen Zweck perfekt ausnutzen. Als Jussupow sie bat, ihn erneut mit Rasputin zusammenzubringen, schöpfte sie ob dieser Sinneswandlung keinerlei Verdacht. Auch Rasputin war überaus erfreut, seinen jungen Freund wieder zu sehen und empfing ihn mit großer Herzlichkeit. Besonders angetan war der Starez, der eine Vorliebe für Zigeunerlieder hegte, von den musikalischen Talenten Jussupows, die er bei weiteren Treffen zu schätzen lernte. Schließlich lud Jussupow Rasputin für den 16. (29.) Dezember 1916 in sein Palais ein, wo der Mord stattfinden sollte. Als Köder diente Jussupows Frau, Irina Alexandrowna, die kennen zu lernen ein lang gehegter Wunsch Rasputins war. Tatsächlich befand sich Irina Alexandrowna aber nicht in der Stadt. Unter dem Vorwand, dass die Eltern Jussupows Rasputin ablehnend gegenüberstanden, beraumte Jussupow das Treffen um Mitternacht an und bat um Geheimhaltung. Als Ort für den geplanten Mord war ein Kellerraum vorgesehen, der eigens eingerichtet wurde, um den Eindruck von Wohnlichkeit zu vermitteln. Jussupow, der den Mord allein vollbringen sollte, holte Rasputin aus dessen Wohnung ab und fuhr ihn in sein Palais. Was er nicht wusste, war, dass Rasputin sowohl Anna Wyrubowa als auch seinen Kindern von dem geplanten Treffen im Palais der Jussupows erzählt hatte. Ferner hatte Rasputins Dienstmädchen, Katja Iwanowna, die Stimme Jussupows erkannt, als dieser den Starez abholte.
 
Im Kellerraum servierte Jussupow dann den mit Zyankali vergifteten Kuchen, doch das erhoffte Ergebnis trat zu seinem Entsetzen nicht ein. Auch der vergiftete Wein zeigte zuerst keine Wirkung. Ob schließlich das Gift zu wirken begann und Rasputin am Ende die wahren Motive Jussupows erkannte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Dieser hatte, nachdem er einige Zeit vergeblich auf eine Reaktion Rasputins gewartet hatte, eine Pistole gezogen und seinen verhassten Besucher niedergeschossen. Später schlug Jussupow noch auf den leblosen Körper Rasputins ein, bevor man ihn mit Stricken gefesselt von einer Brücke in die Newa versenkte. Als die Polizei einige Tage darauf die Leiche Rasputins aus dem zugefrorenen Fluss zog, deuteten einige Zeichen gar darauf hin, dass er zum Zeitpunkt, als man ihn ins Wasser geworfen hatte, noch am Leben gewesen war.
 
Bereits am Morgen des 17. (30.) Dezember 1916 hatte sich die Polizei auf die Suche nach Rasputin begeben, nachdem dieser nicht wieder nach Hause zurückgekehrt war. Jussupow selbst behauptete, Rasputin wäre überhaupt nicht bei ihm erschienen, doch hatte ein Polizist in der Nacht Schüsse aus dem Palais vernommen und dies gemeldet. Als man das Anwesen Jussupows durchsuchte, fand man Blutspuren, und obwohl Jussupow noch immer die Anwesenheit Rasputins leugnete, war das Geschehene offensichtlich. Sowohl seine Lüge über den Aufenthaltsort seiner Frau Irina als auch die Mittäterschaft Purischkjewitschs und des Großfürsten Dmitri Pawlowitsch wurden aufgedeckt.
 
Rasputin wurde im Beisein des Zarenpaares und seiner Familie am 21. Dezember 1916 (nach heutiger Datierung am 3. Januar 1917) im Park von Zarskoje Selo bestattet. Vor allem das einfache Volk war über den brutalen Mord entsetzt. Für dieses hatte Rasputin, der heilige Starez, immer die Interessen der Bauern vertreten, aus deren Schicht er gekommen war. In Teilen der Gesellschaft von St. Petersburg wurde der Mord an Rasputin hingegen als patriotische Tat gefeiert. Seine Mörder kamen auf Druck der Großfürsten mit milden Strafen davon und wurden in entlegene Gebiete verbannt.
 
Im März 1917, wenige Tage nach der durch die Februarrevolution erzwungenen Abdankung von Nikolaus II., musste die ehemalige Zarin Alexandra (nun mit ihrer Familie unter Hausarrest) vom Palast in Zarskoje Selo aus zusehen, wie Soldaten das Grab Rasputins öffneten und den Sarg auf einem Lastkraftwagen wegfuhren; später wurde der Leichnam von ihnen verbrannt. Damit schloss sich der Schicksalskreis von Rasputin. Seine furchtbare Prophezeiung, das mit seinem Tod auch die Zarenkrone verloren gehen und Unglück über die Romanows kommen würde, sollte sich bald bewahrheiten. In der Nacht zum 17. 7. 1918 wurde die Zarenfamilie in einem Kellerraum des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg (ihrem letzten Gefangenendomizil) von bolschewistischen Tschekisten erschossen.
 
 Nachwirken eines legendenumwobenen Lebens
 
Die Faszination, die von dem »Wunderheiler« und »Gottesmann« Rasputin schon zu Lebzeiten ausging, hielt auch nach seinem Tod an. Davon zeugt nicht nur eine große Zahl Bücher, die sich - von literarisch frei über populär erzählend bis wissenschaftlich dokumentierend - mit ihm befasst. In dieser Hinsicht erhellende, in deutscher Sprache erschienene Biografien waren in jüngerer Zeit u. a. »Rasputin - Das Geheimnis seiner Macht« (München 1995) von Elisabeth Heresch, die aus dem Französischen übertragene Studie »Rasputin« (München 1999) von Henri Troyat und die auf der Basis (lange als verschollen geltender) Polizeiakten entstandene Untersuchung »Die Geheimakte Rasputin. Neue Erkenntnisse über den Dämon am Zarenhof« (ebenfalls München, 2000) von Edward Radsinski.
 
Daneben regte die Vita Rasputins auch nicht wenige Regisseure zu Filmadaptionen an, die aber vor allem die unheimliche Seite dieses Mannes hervorhoben, sein Doppelleben als »Heiliger« und »Erotomane« thematisierten, wobei die historische Kulisse zumeist nur als Beiwerk eines Unterhaltungsstreifens diente und überwiegend platte Kolportagegeschichten über den »Wundermönch« vermittelt werden. Eine rühmliche Ausnahme bildet der ab 1974 entstandene (erst 1981 in Moskau uraufgeführte) Film von Elem Klimow »Agonie«, eine bildgewaltige Darstellung des mit der zwielichtigen Figur Rasputins verbundenen Unterganges der Romanows. Auch das Theater nahm sich des Stoffes an; so inszenierte Erwin Piscator 1927 auf seiner Berliner Bühne am Nollendorfplatz das von Alexei Tolstoi stammende Stück »Rasputin«.
 
Trotz vielfältiger Versuche, Rasputins schnellen Aufstieg und jähen Fall sowie seine außergewöhnlichen Fähigkeiten zu entschlüsseln, blieb dieser aber doch in mancherlei Hinsicht ein Mysterium, entzieht sich ein Teil seiner Person der rein rationalen Erklärung.

Universal-Lexikon. 2012.