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Liberalismus: Wirtschaftsliberalismus
Liberalismus: Wirtschaftsliberalismus
 
Der klassische Liberalismus, der im 19. Jahrhundert die europäische Wirtschaft und Gesellschaft entscheidend prägte, hatte sowohl eine politische als auch eine wirtschaftliche Seite. Auf beiden Feldern stellte er das Individualprinzip oben an. Das Individuum wurde dabei in typisch aufklärerisch-optimistischer Art und Weise als vernünftiges Wesen begriffen, das einen naturrechtlich begründeten Anspruch darauf hatte, sich in allen menschlichen Lebensbereichen frei zu betätigen. Ihm wurde die Fähigkeit zugestanden, rationale politische Urteile zu fällen und wirtschaftliche Initiative zu entfalten. Die intellektuellen Wegbereiter des Liberalismus glaubten, dass die am wirtschaftlichen Eigennutz orientierten (utilitaristischen) Entscheidungen der Individuen automatisch zu der von ihrem göttlichen Schöpfer gewollten natürlichen Ordnung der Gesellschaft (François Quesnay) oder zur vollendeten sozialen Harmonie (Adam Smith) führen würden. Jeremy Bentham formulierte die Maximierung des Glücks möglichst aller Menschen als das oberste Ziel der menschlichen Entwicklung: the greatest happiness of the greatest number. Die liberalen Denker waren überzeugt, dass sich dieses Ziel am besten erreichen ließe, wenn jeder seine individuellen Interessen verfolge.
 
 Das größte Glück der größten Zahl — Die reine Lehre
 
Ein aufklärerischer Kosmopolit, Bernhard de Mandeville, hatte 1705 seine »Bienenfabel« veröffentlicht. Der Titel dieser Schrift »Private Vices Made Public Benefits« (»Private Laster werden zu öffentlichen Tugenden«) enthielt bereits den Kerngedanken des wirtschaftlichen Liberalismus: Mandeville behauptete nämlich, dass nicht nur die Erfindungen und die Kapitalzirkulation, sondern auch der Luxus des Einzelnen die Gesellschaft als Ganzes voranbrächten. Diese behauptete Harmonie von individuellem Eigennutz und Gesamtinteresse der Gesellschaft schuf die Grundlage für die Lehren Adam Smiths.
 
Dem Merkantilismus war es um den Reichtum und damit um die — militärische — Macht des Staates gegangen, der weitgehend mit dem Fürsten oder Herrscher gleichgesetzt wurde. Adam Smith ging es dagegen in seinem 1776 erschienenen Buch »An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations« (»Eine Untersuchung des Wesens sowie der Ursachen des Volkswohlstandes«) nicht in erster Linie um eine Hebung des Reichtums der Staaten, sondern um eine allgemeine Hebung des Wohlstandes der Menschen. Nicht zuletzt in dieser Akzentverschiebung erweist sich der Liberalismus als die politische und ökonomische Konzeption des aufsteigenden Bürgertums, das sich als Speerspitze des gesamtgesellschaftlichen Fortschritts verstand.
 
Adam Smiths Epoche machendes Werk wurde zur Bibel des Liberalismus, sein Gedankengut innerhalb weniger Monate zur öffentlichen Macht. Nur auf der Grundlage freihändlerisch ausgerichteter Staaten, die den freien Austausch von Gütern ermöglichten und damit die jeweiligen nationalen Standort- und Kostenvorteile zur Entfaltung kommen ließen, konnte nach seiner festen Überzeugung der Wohlstand der gesamten Menschheit gehoben werden.
 
Karl Marx hatte recht, wenn er Adam Smith den »Luther der Nationalökonomie« nannte. Seine Wirtschaftsauffassung war auf dem Felde der Nationalökonomie in der Tat ähnlich revolutionär wie das Wirken des Reformators auf kirchlichem Gebiet: Wenn Smith den erwünschten materiellen, in Geld darstellbaren Wohlstand der Menschen in den Mittelpunkt rückte, so setzte er allen mittelalterlichen und merkantilistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsauffassungen den materialistischen Individualismus entgegen. Für den klassischen Liberalismus bestand der Reichtum der Nationen nicht mehr in einem möglichst großen Vorrat an Geld oder Edelmetallen, wie ihn der Merkantilismus zum Ziel erhoben hatte, als Quelle des Wohlstandes galt nunmehr der Produktionsfaktor Arbeit. Der Ertrag der Arbeit sollte dabei durch eine möglichst weit gehende Arbeitsteilung erhöht werden. Die Arbeitsteilung galt als entscheidender Beweggrund, ja geradezu als Wurzel des gesellschaftlichen Zusammenschlusses der Menschen. Die gesellschaftliche Arbeitsteilung hebt demnach den archaischen biologischen Kampf aller gegen alle auf, in dem jedes einzelne Lebewesen der Konkurrent des anderen um die begrenzten Nahrungsvorräte ist. An seine Stelle tritt nun der gesellschaftliche Wettbewerb. Hier geht es nicht mehr um Leben und Tod, sondern darum, dass der Einzelne in einem zivilisierten Wettbewerb einen Platz in der gesellschaftlichen Ordnung erlangt. Wenn er dabei für die eigenen Interessen kämpft, dient er zugleich dem gemeinsamen Interesse aller am Bestand der gesellschaftlichen Ordnung und ihrer materiellen Höherentwicklung. Hier liegt ein zentraler Unterschied zu allen vor- oder antiliberalen Wirtschaftslehren wie beispielsweise dem Merkantilismus: Sie alle sahen und sehen im Profit des einen stets den Verlust des anderen, während der Liberalismus von der — langfristigen — Harmonie der individuellen Interessen mit denen der Gesamtheit ausgeht. Dabei liegt dem Liberalismus die Annahme zugrunde, dass sich das materielle Niveau der Gesellschaft in einem friedlichen Wettstreit innerhalb der Staaten und zwischen diesen stetig weiter fortentwickeln lässt. Nur innerhalb dieser optimistischen Grundannahme wird die Interessenharmonie von Individuum und Gesellschaft überhaupt denkbar. Das zentrale Prinzip des Liberalismus ist die arbeitsteilige Marktwirtschaft. Sie beruht auf dem Privatbesitz an den Produktionsmitteln. In ihr entscheiden nicht der Staat oder Zwangskorporationen der Wirtschaft wie zum Beispiel die mittelalterlichen Zünfte darüber, was in welchen Mengen und zu welchen Preisen hergestellt wird, sondern allein das Kaufen oder Nichtkaufen der Verbraucher auf dem Markt. Der unterschiedliche Erfolg auf dem Markt schlägt sich in der notwendigen Ungleichheit von Einkommen und Vermögen nieder. Der Profit hat dabei die Aufgabe, die Verfügung über die Produktionsmittel in die Hand jener Unternehmer zu legen, die die beste und billigste Versorgung der Verbraucher gewährleisten. Soll dieser Mechanismus auf Dauer funktionieren, darf der Staat keinesfalls den weniger leistungsfähigen Produzenten subventionieren oder ihn auf irgendeine Art und Weise vor dem Wettbewerb der erfolgreicheren schützen.
 
 Der Nachtwächterstaat — Die Rolle des Staates
 
Der Liberalismus definierte vor diesem Hintergrund die Rolle des Staates auf eine neue Art und Weise. Dieser hat vor allem für die äußere und innere Sicherheit seiner Bürger zu sorgen, das Privateigentum als Triebfeder individualistischer Wirtschaftstätigkeit rechtlich zu garantieren und für den reibungslosen Ablauf des Wirtschaftslebens durch entsprechende rechtliche Gestaltung der Rahmenbedingungen zu sorgen. Er sollte sich damit weitgehend auf eine Rolle als »Nachtwächterstaat« beschränken, das heißt für die Freiheit und Sicherheit des politischen und wirtschaftlichen Lebens und einen funktionierenden wirtschaftlichen Wettbewerb sorgen.
 
Das liberale Grundprinzip war der freie Markt für Güter, Kapital und Arbeitskräfte. Der marktwirtschaftliche Wettbewerb sollte durch den Marktpreis reguliert werden. Dahinter stand die Annahme, dass marktwirtschaftliche Systeme, in denen sich die Preise für Waren, Kapital und Arbeit frei bilden konnten, bei jeder Störung automatisch wieder zum Gleichgewicht strebten (Stabilitäts- oder Harmonieprinzip). Nach dieser Vorstellung waren dauerhafte Störungen des wirtschaftlichen Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt, dem Kapitalmarkt und dem Gütermarkt praktisch unmöglich. Es konnte nach diesem Modell auf dem Arbeitsmarkt weder Unter- noch Überbeschäftigung, auf dem Kapitalmarkt weder zu viel noch zu wenig Sparen und Investieren, auf dem Gütermarkt weder ein zu großes noch ein zu geringes Angebot an Gütern, weder eine zu große noch eine zu geringe Nachfrage nach denselben geben, da der Preismechanismus für diese Dinge sofort für einen Ausgleich sorgen würde. Der klassische Liberalismus lehnte daher auch die staatliche Sozialpolitik prinzipiell ab. So forderte etwa David Ricardo, dass eine Unterstützung der Armen auf ein Minimum beschränkt werden müsse. Eine öffentliche Unterstützung der Armen sollte allenfalls gegen eine harte Arbeitsleistung in einem Arbeitshaus gewährt werden.
 
Von der Mitte des 17. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmten besondere Formen des Merkantilismus die wirtschaftlichen Außenbeziehungen Englands. Die staatliche Förderung von Handel, Schifffahrt und Royal Navy bildete den Lebensnerv eines merkantilistischen Außenwirtschaftssystems, das durch eine Aus- und Einfuhr-, Produktions- und Verkehrsgesetzgebung, durch Zölle, durch die Navigationsakte und durch das Verbot von Manufakturen und Schifffahrtsunternehmungen in den Kolonien ergänzt wurde. Dieses merkantilistische Exklusivsystem machte England zum Beherrscher der Weltmeere und zum Verbrauchsgüterlieferanten der Welt. Erst der Abfall der nordamerikanischen Kolonien im Jahre 1776 schlug eine Bresche in dieses ganz auf das Mutterland ausgerichtete Wirtschaftssystem. Anders sahen die innerenglischen Verhältnisse bereits seit dem 18. Jahrhundert aus: Hier bildeten England und Wales und bald auch Schottland den größten Raum freien Wirtschaftsverkehrs in Europa. So führte der venezianische Gesandte den bereits 1706 hohen Stand der englischen Gewerbe auf diesen freien Binnenverkehr zurück.
 
In der Mitte des 19. Jahrhunderts löste die liberale Wirtschaftsordnung allgemein die merkantilistische des 18. Jahrhunderts ab. Auf dem Wege dahin nahmen die europäischen Staaten je nach ihrer wirtschaftlichen Entwicklungsstufe in einem unterschiedlichen Zeithorizont eine Reihe von Maßnahmen zur Liberalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft vor. Eine wesentliche Etappe auf diesem Wege hatte zunächst in der Aufhebung der ständisch-feudalen Abhängigkeitsverhältnisse auf dem Lande bestanden. Die Reformen der Agrarverfassung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verliehen den Bauern die persönliche Freiheit, übertrugen ihnen einen Teil des von ihnen bewirtschafteten Bodens als Eigentum und hoben die Dienste und Abgaben auf. Durch diese Maßnahmen wurde die Produktivität erhöht und die Arbeitskraft freigesetzt. Die Überwindung des Zunftwesens und die Einführung der Gewerbefreiheit bildete ein weiteres liberales Reformziel. Hier ging es um die Aufhebung von Monopolen, Reglementierungen und Privilegien, die Einführung der uneingeschränkten Freizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit, die freie Berufswahl.
 
Auf dem Gebiet von Handel und Verkehr wurden die mittelalterlichen Stapel-, Markt- und Straßenrechte und die Binnenzollschranken aufgehoben. Gleichzeitig baute der Staat zahlreiche »Regalien«, das heißt wirtschaftliche Hoheitsrechte des Staates ab, indem er öffentliche Unternehmen privatisierte. Das preußische Berggesetz von 1865 verzichtete zum Beispiel auf die bis dahin gültige zentrale staatliche Planung des Bergbaus. Die wirtschaftliche, technische und soziale Entwicklung dieses für die Industrialisierung so wichtigen Bereichs ging damit in die privatwirtschaftliche Initiative über.
 
Indem er die Gründung von Aktiengesellschaften von staatlichen Konzessionen unabhängig machte, ermöglichte der Staat die Herausbildung neuer Unternehmensformen und regte die unternehmerischen Kräfte an. Ergänzt wurde dies durch eine Liberalisierung der Handels- und Zollpolitik und eine Patentgesetzgebung zum Schutze geistigen Eigentums. Überall förderte der Staat die Entstehung freier Märkte, indem er sich weitgehend aus der Wirtschaft zurückzog. Er beschränkte sich darauf, das liberale System des Konkurrenzkapitalismus rechtlich und institutionell abzusichern. In England gelten die Jahre 1830 bis 1875 als das klassische Zeitalter einer freien Marktwirtschaft.
 
 Die Idee verliert ihren Glanz — Abkehr von klassischen Postulaten
 
Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts traten in den entwickelten Industrieländern jedoch Entwicklungen ein, die immer weiter vom liberalen Modell wegführten. In Deutschland war dies besonders ausgeprägt. Im Zuge eines allgemeinen wirtschaftlichen Konzentrationsprozesses, der mit der immer aufwendiger werdenden Technik und der Zunahme des weltwirtschaftlichen Wettbewerbs zusammenhing, entstanden Großunternehmen und Konzerne. In der Phase der »Großen Depression« (1873—95), einer Zeit verlangsamten Wachstums und weltweiten Preisverfalls, sicherten sich die Unternehmer durch Marktabsprachen, Kartelle und Syndikate gegen einen weiteren Verfall ihrer Unternehmensgewinne ab. Neue Massenproduktionsverfahren in der Stahl- und Eisenindustrie führten zum wachsenden Verlangen nach festeren Preisen. Das Zeitalter ungestörter Expansion in aufnahmefähigen Märkten war offenbar vorüber. Angesichts verlangsamten Wachstums, sinkender Preise und verstärkter internationaler Konkurrenz war vor allem die Schwerindustrie bestrebt, die Preise auf dem Binnenmarkt mithilfe entsprechender Absprachen und Organisationsformen hochzuhalten.
 
Auch in der englischen Wirtschaft entwickelten sich seit den 1880er-Jahren Kartelle, besonders in der Baumwollindustrie, die seit 20 Jahren unter niedrigen Preisen und nachlassenden Exporten gelitten hatte. Daneben kam es zu regelrechten betrieblichen Zusammenschlüssen von Firmen. Alles in allem gingen in den Jahren 1880 bis 1909 über 1600 britische Firmen durch Fusionen in größeren Unternehmenseinheiten auf. Die hundert größten britischen Unternehmen produzierten Anfang des 20. Jahrhunderts 15 % des gesamten Industrieproduktes. Die Bildung von marktregulierenden Kartellen und Syndikaten entsprach nicht mehr dem Idealmodell einer nach liberalen Gesetzen funktionierenden Marktwirtschaft. Immer mehr Unternehmerfunktionen gingen auf die zahlreichen Verbände über.
 
Weder Unternehmer noch Arbeitnehmer vertraten ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen in der Regel als Individuen. Immer mehr kollektive Zusammenschlüsse wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und sonstige Interessengruppen bildeten sich und handelten wirtschaftlich-gesellschaftliche Kompromisse aus. Vor allem aber griff der Staat nunmehr immer stärker in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Sphäre ein. Er entwickelte sich dabei zum modernen Interventions- und schließlich Wohlfahrtsstaat. Die Verteilung der wirtschaftlichen und sozialen Chancen blieb nicht mehr dem freien Spiel der Kräfte überlassen.
 
Der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck erkannte, dass der Staat positive sozialpolitische Maßnahmen ergreifen musste, wenn nicht die Autorität der regierenden Kreise durch eine weitere Zunahme der wirtschaftlichen und sozialen Polarisierung gefährdet werden sollte. Aus dieser Sicht war es konsequent, wenn Bismarck die rigorose Bekämpfung der Arbeiterbewegung im Rahmen seines »Sozialistengesetzes« mit einem für die damalige Zeit wegweisenden Programm staatlicher Sozialversicherung verband.
 
Diese Abkehr von den zentralen Positionen des Wirtschaftsliberalismus blieb keineswegs auf Deutschland beschränkt. Unter dem Druck politischer und sozialer Protestbewegungen gegen die sozialen Auswirkungen der kapitalistisch-industriellen Produktionsweise hatten sich Liberale wie auch Konservative gegen Ende des 19. Jahrhunderts bequemen müssen, ihre traditionellen Vorstellungen von der Rolle des Staates zu überdenken. Der liberale englische Staatsmann William Harcourt bemerkte dazu: We are all socialists now!
 
Die sozialstaatliche Mindestversorgung, die in Deutschland in den 1880er-Jahren mit Bismarcks Sozialversicherungsgesetzen begann und noch vor dem Ersten Weltkrieg von anderen Ländern aufgegriffen wurde, entwickelte sich immer mehr zu einem umfassenden System sozialer Absicherung und staatlicher Umverteilung. Hatte der Staat in der Anfangszeit der Industrialisierung mit dem Bau von Kanälen und Eisenbahnen nur wenige infrastrukturelle Vorleistungen für die Wirtschaft bereitgestellt, so ging die Entwicklung in der Folgezeit über eine befristete Konjunkturpolitik bei schwerwiegenden Wirtschaftskrisen zu einer gesamtwirtschaftlichen Stabilisierungspolitik. Die vereinzelten und in ihrer Wirkung begrenzten Vorschriften der Frühindustrialisierung über Sicherheit am Arbeitsplatz, Hygiene oder Gesundheitsvorsorge entfalteten sich im 20. Jahrhundert immer weiter zu einem umfassenden Sicherheitssystem, an dessen vorläufigem Ende der staatliche Umweltschutz steht.
 
Die ständige Zunahme der Bedeutung des Staates für Wirtschaft und Gesellschaft seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts lässt sich an einigen Zahlen veranschaulichen. So nahm zum Beispiel in Deutschland die Ausgabenquote, das heißt der Anteil aller staatlichen Ausgaben am Sozialprodukt, von etwa 10 % im Jahre 1870, über 15 % zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf 50 % im Jahre 1980 zu. Die Steuerquote — also der Anteil der Steuereinnahmen am Sozialprodukt — stieg im gleichen Zeitraum von 4 % auf 26 % an. In der Tendenz wurde mithin ein immer größerer Teil des Sozialproduktes vom Staat in Anspruch genommen und politisch umverteilt. Das liberalkapitalistische System veränderte sich damit immer stärker in Richtung auf ein öffentlich-privates Mischsystem.
 
 International verflochten — Entwicklungstendenzen in der Weltwirtschaft
 
Trotz der erwähnten Abkehrtendenzen vom uneingeschränkten Liberalismus seit den 1870er- und 1880er-Jahren gab es bis zum Ersten Weltkrieg eine funktionierende internationale Arbeitsteilung mit einem relativ freien Warenaustausch, die im Begriff stand, sich zu einer internationalen Wirtschaftsordnung fortzuentwickeln. Zu ihr gehörte ganz wesentlich die Freiheit des Kapitalverkehrs. Die europäischen Volkswirtschaften waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts untereinander und mit der übrigen Welt immer enger über die Kapitalströme verbunden.
 
So investierte Großbritannien jahrzehntelang zwischen 5 und 10 % seines Sozialprodukts im Ausland. Lediglich mit den Erträgen aus diesen Auslandsinvestitionen, die wertmäßig ein Drittel seiner gesamten Importe abdeckten, konnte es seine Zahlungsbilanz ausgleichen, obwohl es industriell von anderen Mächten wie den USA und Deutschland überholt worden war und sein Anteil am Welthandel schrumpfte. Vor allem Frankreich, das industriell im 19. Jahrhundert weit hinter England, schließlich auch hinter Deutschland und die USA zurückgefallen war, gewann mit seiner wachsenden Kapitalkraft bald Einfluss auf die politische und wirtschaftliche Entwicklung der Welt.
 
Zu den Ländern, deren Eisenbahnnetz und Industrie durch ausländisches Kapital aufgebaut wurden, gehörten Italien, Spanien, Portugal, Belgien, Holland, die Schweiz, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, Russland, Schweden und zum Teil Dänemark. Im Jahre 1890 befand sich ein Drittel des Kapitals aller russischen Kapitalgesellschaften in ausländischer Hand, 1900 waren es schon 50 %. Ein Drittel allen ausländischen Kapitals in Russland entfiel auf französische Beteiligungen, ein Viertel auf englische, ein Fünftel auf deutsche und ein Siebtel auf belgische. Auch die Amerikaner wurden zunehmend auf dem internationalen Kapital- und Finanzmarkt aktiv.
 
Die Freisetzung der liberalen Marktkräfte im 19. Jahrhundert führte überall dazu, dass sich die Produktionsstätten an den günstigsten Standorten ansiedelten und riesige Ströme von Menschen in diese Industrieregionen einrückten. In Deutschland war es die Ost-West-Wanderung aus den agrarischen Gebieten des Ostens in die Industriegebiete des Westens; dem entsprach in Großbritannien eine Südwanderung und in Frankreich eine Nordwanderung. Auf diese Weise entstand an Nordsee und Atlantik ein relativ kleiner nordwesteuropäischer Kernraum von zentraler weltwirtschaftlicher Bedeutung.
 
Im Unterschied zu den westlichen Industrienationen setzte Japan mangels Privatinitiative und privaten Kapitals von vornherein nicht auf das liberale Entwicklungsmodell, sondern auf Staatsinitiative. Im Eisenbahn-, Straßen- und Kanalbau, in der Nachrichtenübermittlung, der Gas- und Elektrizitätsversorgung nahm der japanische Staat von Anfang an eine Monopolstellung ein. Von dort dehnte sich der staatliche Einfluss durch Darlehen- und Privilegiengewährung oder Steuerbegünstigungen auf viele andere Wirtschaftszweige wie beispielsweise den Bergbau und die Textilindustrie aus. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs war Japan unter der Führung des Staates zur expansivsten Industrie- und Handelsmacht auf der Erde geworden. Innerhalb eines halben Jahrhunderts seit der Öffnung des Landes war das japanische Handelsvolumen auf das Hundertfache gestiegen. Das Volksvermögen wuchs zwischen 1905 und 1913 um 25 %. Die gesamte Volkswirtschaft wurde nach industriepolitischen Gesichtspunkten gelenkt. Der Staat hielt die Agrarpreise niedrig und ermöglichte damit niedrige Industrielöhne und Produktionskosten, sodass die japanische Industrie immer neue Exportmärkte erschließen konnte. Japan entfaltete starke Expansionstendenzen in Rohstoffräume und Absatzmärkte sowie klimatisch günstige Siedlungsgebiete für seinen Bevölkerungsüberschuss. Formosa, Korea und die Mandschurei wurden ganz im Interesse der japanischen Wirtschaft industriell erschlossen.
 
Der freie Welthandel im 19. Jahrhundert führte zu langfristigen Verschiebungen. Europas Anteil an der Industrieproduktion der Welt nahm nach 1850 ab. Von diesem Zeitpunkt an machten die USA rapide wirtschaftliche Fortschritte. Während das deutsche Bruttoinlandsprodukt im Zeitraum 1870 bis 1913 um durchschnittlich 2,9 % pro Jahr wuchs, waren es im Falle der Vereinigten Staaten 4,3 %. Zwischen 1880 und 1900 überflügelten die USA die alte Industriemacht England. Die Europäer behielten allerdings einstweilen noch auf dem Kapitalmarkt und im Seeverkehr die Nase vorn. Mit den Erträgen aus ihren Investitionen in Nord- und Südamerika, im Vorderen Orient und in den Kolonien konnten England, Frankreich, Deutschland und Belgien ihre Zahlungsbilanz problemlos ausgleichen. Die enormen Kapitalinvestitionen Europas kamen nicht nur der eigenen wirtschaftlichen Entwicklung zugute, sondern eröffneten auch den Weg zu einer multilateralen weltwirtschaftlichen Zusammenarbeit, von der schließlich alle profitierten. Von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg verdreifachte sich der Wert des gesamten Welthandels.
 
 Zwiespältiges Urteil — Eine Bilanz
 
Versucht man eine Bilanz der Leistungen des Wirtschaftsliberalismus im 19. Jahrhundert, so muss man zunächst daran erinnern, dass das liberale Programm in keinem Land der Welt voll verwirklicht worden ist. Großbritannien, die USA und einige kleinere europäische Länder kamen dem Ideal in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch am nächsten. Frankreich und Deutschland hatten lediglich eine relativ kurze liberale Epoche zu verzeichnen. Außerhalb Westeuropas und der angelsächsisch geprägten Welt blieb der Liberalismus stets fremd.
 
Insgesamt muss die Bilanz zwiespältig ausfallen. Einerseits setzte der Liberalismus in den sich industrialisierenden Ländern eine nie zuvor da gewesene Produktivität der Wirtschaft frei und ermöglichte damit das Überleben einer Weltbevölkerung, die sich von 1800 bis 1900 von 728 auf 1608 Millionen mehr als verdoppelte, und einer europäischen Bevölkerung, die sich im gleichen Zeitraum von 140 auf 401 Millionen annähernd verdreifachte. Hier war ein grundsätzlich neues Konzept, ein qualitativer Sprung notwendig. Die Wachstumsschranken und Selbstblockierungen der alten gebundenen Wirtschaftsordnung mussten aufgehoben werden zugunsten eines Modells, das grundsätzlich von der Steigerungs- und Entwicklungsfähigkeit der materiellen Verhältnisse ausging und die eigennützigen Triebkräfte des Individuums im Interesse der Gesellschaft freisetzte. Der Liberalismus war insofern die historisch angemessene Wirtschaftstheorie für die drückenden materiellen und sozialen Probleme im Zeitalter der demographischen Revolution. In einer solchen Zeit war es zweitrangig, dass der Liberalismus die »Glückseligkeit« des Menschen vor allem materialistisch definierte.
 
Auf der anderen Seite schuf der Liberalismus aber auch zahlreiche neue Probleme. Die Freisetzung des Gewinnstrebens des wirtschaftenden Individuums hob zwar mittel- und langfristig den Lebensstandard auch der Arbeiter, vergrößerte aber dennoch die wirtschaftlichen und sozialen Unterschiede zwischen den Gesellschaftsklassen.
 
Nirgendwo sonst auf der Welt war der größte Teil des Reichtums auf eine so kleine Oberschicht verteilt wie in den USA. Im Zeitalter eines extremen Liberalismus war ihre Machtentfaltung durch keinerlei Barrieren gehemmt worden. Die Captains of Industry and Commerce umfassten weniger als 10 % der Bevölkerung, verfügten aber über 90 % des Volksvermögens. Erst der Druck der Sozialisten, der Revolutionen in Europa und der Weltwirtschaftskrise ab 1929 setzten eine gewisse Neuverteilung des Volksvermögens in Gang.
 
Nimmt man die liberale Ablehnung jeder Form von Sondervergünstigung für die wirtschaftlich Schwachen zum Maßstab, so gibt es heute kaum einen Industriestaat, der sich liberal nennen dürfte. Seit den 1870er-Jahren ging die Entwicklung in Richtung auf Schutzzölle, wirtschaftspolitische Privilegierung oder direkte Subventionierung einzelner Produzentengruppen. Die freie Konkurrenz der Einzelproduzenten am Markt wurde durch Unternehmenszusammenschlüsse und Verbandsbildung vielfältig durchbrochen. Gefördert wurde diese Entwicklung zu einer Art Neomerkantilismus durch die Machtinteressen der imperialistischen Staaten, die mit dem Blick auf mögliche Kriege ihren Produktionsapparat vor der ausländischen Konkurrenz schützen wollten. Verbände der Industrie, der Landwirtschaft, der Kleingewerbetreibenden, des Einzelhandels kämpfen seither für das, was nach liberaler Vorstellung die Ursünde schlechthin darstellt: die Privilegierung ihrer eigennützigen Interessen. Entsprechendes gilt für die Verbände der Arbeitnehmer.
 
In Wissenschaft und Politik hat es nach dem Ersten Weltkrieg immer wieder Versuche zur Wiederbelebung des Wirtschaftsliberalismus gegeben, denen jedoch kein dauerhafter Erfolg beschieden war. Zwei Weltkriege, die Erfahrungen schwerster sozialer Erschütterungen zum Beispiel im Gefolge der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts, immer wiederkehrende zyklische Krisen des Industriekapitalismus, die Verschärfung des Nord-Süd-Konfliktes zwischen den Industrie- und den Entwicklungsländern, aber auch ein wachsendes ökologisches Bewusstsein haben das optimistische liberale Vertrauen in die Selbstregulierungsfähigkeit des Marktes nachhaltig erschüttert und allen Vorstellungen einer Harmonie von Einzel- und Gesamtinteresse den Boden entzogen.
 
Prof. Dr. Hans-Werner Niemann
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Ideologien des 19. Jahrhunderts: Liberalismus, Konservativismus, Nationalismus

Universal-Lexikon. 2012.