Stärke; Herrschaft; Macht; Beherrschung; Heftigkeit; Wucht; Ungestüm; Schmackes (umgangssprachlich); Schwung; Karacho (umgangssprachlich); Vehemenz; Kraft
* * *
Ge|walt [gə'valt], die; -, -en:1. Macht und Befugnis, Recht und die Mittel, über jmdn., etwas zu bestimmen, zu herrschen:
die elterliche, staatliche Gewalt; Gewalt über jmdn. haben.
Zus.: Amtsgewalt, Befehlsgewalt, Exekutivgewalt, Polizeigewalt, Regierungsgewalt, Staatsgewalt.
2. <ohne Plural> rücksichtslos angewandte Macht; unrechtmäßiges Vorgehen:
Gewalt leiden müssen; in einer Diktatur geht Gewalt vor Recht.
Zus.: Gegengewalt.
3. <ohne Plural> körperliche Kraft; Anwendung physischer Stärke:
er öffnete die Tür mit Gewalt; der Betrunkene wurde mit Gewalt aus der Gaststätte gebracht.
Zus.: Brachialgewalt, Militärgewalt, Polizeigewalt, Waffengewalt.
4. elementare Kraft:
der Strom, die Flutwelle, der Hurrikan hat eine unvorstellbare Gewalt; die Gewalt des Sturms, der Wellen; den Gewalten der Natur trotzen.
Zus.: Elementargewalt, Naturgewalt, Schicksalsgewalt, Urgewalt.
* * *
Ge|wạlt 〈f. 20〉
1. Zwang, (rohe) Kraft, unrechtmäßiges Vorgehen
2. Macht, Befugnis zu herrschen
3. Machtbereich
4. Heftigkeit, Wucht, Ungestüm
● die \Gewalt der Explosion, des Sturmes, der Wellen, des Zusammenpralls; die \Gewalt der Leidenschaft, des Schicksals ● jmdm. \Gewalt antun ihn gewalttätig behandeln; sich \Gewalt antun sich das Leben nehmen; seinen Gefühlen \Gewalt antun sie mit Mühe beherrschen; \Gewalt anwenden, brauchen, üben; die \Gewalt ausüben, besitzen, erteilen, haben; \Gewalt leiden müssen; ich weiche nur der \Gewalt ● die ausübende, gesetzgebende, öffentliche, richterliche, staatliche, vollziehende \Gewalt; die elterliche, väterliche \Gewalt; geistliche und weltliche \Gewalt; ein Fall von höherer \Gewalt ein unvorhergesehenes Ereignis, auf das man keinen Einfluss hat; rohe \Gewalt anwenden; jmdn. mit sanfter \Gewalt zum Gehen bewegen 〈umg.〉; \Gewalt verherrlichend = gewaltverherrlichend ● jmdn., etwas in seine \Gewalt bekommen, bringen; in, unter jmds. \Gewalt geraten sein, stehen; jmdn. etwas in seiner \Gewalt haben; seine Stimme nicht in der \Gewalt haben; das steht nicht in meiner \Gewalt; mit aller \Gewalt um jeden Preis; mit \Gewalt eindringen, etwas erzwingen; mit \Gewalt wirst du nichts erreichen; das Unwetter brach mit elementarer \Gewalt herein; der Frühling naht mit \Gewalt 〈umg.〉 sehr schnell u. heftig; die Tür ließ sich nur mit \Gewalt öffnen; unumschränkte \Gewalt über etwas haben; er verlor die \Gewalt über seinen Wagen [<ahd. (gi)walt; zu ahd. waltan; → walten]
* * *
1. Macht, Befugnis, das Recht u. die Mittel, über jmdn., etw. zu bestimmen, zu herrschen:
die staatliche, richterliche, elterliche, priesterliche, göttliche G.;
die Teilung der -en in gesetzgebende, richterliche und ausführende G.;
etw. in seine G. bringen;
jmdn. in seiner G. haben;
sie stehen völlig in, unter seiner G. (werden völlig von ihm beherrscht, unterdrückt, sind ganz von ihm abhängig);
Ü die G. über sein Fahrzeug verlieren (beim Fahren plötzlich nicht mehr in der Lage sein, sein Fahrzeug zu lenken);
☆ sich, etw. in der G. haben (sich, etw. beherrschen u. die nötige Zurückhaltung üben: sie hat ihre Zunge oft nicht in der G.).
2. <o. Pl.>
a) unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jmd. zu etw. gezwungen wird:
in ihrem Staat geht G. vor Recht;
ich weiche nur der G.;
etw. mit G. zu erreichen suchen;
G. leiden müssen;
☆ sich <Dativ> G. antun [müssen] (etw. nur lustlos, unter Selbstüberwindung tun);
einer Sache G. antun (etw. den eigenen Ansichten, Wünschen entsprechend auslegen u. dafür passend machen: der Wahrheit, den Tatsachen, der Geschichte G. antun);
mit [aller] G. (unbedingt, unter allen Umständen: sie wollten mit [aller] G. reich werden, von hier fort);
b) [gegen jmdn., etw. rücksichtslos angewendete] physische Kraft, mit der etw. erreicht wird:
G. gegen Frauen;
G. in der Ehe;
bei etw. G. anwenden;
G. in den Händen haben (veraltend; kräftig zupacken können);
G. verherrlichen;
jmdn. mit G. am Eintreten hindern;
man musste ihn mit [sanfter] G. hinausbefördern;
die Tür ließ sich nur mit G. (gewaltsam) öffnen;
☆ jmdm. G. antun (geh. verhüll.; jmdn. vergewaltigen).
3. (geh.) elementare Kraft von zwingender Wirkung:
die G. des Sturms, der Wellen;
den -en des Unwetters trotzen;
Ü die G. der Leidenschaft, ihrer Rede;
☆ höhere G. (etw. Unvorhergesehenes, auf das der Mensch keinen Einfluss hat: Naturkatastrophen sind höhere G.)
* * *
Gewalt
[althochdeutsch (gi)walt, zu waltan »stark sein«, »herrschen«], die Anwendung von physischem und psychischem Zwang gegenüber Menschen. Gewalt umfasst 1) die rohe, gegen Sitte und Recht verstoßende Einwirkung auf Personen (lateinisch violentia), 2) das Durchsetzungsvermögen in Macht- und Herrschaftsbeziehungen (lateinisch potestas). Während z. B. das Englische (violence/power) und das Französische (violence/pouvoir) der sprachlichen Unterscheidung des Lateinischen folgen, vereinigt das Deutsche beide Aspekte. Die Schwierigkeiten im deutschen Sprachgebrauch liegen besonders in der vielfältigen Möglichkeit von Wortzusammensetzungen mit dem Begriff Gewalt; dadurch werden grundlegende Unterschiede zwischen staatlichem Machtbefugnis und Amtsausübung einerseits und über sie hinausgehender Gewaltherrschaft und individueller Gewalttätigkeit andererseits verwischt. Im soziopolitischen Sprachgebrauch wird (neuerdings) unterschieden zwischen »retardierender Gewalt« (Ordnungsgewalt) und »progressiver Gewalt« (Änderungsgewalt). V. a. im Rahmen der Friedens- und Konfliktforschung begegnet seit den 1960er-Jahren die Gegenüberstellung von »struktureller Gewalt« (indirekter Gewalt) und »personaler Gewalt« (direkter Gewalt). Die Psychologie bestimmt Gewalt als Ausdruck von Aggression, entweder im Sinne eines ererbten (K. Lorenz, I. Eibl-Eibesfeldt u. a.) oder durch Frustrationen (J. Dollard) verursachten menschlichen Triebs oder als sozial vermitteltes und gelerntes Verhalten (Aggressivität). - Neben den genannten Aspekten wird das Wort Gewalt auch im Sinne von Kraft (»Naturgewalt«) und als Metapher (»Schlüsselgewalt«, »Redegewalt«) gebraucht.
Bei der begrifflichen Eingrenzung des Phänomens »Gewalt« kann - in absteigender Linie vom weitesten zum engsten Begriff - unterschieden werden zwischen Herrschaft, Macht, Zwang und Gewalt. Mit M. Weber kann definiert werden: Herrschaft als »Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, Macht als »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht«. Der Zwang ordnet sich der Macht begrifflich unter; denn nur, wer über Macht verfügt, kann Zwang ausüben; dieser bedarf seinerseits der Gewalt, um zu effektiver Durchsetzung zu gelangen.
Verletzende Gewalt
Im Tatbestandsgefüge des Strafrechts, das den verschiedenen Erscheinungsformen der Gewalt im innergesellschaftlichen Bereich antwortet, bedeutet Gewalt »jedes Mittel, mit dem auf den Willen oder das Verhalten eines anderen durch ein gegenwärtiges empfindliches Übel eine Zwangseinwirkung ausgeübt wird, um einen tatsächlichen oder erwarteten Widerstand zu brechen«. Der Erfolg von Gewalt, sofern sie nicht unmittelbar physisch ausgeübt wird, hängt von der Erzeugung von Angst ab. Gewalt in diesem Sinne zerstört die Bedingungen friedlichen menschlichen Zusammenlebens.
Im Hinblick auf die allgemeinen Rahmenbedingungen kann sich Gewalttätigkeit entwickeln zwischen Staaten (Krieg) oder innerhalb eines Staates, also innerhalb der ihn tragenden Gesellschaft; hierbei kann die verletzende Gewalt ausgehen von repressiven Maßnahmen der Staatsgewalt (Folter, Terror) oder von Einzelgruppen der Gesellschaft (Guerilla, Terrorismus).
Einen hohen Anteil an der Gewalttätigkeit in der Gesellschaft hat die Gewaltkriminalität (sie beinhaltet auch die Aufforderung zu Gewalttätigkeit sowie die Verherrlichung von Gewalt). In der rechtlichen Würdigung von Gewalttätigkeit wird dabei im Strafrecht unterschieden zwischen der »absoluten Gewalt« (lateinisch vis absoluta) als einer Form der Gewaltanwendung, die das Opfer unter völliger Ausschaltung seines Willens überwältigt (so bei Raub), und der »zwingenden Gewalt« (lateinisch vis compulsiva), die dem Opfer in der vom Täter bewirkten Zwangslage einen gewissen Handlungsspielraum lässt (so - nach der herrschenden Meinung - bei der räuberischen Erpressung). Von besonderer, auch rechtspolitischer Bedeutung sind die Anwendung von Gewalt und die Frage ihrer Verwerflichkeit im Zusammenhang mit »Sitzblockaden« mit demonstrativem Charakter (Bundesverfassungsgericht: »Sitzdemonstrationen«), um Kraftfahrer zum Halten zu zwingen. Die Klassifizierung dieses Verhaltens als Gewalt im Rahmen der Strafbarkeit der Nötigung war stets lebhaft umstritten, entsprach aber herrschender Meinung in Rechtsprechung und Lehre. Mit Beschluss vom 10. 1. 1995 hat das Bundesverfassungsgericht jedoch die Verurteilung von Sitzblockaden als Nötigung durch Gewalt im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz nach Art. 103 Absatz 2 GG für verfassungswidrig erklärt. Es begründete seine Auffassung damit, dass Zwangseinwirkungen, die nicht auf dem Einsatz körperlicher Kraft, sondern auf geistig-seelischen Einfluss beruhen, unter Umständen die Tatbestandsalternative der Drohung, nicht jedoch die der Gewaltanwendung erfüllen könnten. Durch die Annahme von Gewalt bei bloßer körperlicher Anwesenheit an einer Stelle, die ein anderer einnehmen oder passieren möchte, werde der Gewaltbegriff in einer Weise entgrenzt, dass er die ihm vom Gesetzgeber zugedachte Funktion zur Bestimmung strafwürdigen Verhaltens weitgehend verliere. Auf diese Weise ließe sich nicht mehr mit ausreichender Sicherheit vorhersehen, welches körperliche Verhalten, das andere psychisch an der Durchsetzung ihres Willens hindert, verboten sein soll und welches nicht. Mit seinem Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht erhebliches Aufsehen und ebenso viel Kritik ausgelöst, sodass keineswegs von einer endgültigen Klärung des Gewaltbegriffs im Zusammenhang mit Sitzblockaden gesprochen werden kann. Insbesondere wurde in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Entscheidung erheblicher Strafbarkeitslücken eröffne und dass der Gewaltbegriff ganz allgemein nicht auf Einwirkungen beschränkt sei, die die Willensbetätigung unmöglich machen (vis absoluta), sondern dieser auch körperliche Einwirkungen umfasse, die einen psychischen Prozess in Lauf setzen (vis compulsiva). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 20. 7. 1995, in der dieser die Frage offen ließ, ob Nötigung mit Gewalt gegenüber den Kraftfahrern vorliegt, die als Erste die Sitzblockierer erreichen; jedenfalls sei nämlich Gewalt gegenüber denjenigen anzunehmen, die als Nachfolgende wegen des Anhaltens der Ersteren auf ein physisches Hindernis stießen, also körperlichem Zwang ausgesetzt seien. Der Gewaltbegriff im Rahmen von Sitzblockaden bleibt damit umstritten und offen.
Eine empirisch belegbare Ursache für die mit Kriminalität verbundene Gewalt kann nicht allgemein gültig festgestellt werden. Ein sozialtheoretischer Erklärungsansatz geht davon aus, dass v. a. dort, wo körperliche Gewalt als zulässiges Mittel zur Durchsetzung von Normen und zum Erreichen von Zielen gilt, die Hemmschwelle zur Gewaltkriminalität herabgesetzt ist. In der Diskussion um die Gewalttätigkeit wird u. a. darauf hingewiesen, dass der Entschluss, mit Gewalt zu handeln, nicht nur auf individuellen Überlegungen basiert, sondern auch aus gesellschaftlich bedingten Rollenerwartungen resultiert. Dementsprechend vielfältig sind Impulse und personenbezogene Gründe. Ein wesentlicher Gesichtspunkt kann in der Unfähigkeit des Einzelnen gesehen werden, sein Wollen - besonders in Konfliktsituationen - verbal zu äußern und beharrlich zu vertreten. Ferner wird die Anwendung von Gewalt gedeutet als Ausdruck der Negierung der Werte, die in einer Gesellschaft jeweils allgemein anerkannt und geschützt sind.
Die Bereitschaft zur Gewaltanwendung gegen ethnische, nationale, religiöse oder auf die Wahrung ihrer kulturellen Eigenständigkeit bedachte Minderheiten gab es in der Geschichte immer schon; so entlud sich z. B. der seit dem Mittelalter zu beobachtende Antisemitismus immer wieder in Pogromen und gipfelte im 20. Jahrhundert in der systematisch geplanten und mit bürokratischer Akribie betriebenen physischen Vernichtung der europäischen Juden im Machtbereich des nationalsozialistischen Deutschlands. Analog zum Willen eines Staates, Gewalt gegen ihm missliebige Minderheiten auszuüben, steht die Bereitschaft von Einzelnen und Gruppen zur Gewaltanwendung gegenüber Randgruppen und Subkulturen (z. B. Ausländer, Nichtsesshafte).
Aufgrund einer stark gewachsenen Sensibilität des öffentlichen Bewusstseins gegenüber dem Phänomen der Gewalt stellt sich heute die Frage nach der Existenz von Gewalt in der Gesellschaft neu, z. B. im Bereich der Erziehung. Vor dem Hintergrund der oft kontrovers geführten Gewaltdiskussion spricht das BGB seit 1979 im Erziehungsrecht nicht mehr von »elterlicher Gewalt«, sondern von »elterlicher Sorge«. Die Praxis der körperlichen Züchtigung (Prügelstrafe) z. B. in der Schule ist mittlerweile weitgehend unter Strafe gestellt. Auch wenn in der Diskussion über Erziehung körperlicher Gewaltanwendung als Erziehungsmittel weitgehend abgelehnt wird, ist dennoch ein hohes Ausmaß von Kindesmisshandlung zu beobachten (mit einer hohen Dunkelziffer). Vergleichbare Aspekte lassen sich auch am Verhältnis der Geschlechter zueinander beobachten. Auch wenn seit 1850 das Züchtigungsrecht des Ehemannes nicht mehr gesetzlich verankert ist, zeigte u. a. die erst jüngst (1995/96) geführte Debatte um die strafrechtliche Normierung der Vergewaltigung in der Ehe, dass Gewalt gegen Frauen ein Schichten übergreifendes Problem geblieben ist. Besonders die »Neue Frauenbewegung« hat darauf verwiesen, dass Gewalt gegen Frauen nicht nur im sexuellen, sondern auch im ökonomischen, juristischen, sozialen und kulturellen Bereich ausgeübt wird. - Mit Familien-, Eheberatungs- und anderen (sozial-)psychologischen Beratungsstellen sowie mit der Einrichtung von Frauenhäusern sollen die Betroffenen primär vor weiterer direkter Gewalteinwirkung geschützt werden.
In der öffentlichen Diskussion um die Rolle der Gewalt in der Gesellschaft spielt auch die Frage nach der Darstellung von Gewalttätigkeit in den Medien eine große Rolle, da viele glauben, dass damit der Gewalttätigkeit oft Vorschub geleistet wird. Zu betonen ist jedenfalls, dass die positive Resonanz auf Gewaltdarstellungen in den Medien oft auf der offenen oder verborgenen Aggressivität des Menschen beruht, die umso größer ist, je mehr sein Leben von sozialen Missständen und verdrängten Konflikten bestimmt wird. Die Bereitschaft, Gewaltdarstellungen in die Wirklichkeit umzusetzen, hängt dann davon ab, inwieweit der einzelne Jugendliche oder Erwachsene innerhalb der Familie gelernt hat, in psychischen Drucksituationen Gewalt als eine Lösungsmöglichkeit in Erwägung zu ziehen oder nicht. Trotz der durch die Erziehung im Menschen errichteten Hemmschwelle gegen Gewalt sehen Forscher die Gefahr als gegeben, dass Gewaltdarstellungen in den Medien die Toleranzbereitschaft gegenüber Gewalttätigkeit erhöhen, v. a. dann, wenn eine Identifikation mit dem Gewalttäter möglich ist.
Gewalttätigkeit ist zwar keine spezifische Erscheinung der heutigen Zeit, angesichts schwindender Anerkennung von Grundwerten im menschlichen Umgang miteinander zeigt sich jedoch heute sowohl bei Jugendlichen als auch bei Erwachsenen eine deutlich verminderte Hemmschwelle gegenüber der Anwendung von Gewalt, sei es bei politisch motivierten Demonstrationen, sei es bei sportlichen oder kulturellen Massenveranstaltungen, von denen schon etliche in blinder Zerstörungswut (Vandalismus) endeten.
Die ordnende Gewalt
Der verletzenden Gewalt (violentia) tritt die ordnende Gewalt in Gestalt der Herrschaftsgewalt (potestas) entgegen, v. a. als Staatsgewalt. Schon früh - sowohl im Alten Orient als auch in der Antike - unterwarfen sich die in der Gemeinschaft eines Stammes oder Staates zusammengefassten Menschen einer ordnenden, den inneren und äußeren Frieden sichernden Gewalt: Um Gewalt zwischen den Gliedern der Gemeinschaft zu unterbinden, wurde sie als legitimes Herrschaftsinstrument beim Herrscher oder bei bestimmten Staatsorganen monopolisiert (staatliches Gewaltmonopol). Mit dem Versuch, das Recht des Stärkeren abzubauen (Einschränkung des Fehdewesens), ging in einem fortschreitenden Prozess das Bestreben einher, durch Stammes- und Staatsordnungen, durch Rechts- und Gerichtswesen diese Gewalt zu kanalisieren (Landfrieden). Seit früher Zeit gilt daher die Ausübung der ordnenden Gewalt durch den Staat als eines seiner unverzichtbaren Merkmale und Bestandteil seiner Legitimität. Unter der Einwirkung revolutionärer Freiheitsforderungen und unter dem Eindruck vielfältigen Machtmissbrauchs wurde sie in ihrer Wirkung nach außen und innen in einem seinerseits oft durch Gewalt geprägten Prozess zunehmend an Rechtsnormen gebunden. So ist in demokratischen Staaten die Staatsgewalt an den Willen des Volkes gebunden.
Das Recht zur Anwendung kriegerischer Gewalt in internationalen Auseinandersetzungen ist heute völkerrechtlich eng begrenzt (Kriegsrecht). Die nach innen gerichtete Staatsgewalt unterliegt im Rechtsstaat rechtlichen Bindungen, um ihren Missbrauch gegenüber den ihr Unterworfenen zu verhindern. Der Einschränkung einer staatlichen Gewalt dienen besonders das Prinzip der Gewaltenteilung, die Grundrechte und ein umfassender gerichtlicher Rechtsschutz. Gegenüber einer ungerechten Staats- oder Amtsgewalt, die ihre Legitimation - besonders durch Verletzung der elementaren Verfassungsrechte - verspielt hat, entwickelte sich ein Widerstandsrecht, entsprechend der Notwehr gegenüber illegitimer Gewaltausübung Einzelner.
Allerdings haben weder im zwischenstaatlichen Bereich die zunehmende völkerrechtliche Normierung und die grundsätzliche Ächtung des Krieges als Mittel der Politik noch im innerstaatlichen Bereich die gesetzlichen und verfassungsmäßigen Sicherungen gegen staatlichen Machtmissbrauch verhindern können, dass im 20. Jahrhundert einerseits Kriege, Bürgerkriege und Revolutionen, andererseits staatlicher Terror, Folter, Pogrome, Völkermord und andere Gewaltmaßnahmen weit mehr Opfer gefordert haben als je zuvor in der Geschichte. Dennoch ist der - mit vielen Rückschlägen verbundene - menschheitsgeschichtliche Prozess einer Überwindung der Gewalt durch Recht (Gesetz und Verträge) fortgesetzt worden.
Vor dem Hintergrund der Diskussion um die Frage der Souveränität des Staates sieht M. Weber im Kriterium der »physischen Gewaltsamkeit« zwar nicht das einzige Machtmittel des Staates, aber das ihm spezifische. Er versteht das Gewaltmonopol des Staates als Folge zunehmend unterschiedlicher Ansprüche der Bürger an die Gemeinschaft; dabei könne der Staat Gehorsam beanspruchen. Erfüllen die staatlichen Institutionen ihre Aufgabe nicht im Rahmen vorgeschriebener oder durch Gewohnheit festgelegter Regeln, kann es zu einem Legitimitätsverlust des Staates kommen, der seinerseits zu einer internen Krise führen kann. Die Handhabung des staatlichen Gewaltmonopols hat Glaubwürdigkeit und Billigung bei den Bürgern immer aufs Neue zu erwerben. Die rechtsstaatliche Anwendung des Gewaltmonopols, das dem Verzicht des Bürgers auf Selbstbewaffnung gleichkommt, dient - gemeinsam mit der Gewaltenteilung - der Eingrenzung der Gewalt und der Sicherung der Freiheitsrechte des Einzelnen.
Die politische Gewalt aus philosophischer und ideologischer Sicht
Um als legitime Herrschaft zu gelten, bedarf die staatliche Gewalt eines sittlichen Fundaments, das die christliche Staatsethik in der Ableitung aller Obrigkeit von Gott (Römerbrief 13, 1; im 20. Jahrhundert zunehmend kritisch diskutiert) und die Aufklärung in der Bindung an die Vernunft sehen. Nach H. Grotius ist Gewalt legitim, solange sie nicht das Recht eines anderen verletzt. Er folgt damit der Argumentation des römischen Staatsmannes Cicero: »Quid enim est, quod contra vim sine vi fieri possit?« (Denn was könnte gegen Gewalt ohne Gewalt getan werden?). Für Grotius gibt es drei Formen der Gewalt: die naturrechtlich gesicherte Gewalt als Eigenschaft des freien Menschen; die unrechtmäßige Gewalt, die auf die Rechtssphäre eines anderen Menschen übergreift, und die legitimierte Gewalt, die die Gewalt eines anderen abwehrt, die jedoch durch die Einführung der Gerichtsbarkeit eingeschränkt ist. Nach T. Hobbes beruht die Einrichtung legitimierter Gewalt im Staatswesen auf der Furcht des Bürgers vor Gewalt und seinem Verzicht darauf, selbst Gewalt auszuüben. I. Kant sieht in Freiheit und Gesetz die »zwei Angeln« der bürgerlichen Gesetzgebung; dem Gesetz aber müsse Gewalt verbunden sein, damit es nicht »leere Anpreisung« sei. In Deutschland wurde die Gewaltdiskussion im obrigkeitsstaatlichen Sinne vorangetrieben: als »Freiheit« der Obrigkeit, »zu befehlen« (C. Wolff). Seit der Französischen Revolution von 1789 verbindet sich der Gedanke der Gewalt in der politischen Realität mit dem Souveränitätsgedanken; dabei ist aber nicht mehr der Einzelne, sondern das »Volk« (mit seiner Volonté générale) die Quelle legitimer Gewalt. Die Legitimität der Gewalt als Staatsgewalt, Resultat einer Übertragung der souveränen Gewalt des Volkes auf die Regierenden, beruht auf der Funktion, Bürger zu schützen. In Anlehnung an die liberalen, v. a. in der Gewaltenteilung zum Ausdruck kommenden Gewaltauffassungen sieht der freiheitlich-demokratische Staatsgedanke die Legitimation der Staatsgewalt in der Verwirklichung des Gemeinwohls.
K. Marx und die ihm folgenden Lehren des Marxismus betrachten die Gewalt als geschichtlich notwendiges Mittel für den Übergang von einer Klassenherrschaft zur anderen. Gewalt sei - so Marx - die Geburtshelferin jeder Gesellschaftsform, die mit einer neuen schwanger geht, z. B. beim Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, vom Kapitalismus zum Sozialismus. In den 1960er-Jahren wurden Thesen von der Legitimität revolutionärer Gewalt im »Spätkapitalismus und Imperialismus« entwickelt; danach sind Akte politischer Gewalt notwendig, um das Verhalten der Staatsgewalt und der sie tragenden Kräfte als »repressive Toleranz« zu »entlarven« (H. Marcuse). Auf mystifizierender Grundlage (Gewalt als »schöpferische Kraft«, G. Sorel) oder sozialdarwinistischer Basis (Gewalt als Förderin einer »Auslese der Besten«) haben sich nationalistische und rassistische Gewaltvorstellungen gebildet (Nationalismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Rassentheorien). Die Mystik der Gewalt und Revolution (so bei F. Babeuf, F. Buonarroti, A. Blanqui, M. A. Bakunin, S. G. Netschajew) erlebte eine Neubelebung in bestimmten Strategien der Entkolonialisierung (z. B. bei F. Fanon).
Gegenstand der Friedens- und Konfliktforschung ist neben der Gewalt zwischen Einzelnen und Gruppen (»personale Gewalt«) v. a. die »strukturelle Gewalt«, definiert als immanent vorgegebene Gewalt, in all den gesellschaftlichen Systemen, die die volle Entfaltung der individuellen Anlagen durch eine ungleiche Verteilung von Eigentum und Macht verhindern (J. Galtung). Diesem erweiterten Gewaltbegriff, der nun mit dem »Tatbestand« der »sozialen Ungerechtigkeit« gleichgesetzt wird, entspricht der Begriff Frieden in der Bedeutung von »sozialer Gerechtigkeit«. Unter dem Aspekt struktureller Gewalt wird verstärkt das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen sowie die Verteilung der Entscheidungsgewalt über diese Ressourcen und die Belastung der Umwelt mit Schadstoffen diskutiert. Die Notwendigkeit einer rechtlich eingegrenzten und geordneten Gewalt kann nur im Rahmen einer Utopie konflikt- und herrschaftsfreier Gesellschaften bestritten werden. Ihre Legitimation kann eine Gewalttheorie allein durch eine gerechte Zweck-Mittel-Relation finden, die die Gefahr eines »selektiven Humanismus« ausschließt.
In Auseinandersetzung mit Apologien der Gewalt geht Hannah Arendt vom Unterschied zwischen Macht und Gewalt aus; für sie ist die auf der Zustimmung der Mehrheit beruhende, ständig zur Legitimation gezwungene Macht, nicht die Gewalt die notwendige Bedingung aller sozialen Ordnung.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Angst · Autorität · Ethik · Folter · Freiheit · Frieden · Friedensforschung · Gerechtigkeit · Guerilla · Herrschaft · Krieg · Kriminalität · Macht · Recht · Revolution · Staat · Terrorismus · Totalitarismus · Zwang
F. Fanon: Die Verdammten dieser Erde (a. d. Frz., 1966);
D. Senghaas: Aggressivität u. kollektive G. (21972);
D. Senghaas: G.-Konflikt-Frieden. Essays zur Friedensforschung (1974);
A. Höfelmeyer u. G. Küster: Aggression u. G. Eine Einf. in Theorien der Natur- u. Gesellschaftswiss. (1976);
Friedensforschung - Entscheidungshilfe gegen G., hg. v. M. Funke (21978);
G. Sorel: Über die G. (a. d. Frz., Neuausg. 1981);
R. Sülzer: G. im Fernsehen, in: Fernsehen u. Hörfunk für die Demokratie, hg. v. J. Aufermann u. a. (21981);
E. Zimmermann: Krisen, Staatsstreiche u. Revolutionen (1981);
K.-G. Faber u. a.: Macht, G., in: Geschichtl. Grundbegriffe, hg. v. O. Brunner, Bd. 3 (1982; Nachdr. 1995);
Sozialprotest, G., Terror. G.-Anwendung durch polit. u. gesellschaftl. Randgruppen im 19. u. 20. Jh., hg. v. W. J. Mommsen u. a. (1982);
H. Werbik: Zur terminolog. Bestimmung von Aggression u. G., in: Aggression, hg. v. R. Hilke u. a. (Bern 1982);
Faszination der G. Polit. Strategie u. Alltagserfahrung, bearb. v. R. Steinweg (1983);
J. Galtung: Strukturelle G. Beitrr. zur Friedens- u. Konfliktforschung (a. d. Engl., 31.-33. Tsd. 1984);
F. Hacker: Aggression. Die Brutalisierung unserer Welt (Neuausg. 1985);
Macht u. G. in der Politik u. Lit. des 20. Jh., hg. v. N. von Leser (1985);
H. Pelz-Schreyögg: G. in Familien. Übers. über die dt.-sprachige u. englischsprachige sozialwiss. Lit. 1975-1983/84 (1985);
W. Brinkmann u. M.-S. Honig: G. gegen Kinder, Kinderschutz. Eine sozialwiss. Auswahlbibliogr. (1986);
G. gegen Kinder. Kindesmißhandlungen u. ihre Ursachen, hg. v. H. Bast u. a. (1986);
E. Weede: Konfliktforschung (1986);
A. Roth: Kollektive G. u. Strafrecht (1989);
M. Weber: Wirtschaft u. Gesellschaft (51990);
I. Eibl-Eibesfeldt: Liebe u. Haß (161993);
H. J. Schneider: Kriminologie der G. (1994);
H. Arendt: Macht u. G. (a. d. Engl., 101995);
H. Jonas: Das Prinzip Verantwortung (Neuausg. 121995).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
menschliches Verhalten: Zwischen Kooperation und Konkurrenz
* * *
Ge|wạlt, die; -, -en [mhd. gewalt, ahd. (gi)walt, zu ↑walten]: 1. Macht, Befugnis, das Recht u. die Mittel, über jmdn., etw. zu bestimmen, zu herrschen: die staatliche, richterliche, elterliche, priesterliche, göttliche G.; die Teilung der -en in gesetzgebende, richterliche und ausführende G.; etw. in seine G. bringen; jmdn. in seiner G. haben; sie stehen völlig in, unter seiner G. (werden völlig von ihm beherrscht, unterdrückt, sind ganz von ihm abhängig); Ü die G. über sein Fahrzeug verlieren (im Fahren durch überhöhte Geschwindigkeit o. Ä. plötzlich nicht mehr in der Lage sein, sein Fahrzeug zu lenken); *sich, etw. in der G. haben (sich, etw. beherrschen u. die nötige Zurückhaltung üben): sie hat ihre Zunge oft nicht in der G.; Er hatte sich wieder in der G. (Ott, Haie 94). 2. <o. Pl.> a) unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jmd. zu etw. gezwungen wird: in ihrem Staat geht G. vor Recht; G. von unten wird von vornherein als illegitim abqualifiziert, während nach der Legitimation der G. von oben nicht gefragt wird (Degener, Heimsuchung 165); G. leiden müssen; ich weiche nur der G.; etw. mit G. zu erreichen suchen; sich <Dativ> G. antun [müssen] (etw. nur lustlos, unter Selbstüberwindung tun); einer Sache G. antun (etw. den eigenen Ansichten, Wünschen entsprechend auslegen u. dafür passend machen): der Wahrheit, den Tatsachen, der Geschichte G. antun; mit [aller] G. (unbedingt, unter allen Umständen): er wollte mit [aller] G. reich werden, von hier fort; b) [gegen jmdn., etw. rücksichtslos angewendete] physische Kraft, mit der etw. erreicht wird: bei etw. G. anwenden; G. in den Händen haben (veraltend; kräftig zupacken können); G. verherrlichen; G. verherrlichende Texte; jmdn. mit G. am Eintreten hindern; man musste ihn mit [sanfter] G. hinausbefördern; die Tür ließ sich nur mit G. (gewaltsam) öffnen; die immer lauter werdenden Forderungen nach strafrechtlicher Verfolgung von G. in der Ehe; die Neigung zur G. gegen Kinder (MM 29. 11. 88, 17); G. gegen Frauen ist nicht nur im sexuellen, sondern auch im sozialen und kulturellen Bereich zu finden; *jmdm. G. antun (geh. verhüll.; jmdn. vergewaltigen): ... ist gegen zwei Ärzte verhandelt worden, denen vorgeworfen wurde, einer Kollegin G. angetan zu haben (Spiegel 13, 1986, 56). 3. (geh.) elementare Kraft von zwingender Wirkung: die G. des Sturms, der Wellen; den -en des Unwetters trotzen; doch der Regen schien seine G. zu vermehren (Langgässer, Siegel 580); Ü die G. der Leidenschaft, seiner Rede; *höhere G. (etw. Unvorhergesehenes, auf das der Mensch keinen Einfluss hat): Naturkatastrophen sind höhere G., für die keine Haftung übernommen wird.
Universal-Lexikon. 2012.