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Entkolonialisierung
ent|ko|lo|ni|a|li|sie|ren <sw. V.; hat:
dekolonisieren.
Dazu:
Ent|ko|lo|ni|a|li|sie|rung, die; -, -en.

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Entkolonialisierung,
 
Entkolonisierung, Dekolonisation, die Aufhebung von Kolonialherrschaft, d. h. die Gewährung des Selbstbestimmungsrechts an »Völker, die noch nicht die volle Selbstregierung erreicht haben« (Art. 73 der UNO-Charta). Obwohl die Anfänge der Entkolonialisierung bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen, wird der Begriff v. a. für die Auflösung der europäischen Kolonialreiche und die Entwicklung der ehemaligen zu ihnen gehörenden Kolonien zu völkerrechtlich unabhängigen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg verwendet. Die Vereinten Nationen, die seit ihrer Gründung die Entkolonialisierung förderten, verabschiedeten am 14. 12. 1960 eine »Erklärung über die Gewährung der Unabhängigkeit an koloniale Länder und Völker« (Resolution 1 514 [XV] der 15. Generalversammlung), in der gefordert wird, »den Kolonialismus in allen Erscheinungsformen schnell und bedingungslos zu beenden«. 1961 bildete sich im Rahmen der UNO ein Entkolonisierungsausschuss. In den UNO-Menschenrechtspakten (1966 verabschiedet, 1976 in Kraft getreten) wurde das Selbstbestimmungsrecht der Völker kodifiziert.
 
Die Entkolonialisierung vollzog sich in der Regel entweder durch gewaltsame Aktionen nationaler Befreiungsbewegungen (z. B. Unabhängigkeitskriege gegen Frankreich in Vietnam 1946-54 und Algerien 1954-62, gegen Portugal in Angola, Moçambique und Guinea 1961-74, gegen eine weiße Minderheitsherrschaft in Rhodesien [heute Simbabwe] 1966-79 und gegen die Republik Südafrika in Namibia 1966-88/90) oder durch freiwillige Entlassung der Kolonie (aufgrund von Verhandlungen mit der Kolonialmacht) in die Unabhängigkeit (z. B. Indien und Pakistan 1947); Mischformen (Verbindung militärischer Kämpfe mit Verhandlungen) finden sich u. a. in der Geschichte Indonesiens, Birmas, Kameruns, Kenias und Marokkos. In einzelnen Fällen erfolgte die Entkolonialisierung durch Integration in den Staatsverband der ehemaligen Kolonialmacht (z. B. Hawaii als Bundesstaat der USA).
 
Eine erste Phase der Entkolonialisierung schloss ab mit der Unabhängigkeit europäischer Siedlungskolonien in Nordamerika (USA 1776 ff.), der Befreiung der meisten Länder Lateinamerikas aus spanischer beziehungsweise portugiesischer Kolonialherrschaft (1810 ff.) und dem Verselbstständigungsprozess der aus Europa stammenden Siedler in Kanada, Australien, Neuseeland (ab zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts). - Entscheidend für die Entkolonialisierung nach 1945 waren v. a. die Schwächung und der Prestigeverlust vieler Kolonialmächte während des Zweiten Weltkrieges (Belgien, Frankreich und die Niederlande als besetzte Länder, Italien und Japan als Kriegsverlierer, Großbritannien als eine von starkem Kräfteverlust betroffene Siegermacht), der verstärkte Emanzipationswille der Bevölkerung der Kolonien, die zunehmende Ablehnung der Kolonialherrschaft durch die öffentliche Meinung und der wachsende Druck der USA und der UdSSR auf die Kolonialmächte. - Obwohl die meisten ehemaligen Kolonien inzwischen die Unabhängigkeit erlangt haben, ist für diese der Vorgang der Entkolonialisierung oft noch nicht abgeschlossen, da die von den Kolonialregimes geschaffenen innenpolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen in der Regel nur langfristig aufgelöst werden können und weiterhin Abhängigkeiten zum früheren Mutterland bestehen. Zum Teil riefen die kolonialen Hinterlassenschaften, insbesondere die häufig von den Kolonialmächten ohne Berücksichtigung ethnischer Siedlungsräume gezogenen territorialen Grenzen, verschiedene ethnische Konflikte hervor (in Afrika u. a. Tribalismus). Viele der aus Kolonien hervorgegangenen Länder, die politisch zumeist der Dritten Welt zugerechnet werden, bedürfen der Entwicklungshilfe und fordern eine Änderung der Weltwirtschaftsordnung sowie ein größeres Mitspracherecht in internationalen Organisationen (Entwicklungsländer, blockfreie Staaten).
 
Literatur:
 
R. v. Albertini: Dekolonisation (1966);
 F. Ansprenger: Auflösung der Kolonialreiche (41981);
 O. Krönert: Die Stellung nat. Befreiungsbewegungen im Völkerrecht (1984);
 G. Braun: Nord-Süd-Konflikt u. Entwicklungspolitik (1985);
 S. N. MacFarlane: Superpower rivalry and third world radicalism (London 1985);
 
Kolonisation u. Dekolonisation, hg. v. H. Christmann (1989);
 J. Osterhammel: Kolonialismus. Geschichte - Formen - Folgen (1995).

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Ent|ko|lo|ni|a|li|sie|rung, die; -, -en: Dekolonisation: wir seien für E. und Partnerschaft (W. Brandt, Begegnungen 216).

Universal-Lexikon. 2012.