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Vergangenheitsbewältigung
Ver|gạn|gen|heits|be|wäl|ti|gung 〈f. 20; Pl. selten〉
1. 〈i. w. S.〉 geistige Auseinandersetzung eines Einzelnen od. einer Personengruppe mit der eigenen Vergangenheit
2. 〈i. e. S.〉 Auseinandersetzung mit den Verhältnissen eines vergangenen Zeitabschnitts, bes. mit der Judenverfolgung in Deutschland während des Nationalsozialismus

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Ver|gạn|gen|heits|be|wäl|ti|gung, die:
Auseinandersetzung (1) einer Nation mit einem problematischen Abschnitt ihrer jüngeren Geschichte, in Deutschland bes. mit dem Nationalsozialismus.

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Vergangenheitsbewältigung,
 
Begriff der politisch-sozialen Sprache, der zunächst - aus der Perspektive der »alten« Bundesrepublik Deutschland - die Bedeutung thematisiert, die die Verbrechen der nationalsozialistischen Herrschaft für das Selbstverständnis und die politische Kultur der deutschen Gesellschaft nach 1945 im Ganzen, aber auch im Hinblick auf individuelle Schuld und Lebensführung haben. Für die Bevölkerung, die Gesellschaft und ihre Institutionen, insbesondere Politik, Bildungssystem und Justiz, wird damit die Frage nach der Schuld und Verantwortung im Hinblick auf die Vernichtung der europäischen Juden und im Hinblick auf weiteren Völkermord, Kriegsverbrechen und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Rassenhass, Denunziantentum und Verrat, Vertreibung, Terror und Ausbeutung gestellt und als Aufgabe zur politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Bearbeitung angesprochen. In diesem Verständnis ist der Begriff Vergangenheitsbewältigung eng an die Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und an die sie bestimmenden Debatten und Entwicklungsphasen geknüpft, in denen sich, zumal seit den 1960er-Jahren, die Bezugnahme auf die Unrechtshandlungen einer Gewaltherrschaft als Basis einer gemeinsamen Verantwortung formiert hat, die sich bezüglich der genannten Ereignisse und Verhaltensmuster in einem »Nie wieder!« fassen lässt.
 
Der Begriff Vergangenheitsbewältigung war dabei keineswegs unumstritten und hatte von Anfang an auch eine Tönung, die das »Schicksalhafte«, individuelle Verantwortbarkeit Übersteigende und damit die »Täter« auch gegebenenfalls leichtfertig Entschuldbare anzusprechen vermochte. Entsprechend konnten auch Vorstellungen vom »Ziehen eines Schlussstrichs« unter die Debatte um die NS-Verbrechen ebenso als Vergangenheitsbewältigung angeboten werden wie die Beschäftigung mit den Gewalt- und Unrechtserfahrungen, denen die »deutsche« Bevölkerung (und damit auch nationalsozialistischer Parteigänger) ausgesetzt waren (Bombardierung der großen Städte, Kriegsgefangenschaft, Entnazifizierung, Lagerhaft, staatliche Teilung, Flucht und Vertreibung, Schwierigkeiten bei der Integration von Flüchtlingen in den Westzonen).
 
Erneute Aktualität hat der Begriff in den 1990er-Jahren dadurch gewonnen, dass mit dem Ende der DDR auch die Notwendigkeit und die Chance verbunden waren, das in diesem Rahmen begangene Unrecht (v. a. unrechtmäßige Inhaftierung, Berufsverbote, Bespitzelung, Denunziantentum, aber auch die Erschießung von Fluchtwilligen, Entführung, Enteignung, Erpressung sowie Einschüchterung und Terror gegenüber anders Denkenden) aufzuklären, möglicherweise zu sühnen oder wieder gutzumachen; in diesem Zusammenhang wurden von unterschiedlichsten Seiten aus Parallelen zum Umgang mit der nationalsozialistischen Schuld in Westdeutschland nach 1945 gezogen. Aber auch in anderen aktuellen Zusammenhängen, so anlässlich einiger viel beachteter Gedenktage, Debatten und Ereignisse, wurde der Begriff Vergangenheitsbewältigung immer wieder aufgegriffen. Auch darin zeigt sich, dass mit dem zeitlichen Abstand zum Ende des Nationalsozialismus (und damit der schwindenden Anzahl unmittelbar Betroffener beziehungsweise Beteiligter) das publizistische, wissenschaftliche und öffentliche Interesse an den damit verbundenen Schuldfragen keineswegs zurückgegangen, sondern eher noch gewachsen ist.
 
 Vergangenheitsbewältigung als Medium politischer Kultur
 
Auch in anderen Gesellschaften spielen die dem Begriff Vergangenheitsbewältigung zugrunde liegende Denkfigur (ein Kollektiv und die ihm zugehörigen Individuen sehen sich einer teils im Namen dieses Kollektivs, teils von Einzelnen begangenen Schuld gegenüber, die Sühne beziehungsweise Anerkenntnis fordert) sowie die historische Erfahrung, dass ein Rechtssystem als Nachfolger eines Unrechtssystems seine Legitimation auch in der Aufarbeitung vorangegangenen Unrechts zeigen muss, eine wichtige Rolle. So müssen sich etwa die Republik Südafrika nach der Aufhebung der Apartheid, Chile oder Argentinien nach dem Ende der Militärdiktatur, die Transformationsgesellschaften Osteuropas nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme, Kambodscha, Ruanda oder Bosnien nach Völkermord und Bürgerkrieg der Aufgabe stellen, Unrecht aufzuklären, Opfer zu rehabilitieren, Täter zu verfolgen und verbrecherisches staatliches Handeln ebenso wie individuelles Fehlverhalten zu bestrafen beziehungsweise öffentliche Diskussion auszusetzen.
 
In diesem allgemeinen Sinn, dass der Begriff Vergangenheitsbewältigung die Vorstellung einer gemeinsam zu verantwortenden Schuld beziehungsweise einer die Gesellschaft prägenden Gewalterfahrung und den Anspruch an die Aufarbeitung dieser Schuld und entsprechender Traumata durch das in der Regel staatlich verfasste Kollektiv umfasst und jeweils mögliche rechtliche Regelungen auch auf diesen Rahmen bezogen situiert, also auf metaphysische Rechtfertigungen ebenso verzichtet wie auf den Gedanken göttlicher Gerechtigkeit oder Rache, lässt sich Vergangenheitsbewältigung als spezifisch neuzeitliches, auf innerweltliches, von Menschen zu verantwortendes Handeln bezogener politischer Begriff verstehen. Indem er auf die Verwirklichung universaler Prinzipien (Menschenrechte, individuelles Gewissen, Reziprozität, Völkerrecht) zielt beziehungsweise deren Existenz und Geltung voraussetzt, gehen die mit dem Begriff verbundenen Ansprüche allerdings auch über die jeweiligen konkreten Gemeinschaften hinaus; im Sinne einer moralisch gesehen »guten« Erinnerungsarbeit (T. Todorov) trägt Vergangenheitsbewältigung so zur Schaffung menschenwürdiger Verhältnisse und entsprechender Maßstäbe bei.
 
Tatsächlich erstreckt sich der Begriff auf alle drei drei zeitliche Dimensionen, wobei die rückwärts gerichtete Beschäftigung mit dem geschehenen Unrecht, mit seiner Bestrafung, Erinnerung und Wiedergutmachung sicherlich für die unmittelbar betroffene Generation (Opfer und Täter) im Vordergrund steht. Mit der Leitvorstellung, ein solches Unrecht dürfe nie wieder geschehen (»Lernen aus der Geschichte«), verbindet sich aber auch eine zukunftsgerichtete Perspektive, die auf die Gestaltung des künftigen Zusammenlebens und auf das Zusammenleben der folgenden Generationen zielt, z. B. in Form »pädagogischer Verarbeitung« (P. Dudek) im Rahmen politischer Bildung. Zugleich bilden Anspruch und Programme der Vergangenheitsbewältigung ein grundlegendes Element des Selbstverständnisses der Bundesrepublik Deutschland, das sich beispielhaft im Grundgesetz (Bekenntnis zum Verfassungs- und Rechtsstaat, Bindung an Menschenrechte und Menschenwürde) ausgedrückt findet und auch bei aktuellen politischen Entscheidungen (z. B. über Militäreinsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebiets seit den 1990er-Jahren) und in Legitimationsansprüchen unterschiedlichster Positionen in den jeweiligen öffentlichen Kontroversen immer wieder aufscheint.
 
 Begriffsgeschichte
 
Auch begriffsgeschichtlich hat der Begriff Vergangenheitsbewältigung seinen Ort in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Er thematisiert hier zunächst den von unterschiedlichen Repräsentanten des öffentlichen Lebens vertretenen Anspruch, sich mit den Verbrechen in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft auseinanderzusetzen. Der Begriff wurde wohl von H. Heimpel geprägt und fand im Laufe der 1950er-Jahre bei anderen Historikern (H. Mau, H. Rothfels), besonders aber durch Äußerungen des Bundespräsidenten T. Heuss breite Aufmerksamkeit. Dabei zielte der Begriff zum einen gegen das Vergessen des nationalsozialistischen Unrechts und zum anderen auf die Neuformulierung eines aus der Absage an Gewaltherrschaft, Krieg und Völkermord erwachsenden Staatsverständnisses und Staatsbürgerbewusstseins der gerade gegründeten Bundesrepublik. Eigenart und Tragweite der unter dem Stichwort Vergangenheitsbewältigung angestoßenen Frage nach dem Umgang mit dem nationalsozialistischen Unrecht hat der Publizist M. Rychner 1961 in einem Essay auf die heute noch aktuelle Formel gebracht: »Lösen kannst du es nicht, einordnen nicht, vergessen nicht.«
 
Seine schnelle Verbreitung verdankte der Begriff freilich auch seiner Unschärfe und damit der Möglichkeit, das Verhältnis zum Nationalsozialismus nicht nur unter den verschiedensten Zielsetzungen und Perspektiven zu bestimmen, sondern diesen Bezug gänzlich zu verwischen, indem die »Last der Vergangenheit« nicht als Belastung der Opfer, sondern als eine Bedrückung gesehen werden konnte, deren sich Täter (und Mitläufer) in Form einer »Bewältigung« des Vergangenen zu entledigen hatten. Auf diese Unschärfe, die nicht zuletzt den undeutlichen Bezügen des Begriffs zu einer existenzphilosophisch geprägten Psychologie geschuldet ist, hat T. W. Adorno bereits 1959 hingewiesen: »Die furchtbar reale Vergangenheit wird verharmlost zur bloßen Einbildung jener, die sich davon betroffen fühlen.« Aber auch der von Adorno gebrauchte Begriff der »Aufarbeitung der Vergangenheit«, der sich an S. Freuds psychoanalytische Bearbeitung von Schuldkomplexen anlehnt und in einer positiven Variante die Vorstellung meint, »dass man das Vergangene im Ernst verarbeite, seinen Bann breche durch helles Bewusstsein«, konnte nicht den (bei Adorno selbst reflektierten) durch die Sache und durch die gesellschaftliche Situation gegebenen Unklarheiten entgehen.
 
Diese bestehen zum einen darin, dass die traumatische Vergangenheit tatsächlich Opfer und Täter auf der Ebene der Interaktion und erst recht auf der Ebene psychischer Reaktion intensiver miteinander verbindet, als es eine moralisch klare Schuldzuweisung erkennbar werden lässt; dies belegen Quellen der jüdischen (Y. Kaniuk) und etwa der polnischen Literatur (A. Szczypiorski) ebenso wie psychoanalytische Studien zu den Kindern von Opfern und Tätern und neuere historischen Arbeiten zu den Verstrickungen auch der Opfer in die Terrorzusammenhänge des Lebens in den Konzentrationslagern. Zum Zweiten werden aus der Sicht eines psychologisch oder philosophisch gedeuteten Schuldkomplexes die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge und Strukturen (Entfremdungserfahrungen, mangelnde Empathie, soziale Desintegration), die Menschen zu Tätern werden lassen, weitgehend ausgeblendet.
 
An konkurrierenden Vorschlägen und Präzisierungsversuchen hat es nicht gefehlt. In ihrer Gesamtheit können sie wohl die These belegen, dass sich zumindest seit den 1960er-Jahren »in keinem Land so große Teile der Bevölkerung so ernsthaft, so kontrovers und letztlich auch so intensiv um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bemüht und dem Vergessen und Verdrängen widersetzt haben« (P. Steinbach) wie in der Bundesrepublik nach 1945, wenn auch zum Teil unfreiwillig und mit Ergebnissen, die den jeweiligen Absichten durchaus zuwiderliefen. So lassen sich etwa im Anschluss an K. Jaspers, der hinsichtlich der durch den Nationalsozialismus aufgeworfenen Schuldfrage vier Formen der Schuld (kriminelle, politische, moralische und metaphysische Schuld) unterschied, fünf Ebenen der Bearbeitung eines kollektiv zu verantwortenden Unrechts bestimmen: 1) die Bearbeitung von krimineller Schuld durch die Justiz, 2) die Möglichkeit, erlittenes Unrecht und Verluste durch finanzielle Hilfen beziehungsweise Anerkennung dieses Unrechts »wieder gutzumachen«, 3) die Zielsetzung, mithilfe politischer Maßnahmen und verfassungsmäßiger Sicherungen die Wiederkehr eines Unrechtssystems zu verhindern, 4) das Bemühen, durch historische Erforschung sowie pädagogische und psychologische Bearbeitung des Unrechts Individuen und Gruppen für das Geschehene zu sensibilisieren und gegen erneute Aufforderungen zu Unrecht und Gewalt zu immunisieren, 5) die Entwicklung und Förderung einer entsprechend auf Freiheit und Menschenwürde beruhenden politischen Kultur. Eine solche Erinnerungskultur begründet ihr Selbstverständnis nicht aus der Leugnung der Verbrechen der Vergangenheit (Revisionismus), ihrer Einbettung in übergreifende Strukturen und Ereignisgeschichten (Historisierung, Normalisierung), ihrer Aufrechnung gegen anderes Unrecht (z. B. nationalsozialistische Verbrechen gegen Vertreibung) oder aus einem der Generationenfolge zu verdankenden Nicht-Verantwortlich-Sein (»Gnade der späten Geburt«). Vielmehr erkennt sie die geschehenen Verbrechen an und sucht in der Reflexion auf die daraus resultierende Verstörung einen Anspruch auf verantwortliches Handeln im Hinblick auf Menschenrechte und Demokratie für die Gegenwart und Zukunft zu entwickeln (Steinbach).
 
 Vergangenheitsbewältigung in der deutschen Geschichte
 
In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland hat die Konzeption der Vergangenheitsbewältigung unterschiedlicher Konjunkturen und Akzente erfahren, sodass sich die oben angesprochene Bilanz der Vergangenheitsbewältigung erst vor dem Hintergrund der zurückliegenden Jahrzehnte rechtfertigen lässt und durchaus - sowohl aus der Sicht von Verdrängern als auch von Kritikern dieser Verdrängung - auch als Ergebnis nicht intendierter Prozesse und Impulse gesehen werden muss. Während zunächst die Alliierten deutliche und harte Maßnahmen zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen und zur Bestrafung von Tätern auf den Weg brachten (Entnazifizierung, Nürnberger Prozesse), zielte die »Vergangenheitspolitik« (N. Frei) der ersten Deutschen Bundestage sowie der Bundesregierung und der Ministerialbürokratie v. a. darauf, in Form von Amnestiegesetzen, »Wiedergutmachungsleistungen« (an verfolgte Träger des nationalsozialistischen Systems) und durch die Rehabilitierung von Justiz, Wehrmacht und Beamtenapparat einen »Schlussstrich« unter die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus zu ziehen und so die Integration der politisch durchaus unwilligen Bevölkerung in die junge deutsche Nachkriegsdemokratie voranzutreiben. Demgegenüber blieben die Wiedergutmachungsleistungen an die Opfer des Nationalsozialismus ebenso wie die juristische Aufarbeitung von Verbrechen eher an Initiativen von außen gebunden: Das erste Entschädigungsgesetz, das die Rückgabe »arisierten« jüdischen Vermögens an seine Besitzer regelte, kam 1948 auf alliierten Druck zustande, 1952 erfolgte das Wiedergutmachungsabkommen mit Israel; die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg, wurde erst 1958 eingerichtet, während ein erstes Amnestiegesetz für deutsche Täter und Mitläufer bereits Ende 1949 verkündet worden war.
 
Auch die juristische Bearbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen verlief in den 1950er-Jahren unsystematisch und wurde erst durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess (1961) und durch den ersten Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main (1963-65) zu einem öffentlich diskutierten Thema. In der Folge verschärfte sich die Kritik an einer mangelnden Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit in der politischen Kultur der Bundesrepublik (Jaspers, Alexander und Margarete Mitscherlich) und mündete nach 1968 im Zusammenhang der Studentenbewegung in eine breit geführte Auseinandersetzung sowohl um die gesellschaftlichen Grundlagen der nationalsozialistischen Herrschaft als auch um Fragen personeller und gruppenspezifischer Schuld an den nationalsozialistischen Verbrechen und um die Konsequenzen dieser Sachverhalte für politische Bildung und politische Kultur. Anders als es die zum Teil marxistisch inspirierten Kritiker wollten, führte diese Diskussion allerdings nicht zu einer Entlarvung der »bürgerlichen Demokratie« als Spielart des Faschismus, sondern etablierte im Laufe der 1970er- und 80er-Jahre - angestoßen auch durch die Bundespräsidenten G. Heinemann und R. von Weizsäcker - einen neuen öffentlichen Konsens in der politischen Kultur der Bundesrepublik, die sich vor dem Hintergrund des mit »Vergangenheitsbewältigung« angesprochenen Lernprozesses als gegen die Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entwickelte rechtsstaatliche, freiheitliche und pluralistische Demokratie konstituieren konnte.
 
Freilich blieb dieser Konsens nicht unbestritten. Von rechtskonservativer Seite wird die Entwicklung einer bürgerlich-liberalen Demokratie immer wieder als »westlicher« Sonderweg Deutschlands kritisiert und Vergangenheitsbewältigung als Fortsetzung der abgelehnten »Reeducation«-Politik der Alliierten denunziert (z. B. A. Mohler, »Der Nasenring. Die Vergangenheitsbewältigung vor und nach dem Fall der Mauer«, 1991).
 
Auch die DDR hat in ihrem Selbstverständnis als antifaschistischer Staat eine Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht als eine eigene gesellschaftliche Aufgabe gesehen, sondern sich durch die Zuweisung des nationalsozialistischen Erbes an die Bundesrepublik beziehungsweise an deren Eliten und durch den Verweis auf die eigene sozialistische Tradition von allen Ansprüchen für frei erklärt. Demgegenüber ist das Stichwort Vergangenheitsbewältigung nach dem Zusammenbruch der DDR auch im Hinblick auf die dort im Namen von Partei und Staat, aber eben auch immer von Individuen begangenen Verbrechen wieder aufgenommen worden. Dabei geht es nicht nur um die Vergleichbarkeit der diktatorischen Systeme (Totalitarismusdebatte), sondern auch die schon aus den 1950er-Jahren bekannten Positionen - Amnestie oder Strafverfolgung, Integration oder Ächtung - leben wieder auf und rücken die oben genannten fünf Ebenen der Vergangenheitsbewältigung erneut in den Blick.
 
In den letzten Jahren haben eine Reihe von öffentlichen Kontroversen das Thema der Vergangenheitsbewältigung, namentlich im Hinblick auf die nationalsozialistische Vergangenheit, wach gehalten: so die Bewertung von Gedenktagen, v. a. des 8. Mai (Kriegsende 1945 als »Befreiung« oder »Niederlage«) und des 27. Januar (Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz als »nationaler Gedenktag«), der 1986 ausgebrochene Historikerstreit um die Frage der historischen Singularität der nationalsozialistischen Verbrechen, ab 1989 die Auseinandersetzungen um ein zentrales Holocaust-Mahnmal (das aufgrund eines Bundestagsbeschlusses von 1999 nach einem revidierten Entwurf des amerikanischen Architekten P. Eisenman in Berlin realisiert wird), ferner die Kontroverse um die Ausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung (»Vernichtungskrieg - Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«, 1995-99, 2001 mit neuem Konzept wieder eröffnet) sowie die Debatten um D. Goldhagens Thesen zur spezifisch im deutschen Sozialcharakter begründeten Schuld am nationalsozialistischen Völkermord an den Juden (1996) und um M. Walsers anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 geäußerten Vorwurf einer politischen Instrumentalisierung des Holocaust. Im Blickpunkt weltweiter öffentlicher Aufmerksamkeit stand in den letzten Jahren insbesondere die schuldhafte Verstrickung von Banken, Industriekonzernen und anderen wirtschaftlichen und sozialen Akteuren in die Verbrechen des Nationalsozialismus, die diese Organisationen mit Forderungen nach Rückerstattung von Bankguthaben und sonstigen Vermögenswerten (Debatte um »nachrichtenlose Vermögen«, »Raubgold« und »Beutekunst«) an Überlebende des Holocaust oder deren Erben sowie nach Wiedergutmachungsleistungen für Zwangsarbeit konfrontierte; doch erst unter dem Druck von Sammelklagen in den USA kam es zu weiter gehenden Entschädigungsregelungen.
 
Diese Diskussionen, aber auch neuere Publikationen zu den Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden (S. Courtois u. a.: »Le livre noir du communisme«, 1997; deutsch »Das Schwarzbuch des Kommunismus«), belegen v. a. zweierlei: 1) ein lebendiges Interesse an der Aufarbeitung von Vergangenheit und die weitgehende Anerkennung der Notwendigkeit, sich den Schuldfragen zu stellen, aber 2) eine die Pluralisierung von Werten spiegelnde differenzierte Öffentlichkeit, die in ihren Zuordnungen und Verhaltensstilen auch hinsichtlich des Umgangs mit Trauer, Schuld, Verantwortung, Vergessen und Erinnerung so unterschiedlich ist, dass von einer uniformen »Erinnerungskultur« weder als Tatsache noch als Zielvorgabe ausgegangen werden kann. Entsprechend unterschiedlich stellt sich auch die Bewertung des Prozesses der Vergangenheitsbewältigung dar: Neben Kritikern, die wie R. Giordano darin v. a. eine Verdrängung der Schuldfrage und des Leidens der Opfer sehen, stehen Autoren, die Vergangenheitsbewältigung als erfolgreichen Lernprozess und als zentrale Integrationsklammer der politischen Kultur (West-)Deutschlands auffassen (P. Steinbach, W. Röhrich). Eine dritte Deutung begreift Vergangenheitsbewältigung als immer erneut in Gang zu setzenden Diskussions- und Reflexionsprozess auf der Ebene der Gesamtgesellschaft, der Öffentlichkeit und der sozialen Institutionen (besonders auch in Schulen und anderen Einrichtungen der politischen Bildung), zugleich aber auch biographisch als Dimension für die Gewinnung von Selbstbewusstsein und Empathie in der politischen Sozialisation der Individuen und Generationen (Gesine Schwan, P. Dudek, M. Brumlik).
 
 Politische Bildung und politische Kultur
 
Neben der Frage der Verfolgung von Verbrechen, der Aufarbeitung von Schuld und der Entschädigung von Opfern wurde der unter Vergangenheitsbewältigung angesprochene Umgang mit den Verbrechen des Nationalsozialismus seit Bestehen der Bundesrepublik auch unter den Aspekten der politischen Kulturforschung und unter der Perspektive der politischen Bildung gesehen, ja Letztere entwickelte sich in weiten Teilen geradezu aus der mit der Aufarbeitung der Vergangenheit sich ergebenden Aufgabenstellung, die Adorno als »Aufklärung über das Geschehene« und als »Wendung auf das Subjekt, als Verstärkung von dessen Selbstbewusstsein und damit auch von dessen Selbst« fasste. Hieran hat die politische Bildung seit den 1950er-Jahren über eine Vielzahl von Angeboten, Institutionen und Programmen angeknüpft und im Wechselbezug zu anderen gesellschaftlichen und politischen Prozessen zumindest auf der Ebene der öffentlichen Meinung eine Grundstimmung vermitteln können, die sich im Laufe der Jahrzehnte in einer weitgehenden Absage an nationalsozialistisches Denken und Tun und in einer eher positiven Einstellung gegenüber den Grundlagen und Erscheinungsformen liberaler Demokratie niedergeschlagen hat. Die Ergebnisse der politischen Kulturforschung in den 1990er-Jahren weisen aber auch darauf hin, dass gesellschaftliche Desintegration ebenso wie fortbestehende Ressentiments und mangelnde Erfahrung im Umgang mit demokratischen Formen, besonders aber die mangelnde Selbstachtung der Individuen als politische Subjekte und eine entsprechend mangelhaft erfahrene soziale Anerkennung der eigenen Subjektivität noch immer die Voraussetzung für Einstellungen und Handlungen bilden, die sich in Antisemitismus, Gewaltbereitschaft gegenüber Fremden und Minderheiten, in nationalistischen Einstellungen und in der Suche nach einem »starken Mann« äußern.
 
Die damit angesprochenen politischen, sozialen und pädagogischen Aufgaben stehen allerdings auch in anderen Ländern, die in den letzten Jahrzehnten einen Übergang von einem Unrechts- zu einem Rechtssystem vollzogen haben, auf der Tagesordnung. Wichtig erscheint dabei - bei aller Unterschiedlichkeit der in Rede stehenden Systeme - die Einsicht, dass es jeweils mehrere Wege gibt, wie Gesellschaften Vergangenheitsbewältigung betreiben können, und dass es auch innerhalb der einzelnen Gesellschaften unterschiedlicher Ebenen der Bearbeitung sowie unterschiedliche Zielvorgaben und Reichweiten gibt, die in unterschiedlichen Kombinationen und Formen entwickelt und herangezogen werden können; so etwa bearbeitet in der Republik Südafrika seit 1996 eine »Wahrheitskommission« nach chilenischem Vorbild Verbrechen und andere Sachverhalte, die juristisch allein nicht mehr aufgeklärt werden können. »Aufklärung. .. und Wahrheit sind nicht nur wünschenswert, sondern auch dort möglich, wo Recht und Gerechtigkeit es oft nicht mehr sind« (T. G. Ash). Öffentlichkeit, Justiz und spezielle Institutionen wie etwa die »Gauck-Behörde« in Deutschland zur Aufarbeitung des in den Stasi-Akten dokumentierten Unrechts arbeiten so an denselben Zielen der Vergangenheitsbewältigung. Darüber hinaus stellen der Umgang mit und die Diskussion über das Ausmaß und den Gegenstand der jeweils zu erinnernden Vergangenheit selbst ein Thema und einen Maßstab für das Gelingen oder Misslingen einer politischen Kultur dar (Schwan). Freilich ist Vergangenheitsbewältigung nicht an den Bezugsrahmen einer Nation gebunden. Vielmehr steckt in diesem Begriff die Tendenz zur Universalisierung des Umgangs mit individueller und kollektiver Schuld. Dies zeigt sich z. B. in den Haager Prozessen zur Bestrafung der Menschenrechtsverletzungen in Bosnien und Herzegowina 1994-96; hier wird an jene Formen internationalen Rechts angeknüpft, die unter dem Stichwort Vergangenheitsbewältigung in der Beschäftigung mit dem Unrecht des Nationalsozialismus in Gang gesetzt werden, etwa in Entschädigungsgesetzen, in der Erinnerungsarbeit, in politischer Bildung und nicht zuletzt in der juristischen Aufarbeitung (Nürnberger Prozesse, Auschwitz- und Majdanek-Prozesse) in Gang gesetzt wurden. Damit aber bleibt die Vernichtung der europäischen Juden durch den deutschen Nationalsozialismus auch als Menetekel der deutschen Geschichte erhalten, ebenso wie sich Vergangenheitsbewältigung in Deutschland modellhaft und historisch stets hinsichtlich der Frage der Anerkennung und der Erinnerung des »Menschheitsverbrechens« messen lassen muss.
 
Literatur:
 
M. Rychner: Vergangenheit bewältigen. Gespräch über ein Schlagwort unserer Zeit, in: Merkur, Jg. 15 (1961), H. 10; K. Jaspers: Lebensfragen der dt. Politik (1963);
 P. Steinbach: Natsoz. Gewaltverbrechen. Die Diskussion in der dt. Öffentlichkeit nach 1945 (1981);
 P. Steinbach: Die Vergegenwärtigung von Vergangenem. Zum Spannungsverhältnis zw. individueller Erinnerung u. öffentl. Gedenken, in: Aus Politik u. Zeitgesch. B 3-4 (1997); J. Habermas: Eine Art Schadensabwicklung, in: J. Habermas: Kleine polit. Schriften VI (1987);
 P. Graf Kielmannsegg: Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der natsoz. Vergangenheit (1989);
 
Zweierlei Bewältigung. Vier Beitrr. über den Umgang mit der NS-Vergangenheit in den beiden dt. Staaten, Beitrr. v. U. Herbert u. O. Groehler (1992);
 A. Grosser: Verbrechen u. Erinnerung. Der Genocid im Gedächtnis der Völker (a. d. Frz., Neuausg. 1993);
 U. Brochhagen: Nach Nürnberg. V. u. Westintegration in der Ära Adenauer (1994);
 A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern (231994);
 
V. 1945 u. 1989. Ein unmögl. Vergleich?, hg. v. K. Sühl (1995);
 P. Dudek: »Rückblick auf die Vergangenheit wird sich nicht vermeiden lassen«. Zur pädagog. Verarbeitung des Nationalsozialismus in Dtl. 1945-1990 (1995);
 
»Historikerstreit«. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der natsoz. Judenvernichtung, Beitrr. v. R. Augstein u. a. (91995);
 T. W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?, in: T. W. Adorno: Eingriffe. Neun krit. Modelle (Neuausg. 1996);
 J. Améry: Jenseits von Schuld u. Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten (31997);
 
Amnestie oder Die Politik der Erinnerung in der Demokratie, hg. v. Gary Smith u. A. Margalit (1997);
 G. Schwan: Politik u. Schuld. Die zerstörer. Macht des Schweigens (1997);
 
Die Wehrmachtsausstellung. Dokumentation einer Kontroverse, hg. v. H.-G. Thiele (1997);
 J. P. Reemtsma: Der Vorgang des Ertaubens nach dem Urknall (Neuausg. 1998);
 E. Beck-Gernsheim: Juden, Deutsche u. andere Erinnerungslandschaften. Im Dschungel der ethn. Kategorien (1999);
 N. Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrep. u. die NS-Vergangenheit (Neuausg. 1999);
 P. Reichel: Politik mit Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die natsoz. Vergangenheit (Neuausg. (1999);
 P. Reichel: V. in Dtl. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute (2001);
 R. Giordano: Die zweite Schuld oder von der Last, ein Deutscher zu sein (Neuausg. 2000);
 T. Todorov: Mémoire du mal, tentation du bien. Enquête sur le siècle (Paris 2000);
 J. Fried: Erinnerung u. Vergessen. Die Gegenwart stiftet die Einheit der Vergangenheit, in: Histor. Zeitschrift, Bd. 272 (2001), H. 3;
 D. Levy u. N. Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust (2001);
 P. Novick: Nach dem Holocaust. Der Umgang mit dem Massenmord (a. d. Amerikan., 2001).
 
Weitere Literatur: Erinnerungskultur.
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
deutsche Literatur nach 1945: Vergangenheitsbewältigung und geteiltes Deutschland
 

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Ver|gạn|gen|heits|be|wäl|ti|gung, die <o. Pl.>: Auseinandersetzung (1) einer Nation mit einem problematischen Abschnitt ihrer jüngeren Geschichte, in Deutschland bes. mit dem Nationalsozialismus: Das Problem ... nennt man gern mit einem verräterischen Wort »Vergangenheitsbewältigung«. Wie wenn eine Vergangenheit »bewältigt«, also erledigt werden könnte (Woche 2. 1. 98, 34); Die französischen Medien sind der Judenfrage, der V. ... nicht systematisch ausgewichen (Scholl-Latour, Frankreich 446); In Scharen strömten Deutsche Ende der 40er-Jahre in notdürftig installierte Kinosäle, um Käutners „Des Teufels General“ mit Curd Jürgens zu sehen. Käutners erster, zaghafter Versuch einer kritischen V. (Szene 6, 1983, 34).

Universal-Lexikon. 2012.