Ver|drạ̈n|gung 〈f. 20〉
1. das Verdrängen
2. das Verdrängtwerden
3. 〈Psych.〉 das Verdrängen von Wünschen, Trieben usw.
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Ver|drạ̈n|gung, die; -, -en:
das Verdrängen.
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Verdrängung,
1) Finanzwissenschaft: Crowding-out.
2) Psychologie: ein psychischer Mechanismus, der darauf zielt, unangenehme Vorstellungen aus dem Bereich bewusster Empfindung fernzuhalten. Der Begriff wurde von J. F. Herbart eingeführt. S. Freud verankerte das Konzept in seiner Tiefenpsychologie und belegte es im Laufe der Entwicklung der Theorie mit unterschiedlichen spezifischen Bedeutungen. Die moderne psychoanalytische Theorie sieht in der Verdrängung einen von vielen Abwehrmechanismen des Ichs zum Schutz vor bedrohlichen Triebregungen oder Impulsen, peinliche Vorstellungen oder unerträgliche Affekten. Der Begriff wurde mit zunehmender Popularisierung der Psychoanalyse auch als (unsystematische) Bezeichnung für selektive Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Denkprozesse verwendet. Im ethnopsychoanalytischen und soziologischen Kontext wird Verdrängung als ein Mechanismus der Verhaltensregelung innerhalb von Gruppen und Gesellschaften diskutiert.
Psychoanalytische Ansätze
Voraussetzung für den Begriff der Verdrängung ist der des Unbewussten. Damit wird auf eine Zweiteilung psychischer Inhalte und Prozesse verwiesen, nämlich in solche, über die der jeweilige »Besitzer« Auskunft geben kann, und andere, auf die er keinen Zugriff hat. Elemente des Unbewussten, die bewusstseinsfähig sind, werden von Freud als Vorbewusstes bezeichnet. Hierbei handelt es sich um schwache und deshalb latente Gedanken, die nicht bewusst sind, weil sie zu wenig »Energie« haben. Andere Gedanken sind unbewusst, obwohl sie hohe »Energie« haben. Gegen ihr Bewusstwerden gibt es Widerstand, weil sie Angst auslösen. Dieser Widerstand wird durch Abwehrmechanismen aufgebaut. Der einzige Abwehrmechanismus, bei dem durch Abwehr und vollständige Abfuhr von Triebenergie eine Befriedigung von Triebbedürfnissen zustande kommt, ist die Sublimierung. Der Verdrängung dagegen gelingt dies nicht, da die Affektenergie und die daran geknüpften Vorstellungen (Erinnerungen, Bilder, Gedanken) im Bereich des Unbewussten, zum Teil von bereits unbewussten Triebanteilen angezogen, weiterwirken; die somit einsetzende ständige Wiederholung des Abwehrgeschehens kann schließlich pathogen werden, weil das Ich primär mit der Kontrolle von Triebimpulsen beschäftigt ist und die Erfordernisse seiner sozialen Umwelt nicht mehr angemessen erfüllen kann.
Die mit der Verdrängung systematisch in Verbindung gebrachte Symptomatik ist die der Hysterie. Vorstellungen, die für ein Subjekt mit hohen negativen Affektbeträgen belegt sind, führen zu Angstreaktionen, die zunächst Warnfunktion haben. Diese mobilisiert die Verdrängung oder einen anderen Abwehrmechanismus. Gelingt die Verdrängung, wird die Vorstellung unbewusst, sie wird vergessen. Der an die Vorstellung gekoppelte negative Affektbetrag wird durch Ersatzhandlungen so weit reduziert, dass das Subjekt seine Ich-Integrität erhalten kann. Gelingt die Ausgleichsleistung nicht mehr, kommt es zu einer »Wiederkehr des Verdrängten« in Form von Fehlleistungen, Träumen, schließlich pathologische Symptombildung, etwa unkontrollierten Affektausbrüchen wie unkontrollierter Angst oder Aggression. Die Reintegration des Verdrängten in das Bewusstsein bewirkt die Beseitigung der Symptome und zugleich eine Einstellungsänderung, die neue oder erweiterte Handlungsmöglichkeiten erschließt.
Die in der Regel unbewussten Motive für den Einsatz des Verdrängungsmechanismus liegen in der Wirksamkeit von internalisierten Normen, Ansprüchen an das eigene Verhalten in Bezug auf die Kontrolle von Triebregungen und Impulsen. Verletzungen dieser Normen führen zu Angst-, Schuld- oder Schamgefühlen, negativen Selbstbewertungen und schließlich zur Auflösung einer konsistenten Repräsentation der eigenen Person. Verdrängung steht damit im Dienst der Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildes, der Integrität des Ichs.
Der tiefenpsychologische Verdrängungsbegriff ist meist eingebettet in eine umfassendere Struktur des psychischen Apparates, auf die Freud und andere mit den Begriffen Es, Ich und Über-Ich referieren. Gemeinsam ist allen Ansätzen, dass dem Es die Triebstrukturen, dem Über-Ich die normativen Strukturen und dem Ich das Management der Ansprüche von Es, Über-Ich und der Außenwelt zugewiesen werden. Da es in allen drei funktionalen Einheiten unbewusste Anteile gibt, kann der ganze Verdrängungsvorgang unbewusst ablaufen.
Innerhalb psychoanalytischer Definitionen von Verdrängung wird häufig von absichtsvollem Vergessen gesprochen, das im Dienst der psychischen Selbstregulation steht. Dabei werden triebbezogene Kognitionen und damit assoziierte Wahrnehmungen ins Unbewusste abgedrängt, weil sie mit dem »Selbstkonzept« nicht vereinbar sind. Die normativen Komponenten des Selbstkonzeptes sind Sollwerte, und sie entstehen in der Auseinandersetzung mit den eigenen Bedürfnissen sowie den Reaktionen der unmittelbaren Umwelt auf deren Befriedigung. Die Ausprägung der Sollwerte und der Umgang mit Abweichungen sind eine Funktion der kognitiven und moralischen Entwicklung sowie der Familien- und Gruppenstrukturen.
Die gesellschaftliche Dimension der Verdrängung
Voraussetzung für die Entwicklung von stabilen Gesellschaften ist die Existenz funktionierender Mechanismen der Triebkontrolle. Individuen müssen Über-Ich-Strukturen aufbauen, um im Interesse von sozialen Systemen auf die Erfüllung individueller Bedürfnisse verzichten zu können, ohne dabei auf eine permanente Außenkontrolle angewiesen zu sein. Mit ihren Sanktionsmöglichkeiten zwingt eine Gesellschaft Individuen zu Verdrängungsleistungen. Insbesondere hierarch. Familien- und Gruppenstrukturen scheinen den »einfachen« Abwehrmechanismus Verdrängung zu induzieren: Wer auf soziale Beziehungen in einer auf Recht und Ordnung basierenden Gruppe angewiesen ist, muss Impulse unterdrücken, die Recht und Ordnung verletzen. Andererseits muss eine Gesellschaft, die überleben will, Ersatzhandlungen und Abfuhrrituale entwickeln, die eine kontrollierte Triebabfuhr ermöglichen. H. Marcuse unterscheidet in diesem Zusammenhang »echte« und »unechte« Bedürfnisse. Die Entwicklung von Ersatzbedürfnissen und deren gezielte Befriedigung sieht er als zentrales Repressionsinstrument der modernen Industrie- und Konsumgesellschaft.
Die Verwendung des Begriffs Verdrängung außerhalb des theoretischen Rahmens der Psychoanalyse schließt auch motivierte Vergessensprozesse oder eingeschränkte Wahrnehmungsfunktionen ein, die zu einer inadäquaten Repräsentation der Umwelt und besonders zu systematischen Wahrnehmungsveränderungen führen (selektive Wahrnehmung). Die Sinnesorgane des menschlichen Organismus versorgen das Gehirn mit einem Überangebot von Sinneseindrücken. Unsere Aufmerksamkeit entscheidet darüber, welchen Ausschnitt unserer Umwelt wir bewusst registrieren, welcher Ausschnitt zwar registriert wird, nicht aber zu bewussten Wahrnehmungen führt, und was ignoriert wird. Dabei bestimmen nicht allein Reizaspekte den Fokus der Aufmerksamkeit, sondern auch die jeweiligen kognitiven Aktivitäten (Erwartungen, Interessen, Handlungsmotive u. a.), in deren Dienst der Wahrnehmungsprozess steht. Betrachtet man Verdrängung und Wahrnehmungsabwehr innerhalb eines komplexen selbstregulativen Systems, so wird es schwer, zwischen pathologischen Formen von selektiver Informationsaufnahme im analytischen Sinne und adaptiven Leistungen im Kontext von Wahrnehmungs- und Problemlösungsprozessen zu unterscheiden. Verdrängung im Sinne des Ignorierens und Vergessens äußerer und innerer Reize als Voraussetzung für koordiniertes Handeln ist ein eher aktiver Vorgang. Die Ursache für das Ignorieren von Information kann aber auch in einem eher passiven Sinne in der Unfähigkeit des Rezipienten liegen, eine Information in seinen Wissensbestand zu integrieren. Eine psychodynamische Komponente kommt wieder ins Spiel, wenn Information zwar in bestehende Schemata integriert werden kann, ihr Inhalt aber als unvereinbar mit bereits gespeicherter Information erlebt wird. Unter solchen Bedingungen entsteht eine »kognitive Dissonanz« (L. Festinger). Diese wird als unangenehm oder gar bedrohlich erlebt, wenn sie eigene Einstellungen, Normen, das Selbstbild gefährdet. Dissonanzreduktion kann durch Uminterpretation dissonanter Ereignisse, durch die Suche nach entkräftenden Argumenten oder durch Abwertung dissonanter Alternativen geschehen.
In Gesellschaften, die über gut organisierte Erziehungssysteme und über moderne Massenmedien verfügen, können kollektive Verdrängungsprozesse (in einem eher alltagssprachlichen Sinne des Verdrängungsbegriffs) auf vielfache, teilweise subtile Art kontrolliert werden. Das gilt für totalitäre Systeme, aber auch für die demokratisch organisierte Industriegesellschaft. Erziehungssysteme und Massenmedien transportieren die Geltungsansprüche derer, die sie kontrollieren. Sie beeinflussen die historische und politische Meinungsbildung; in westlichen Gesellschaften lehren sie z. B. das Denken im Paradigma einer naturwissenschaftlich-technischen Weltsicht (M. Horkheimer, T. W. Adorno). Sie präsentieren die technisierte Produktions- und Konsumgesellschaft mit ihren Ansprüchen, aber auch mit ihren Belohnungssystemen als Rahmen, innerhalb dessen »sinnvolles« Denken und Handeln stattfinden kann. Mit den Gefahren und Risiken einer hochindustriellen Gesellschaft zu leben, ist z. B. nur möglich, indem man das Wissen um die Risiken verdrängt. Die Identifikation mit Warnern vor den Risiken, die Organisation von Sicherheitssystemen und die Interpretation von Katastrophen als Bestandteil fremder Lebenswelten sind Hilfsmittel für solche Verdrängungsakte. Kritisches Aufspüren und Herausarbeiten von normativen Geltungen, Interessenkonflikten und repressiven Tendenzen in der Gesellschaft bilden die Basis dafür, dass in der Komplexität gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge und technisch geprägter Geschehensabläufe freie Entscheidung und bewusste Zielsetzung wie auch die Diskussion von Werten und Normen im öffentlichen Diskurs ihren Raum bewahren.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Geschichtsbewusstsein · Konfliktregelung · Manipulation · öffentliche Meinung · Psychoanalyse · Psychotherapie · Risikogesellschaft · Selbstverwirklichung · Vergangenheitsbewältigung
U. Moser: Zur Abwehrlehre. Das Verhältnis von V. u. Projektion, in: Jb. der Psychoanalyse, Bd. 3 (Bern 1964);
O. Fenichel: Psychoanalyt. Neurosenlehre, 3 Bde. (a. d. Amerikan., 1974, Nachdr. 1997);
L. Festinger: Theorie der kognitiven Dissonanz (a. d. Engl., 1978);
A. Mitscherlich: Massenpsychologie ohne Ressentiment (31984);
S. Freud: Die V., in: S. Freud: Studienausg., Bd. 3: Psychologie des Unbewußten (61989);
H. Marcuse: Der eindimensionale Mensch (a. d. Amerikan., Neuausg. 1994);
M. Horkheimer u. T. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosoph. Fragmente (Neuausg. 42.-46. Tsd. 1996);
M. Erdheim: Die gesellschaftl. Produktion von Unbewußtheit (Neuausg. 51997);
A. Freud: Das Ich u. die Abwehrmechanismen (Neuausg. 42.-43. Tsd. 1997).
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Ver|drạ̈n|gung, die; -, -en: das Verdrängen.
Universal-Lexikon. 2012.