Akademik

Leibniz
Leibniz,
 
Gottfried Wilhelm, Mathematiker und Philosoph, * Leipzig 1. 7. 1646, ✝ Hannover 14. 11. 1716; Sohn eines Rechtsanwaltes und Professors; 1661 besuchte Leibniz die Universität in Leipzig, 1663 wechselte er nach Jena. Vier Jahre später erfolgte die juristische Promotion in Altdorf bei Nürnberg, nach der Leibniz in kurmainzische Dienste als juristischer und diplomatischer Berater trat. 1670 wurde er zum Rat am kurfürstlichen Revisionsgericht ernannt. 1672-76 hielt sich Leibniz in Paris auf. In dieser Zeit lernte er die zeitgenössische Mathematik und Naturwissenschaft kennen. Er begegnete u. a. A. Arnauld, N. Malebranche, P. Nicole und E. W. von Tschirnhaus und knüpfte eine enge Beziehung zu C. Huygens, der zeit seines Lebens ein väterlicher Freund und Förderer von Leibniz bleiben sollte. Mehrere Reisen führten Leibniz nach London, wo er mit R. Boyle, R. Hooke und J. Collins (der ihm mathematische Manuskripte von I. Newton und J. Gregory zeigte) zusammentraf. 1673 wurde Leibniz in die Royal Society aufgenommen. Die Bemühungen um eine bezahlte Anstellung am Collège de France (Nachfolge von G. P. Roberval) und Aufnahme in die Académie des sciences zu Paris scheiterten trotz der Vorführung der von ihm erfundenen Rechenmaschine (1675). Im Jahr darauf trat Leibniz als Bibliothekar und Hofrat in hannoversche Dienste. Die Reise nach seinem neuen Dienstort nutzte er, um in den Niederlanden B. Spinoza und A. van Leeuwenhoek aufzusuchen. In Hannover war Leibniz auch als technischer Berater (u. a. in Bergbaufragen) tätig. 1685 erhielt er den Auftrag, die Geschichte des Welfenhauses zu erforschen mit dem Ziel, dessen dynastische Ansprüche auf den englischen Thron zu untermauern. Für das Quellenstudium unternahm Leibniz 1687-90 eine Reise durch Italien, wo er mit M. Malpighi und V. Viviani zusammentraf. Nach seiner Rückkehr wurde Leibniz 1691 Bibliothekar in Wolfenbüttel. Neben wissenschaftlichen Forschungen und historischen Studien, die 1707 in der Herausgabe der Quellensammlung »Scriptores rerum Brunsvicensium« gipfelten, widmete sich Leibniz in den folgenden Jahren v. a. den Reunionsbestrebungen in den christlichen Kirchen sowie der Einrichtung wissenschaftlicher Akademien. 1700 kam es mit Unterstützung von Königin Sophie Charlotte zur Gründung der Societät der Wissenschaften in Berlin, deren Präsident Leibniz auf Lebenszeit wurde. Die Jahre 1712-14 verbrachte er in Wien (1713 Ernennung zum Reichshofrat). Seine letzten Lebensjahre waren überschattet von dem Prioritätsstreit mit I. Newton in Sachen Infinitesimalrechnung (eine von der Royal Society eingesetzte Kommission beschuldigte - nach heutiger Ansicht unberechtigt - 1711-13 Leibniz des Plagiats) und von wachsender Isolation am hannoverschen Hof.
 
Leibniz' Philosophie folgt dem Grundsatz, dass das begründende Prinzip nicht von der Art des Begründeten sein kann, wenn ein Regress ins Unendliche vermieden werden soll. Bei Leibniz wird Gott erstmals nicht als die erste Ursache einer Ursachenkette verstanden, sondern als der »außerhalb der Reihe« liegende zureichende Grund für das Bestehen der Kette als Ganzer. In ähnlicher Weise übernimmt Leibniz die Ergebnisse des traditionellen naturphilosophischen Mechanismus, begründet ihn jedoch nichtmechanistisch. Zentralbegriff der leibnizschen Welterklärung ist die Monade, eine einfache, nicht ausgedehnte und daher unteilbare Substanz, die äußeren mechanischen Einwirkungen unzugänglich ist, in deren spontan gebildeten Wahrnehmungen (Perzeptionen) sich jedoch das ganze Universum spiegelt. Während Gott, die oberste Monade, deutliche Wahrnehmungen hat und damit die gesamte Entwicklung des Universums überschaut, sind die Wahrnehmungen der geschaffenen Monaden großenteils unbewusst. Während die »Seelenmonaden« noch über Bewusstsein und Gedächtnis verfügen, können die »nackten Monaden« dagegen als die »wahren Atome«, die unausgedehnten Bausteine der ausgedehnten Materie, betrachtet werden: In ihnen spiegelt sich das Universum nur noch unbewusst, das heißt, diese Monaden sind eingebettet in den universalen deterministischen Zusammenhang der physikalischen Welt. An dieser Stelle hat Leibniz' Kraftbegriff seinen Ort: Während R. Descartes die Physik aus den Stoßbewegungen ausgedehnter Korpuskeln entwickelte, das Universum anschaulich geometrisch konstruierte und, von der statischen Kraft als physikalischer Modellkategorie ausgehend, die Konstanz der Bewegungsgröße mv (Masse mal Geschwindigkeit) fälschlich als universal gültiges Gesetz behauptete, nimmt Leibniz, dabei C. Huygens folgend, die »Kraft zum Aufsteigen« oder »lebendige Kraft« mv2 als Maß der Bewegung, für das er einen Erhaltungssatz postuliert. Leibniz unterscheidet zwischen der »toten«, virtuellen Kraft (»conatus«) und der lebendigen Kraft (»impetus«). Der Begriff »conatus« entspricht dem einer »nackten Monade«: Sie ist selbst nicht durch eine räumliche Bewegung definiert, enthält diese aber virtuell, und aufgrund der Kontinuität aller räumlich gleichzeitigen wie zeitlich sukzessiven Momente des Universums ist in diesem einen Moment die gesamte vergangene und zukünftige Entwicklung der Welt »unbewusst« enthalten. Sind also die Monaden die »wahren Atome des Universums«, so gleicht doch keine der anderen, jede hat ihren eigenen Individualbegriff (»principium identitatis indiscernibilium«, Prinzip von der Identität des Ununterscheidbaren). Dass zwei scheinbar gleiche Dinge nur durch verschiedene Raum- oder Zeitkoordinaten, unterschieden sein können, liegt lediglich an der unklaren Vorstellung des Menschen. Doch müssen nach Leibniz für diese unterschiedlichen Koordinaten logische Gründe in den Monaden selbst liegen, denn die Differenzierung der Phänomene kann sich nicht sekundär aus gleichförmigen Elementen entwickeln. Die Welt besitzt damit notwendigerweise einen maximalen Reichtum von Momenten, und in diesem Sinne der größtmöglichen Mannigfaltigkeit ist die Welt die beste aller möglichen, ihre prästabilierte Harmonie ist keine willkürliche Einrichtung der Gott-Monade, sondern notwendiger Ausdruck der Kompatibilität aller Monaden in der kontinuierlichen Ordnung von Raum und Zeit.
 
Leibniz' Entdeckungen in der Mathematik hängen ebenfalls eng mit seiner Metaphysik zusammen. Leibniz' Logik geht davon aus, dass unsere Bewusstseinsinhalte und Wahrnehmungen, die Leibniz aufgrund des »principium identitatis indiscernibilium« als Gedanken bestimmen kann, sich in eine Anzahl von einfachen Elementen zergliedern lassen (Alphabet der Gedanken). Diese einfachen Elemente können durch Zahlen (Symbole) ausgedrückt werden. Mithilfe rein formaler Regeln lassen sich sodann aus geeigneten Axiomen alle wahren Sätze ableiten (Characteristica universalis). Hieraus entwickelte Leibniz (in Anlehnung an R. Lullus, G. Bruno und Descartes) eine Art von formal-deduktiver Logik, die die Prinzipien heutiger mathematischer Logik vorwegnimmt. Die ersten mathematischen Arbeiten von Leibniz, insbesondere die »Dissertatio de arte combinatoria« (1666), zeigen einen deutlichen Einfluss der Coss. In ihnen widmete sich Leibniz - ohne Kenntnis der Ergebnisse von B. Pascal zu haben - der Erforschung des »arithmetischen« (heute pascalschen) Dreiecks. Die Beschäftigung mit den Zusammenhängen von Folgen und Differenzenfolgen legte den Grundstein für die spätere Infinitesimalrechnung. Deren Entwicklung (1673-75) fällt in die Zeit des Pariser Aufenthaltes. Entscheidende Anstöße hierfür bezog Leibniz aus dem Studium der Schriften von B. Pascal (Idee des »charakteristischen Dreiecks«) und von Gregorius a San Vincento. Andere Entdeckungen dieser Zeit sind die Summation der Reziproken der Dreieckszahlen (1672), die analytische Quadratur des Kreises vermöge der Arkustangensreihe (1674), Lösungsverfahren für bestimmte Klassen diophantischer Gleichungen und das Dualsystem (»Rechnung mit Nullen und Einsen« - von Leibniz auch im Sinne seiner Metaphysik interpretiert). Erst 1682, nach Gründung der Acta Eruditorum, veröffentlichte Leibniz Arbeiten zur Differenzial- und Integralrechnung. Besonders wichtige Abhandlungen waren »Nova methodus pro maximis et minimis« (1684) und »De geometria infinitorum« (1686). In der Folgezeit gelang es Leibniz und seinen Anhängern Jakob und Johann Bernoulli sowie dem Marquis G. F. A. de L'Hospital, bemerkenswerte Resultate mithilfe der neu geschaffenen Infinitesimalrechnung zu erzielen. Leibniz bemühte sich auch, deren Grundlage philosophisch zu verteidigen (u. a. Auseinandersetzung mit B. Nieuwentijd; Briefwechsel mit P. Varignon).
 
Leibniz' Gedanken sind in der Form, die er ihnen in der »Theodizee« gegeben hat, zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Aufklärung des 18. Jahrhunderts geworden. Sein eigentliches philosophisches System dagegen ist damals keineswegs in seiner Tiefe begriffen worden. C. Wolff nahm gerade den Kerngedanken, den Lehren von der Monade und der prästabilierten Harmonie, ihre Kraft und gewann mit seinem eigenen System größeren Einfluss als Leibniz. Beeinflusst hat Leibniz auch die klassische deutsche Literatur, so J. G. Herder, G. E. Lessing und Goethe. Die philosophische Entwicklung des 19. Jahrhunderts hat nur wenig Bezug auf Leibniz genommen. Im 20. Jahrhundert hat in Deutschland, Großbritannien und Frankreich eine Wiederbelebung leibnizscher Gedanken eingesetzt, so bei B. Russell, L. Couturat, E. Cassirer, E. Husserl, M. Heidegger. An der Universität Münster besteht eine Leibniz-Forschungsstelle, in Hannover (Niedersächsische Landesbibliothek, in der sich der größte Teil des handschriftlichen Nachlasses befindet) ein Leibniz-Archiv.
 
Ausgaben: Gesammelte Werke, herausgegeben von G. H. Pertz, 4 Bände (1843-47, Nachdruck 1966); Mathematische Schriften, herausgegeben von C. I. Gerhardt, 7 Bände (1849-63, Nachdruck 1971); Œuvres, herausgegeben von L. A. Foucher de Careil, 7 Bände (1-21861-75, Nachdruck 1969); Die philosophischen Schriften, herausgegeben von C. I. Gerhardt, 7 Bände (1875-90, Nachdruck 1978); Opuscules et fragments inédits, herausgegeben von L. Couturat (1903, Nachdruck 1966); The early mathematical manuscripts of Leibniz, herausgegeben von J. M. Child (1920); Sämtliche Schriften und Briefe, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften u. a., in 6 Reihen auf zahlreiche Bände berechnet (1923 folgende, teilweise Nachdruck 1970 folgende); Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, herausgegeben von E. Cassirer u. a., 2 Bände (31966); Philosophische Schriften, herausgegeben von H. H. Holz, 5 Bände (21985-86).
 
Literatur:
 
J. E. Hofmann: Die Entwicklungsgesch. der L.schen Mathematik während des Aufenthaltes in Paris (1949);
 G. H. R. Parkinson: Logic and reality in L.' metaphysics (Oxford 1965, Nachdr. New York 1985);
 N. Rescher: The philosophy of L. (Englewood Cliffs, N. J., 1967);
 N. Rescher: L. An introduction to his philosophy (Neuausg. Lanham, Md., 1986);
 Kurt Müller u. G. Krönert: Leben u. Werk v. G. W. L. Eine Chronik (1969);
 H. Ishiguro: L.' philosophy of logic and language (Ithaca, N. Y., 1972);
 H. Bos: Differentials, higher-order differentials and the derivation in the Leibnizian Calculus, in: Archive for history of exact sciences, Bd. 14 (Berlin 1975);
 G. W. L., in: Dictionary of scientific biography, hg. v. C. C. Gillispie u. a., Bd. 8 (Neuausg. New York 1981);
 H. Poser: G. W. L., in: Klassiker der Philosophie, hg. v. O. Höffe, Bd. 1 (1981);
 Kurt Müller: L.-Bibliogr. (21984);
 G. Zingari: L., Hegel u. der dt. Idealismus (a. d. Ital., 1993);
 E. C. Hirsch: Der berühmte Herr L. Eine Biographie (2000);
 A. Blank: Der log. Aufbau von L.' Metaphysik (2001).
 
Zeitschrift: Studia Leibnitiana (1969 ff.).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Leibniz und Wolff: Philosophieren im Geist der metaphysischen Tradition
 

Universal-Lexikon. 2012.