Akademik

Hinduismus
Brahmanismus

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Hin|du|is|mus [hɪndu'ɪsmʊs], der; -:
indische Volksreligion:
das Kastenwesen ist ein typisches Merkmal des Hinduismus.

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Hin|du|ịs|mus 〈m.; -; unz.〉 aus Vedismus u. Brahmanismus entstandene ind. Religionsform [<pers. Hindu; zu Hind „Indien“]

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Hin|du|ịs|mus , der; -:
indische Volksreligion.

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Hinduịsmus
 
der, -, im Westen gebildete Bezeichnung für die traditionellen religiösen und gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen der Inder. Der Hinduismus entstand aus der Verschmelzung der polytheistischen vedisch-brahmanischen Religion der arischen (indogermanischen) Einwanderer (zweite Hälfte des 2. Jahrtausends v. Chr.) mit den nichtarischen Religionen des Industals, des dravidischen Südindien u.a. und wurde durch die Glaubensformen von Neueinwanderern und Nachbarvölkern ständig beeinflusst und erweitert. Hinduismus ist primär eine sozioreligiöse Bezeichnung des Lebens innerhalb der Kasten, das von zahlreichen Religionen bestimmt wird.
 
Im Unterschied zu anderen Hochreligionen kennt der Hinduismus keinen Stifter, kein allgemein verbindliches Bekenntnis und mindestens theoretisch keine individuellen Bekehrungen. Die indische Eigenbezeichnung für den Hinduismus ist die »ewige Religion« (Sanskrit: »sanatana dharma«), die seit jeher bestand und immer wieder in neuen Formen von Heiligen, Sehern u. a., die zum Teil als Avataras (göttliche Inkarnationen) gelten, verkündet wurde. Wenn schon nicht die Religion der Induskulturen als eine Vorstufe des Hinduismus angesetzt wird, wird dessen Beginn auf die Upanishaden-Zeit (etwa 800 v. Chr.) datiert; grenzt man die Religion dieser Periode als Vedismus (vedische Religion) oder Brahmanismus ein, so wird als Anfangszeit des Hinduismus in seiner heutigen Form die zweite Hälfte des 1. Jahrtausends n. Chr. angegeben, weil er von da an durch Shankaras Philosophie des Advaita-Vedanta eine neue und maßgebliche Ausprägung erhielt. Die Hindus werden nicht durch eine gemeinsame dogmatische Struktur geeint, sondern können von außen betrachtet als Polytheisten, Monotheisten, Panentheisten oder Atheisten erscheinen; in allen diesen verschiedenen Glaubensformen aber bildet sich das eine kosmische Sein (Brahma) ab. Auch Kultus und Lebensform (z. B. Vegetarismus) sind mitunter individuell verschieden. Gemeinsam ist den Hindus die Anerkennung des Veda und der Glaube an die Wiedergeburt. Zur gesellschaftlichen Struktur gehört traditionell die von Geburt her vorgegebene unveränderbare Zugehörigkeit zu einer Kaste und damit der kollektive beziehungsweise Stammescharakter des Hinduismus, der zumindest vor der weltweiten Verbreitung des Hinduismus individuelle Konversionen unmöglich machte.
 
 Verbreitung
 
Auf dem indischen Subkontinent setzte sich der Hinduismus gegenüber dem bis um die Mitte des 1. Jahrtausends n. Chr. vorherrschenden Buddhismus durch, der in der Folge bis auf kleine Minderheiten in Nordwestindien (Ladakh) und im östlichen Himalaja (Bhutan, Sikkim, Arunachal Pradesh) aus Vorderindien verdrängt wurde. Im 12. Jahrhundert zur vorherrschenden Religion Indiens geworden, wurde der Hinduismus nun seinerseits in den ersten Jahrhunderten der islamischen Staatsgründungen in Indien durch den von Nordindien vordringenden Islam bedrängt. In Nepal wurde der Hinduismus seit dem 14. Jahrhundert durch die Herrscher staatlich gefördert und ist auch heute die Religion der Königsfamilie und Staatsreligion. - Außerhalb des indischen Subkontinents erfolgte Ausbreitung des Hinduismus in mehreren »Schüben«. Im 1.-6. Jahrhundert breitete sich der Hinduismus entlang der Handelsstraßen in Südasien (Sri Lanka) und einem großen Teil Südostasiens aus (besonders auf der Malaiischen Halbinsel und in Indonesien [Bali]). In der Zeit der britischen Herrschaft in Indien zogen zahlreiche Inder als Arbeitskräfte (Kontraktarbeiter) oder Händler in andere Teile des britischen Kolonialreiches (Afrika, Südamerika, Karibik, Ozeanien [Hindu]). Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind die »Ölstaaten« am Persischen Golf und die USA die Hauptziele der indischen Arbeitsmigration. In Kanada ließen sich viele der 1972 aus Uganda vertriebenen Inder nieder. Die hinduistische Gemeinschaft in Großbritannien geht v. a. auf die indische Einwanderung nach 1945 zurück (1995 Einweihung des größten Hindu-Tempels Europas in London). Nach der Erlangung der Unabhängigkeit Surinams 1975 zogen zahlreiche surinamesische Hindus aus Furcht vor politischer Diskriminierung in die Niederlande. - Der Eintritt des Hinduismus in seine missionarische Phase durch den Neohinduismus seit Ende des 19. Jahrhunderts (Ramakrishna, Vivekananda: Ramakrishna-Mission, Vedanta-Gesellschaften) hat in Westeuropa, den USA und seit 1990 auch in den ehemaligen kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas zahlreiche individuelle hinduistische Konversionen zur Folge gehabt. Dabei haben jedoch die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen und an den Neohinduismus beziehungsweise an Elemente der hinduistischen Lehre und Spiritualität anknüpfenden und auch außerhalb Indiens wirkenden Religionsgemeinschaften, religiös-politischen Bewegungen und geistigen Schulen (Ananda Marga, Bhagvan-Bewegung, Divine Light Mission, Hare-Krishna-Bewegung, Bewegung des Sai Baba, Transzendentale Meditation) der Religion selbst und ihrer Ausübung einen anderen Charakter gegeben.
 
 Lehre
 
Das religiös-soziale System des Hinduismus ist begleitet von der Anschauung, dass alle Lebewesen in dieser in ständigem Entstehen und Vergehen begriffenen Welt eine »Hierarchie« des Seins bilden, die bei den Pflanzen beginnt und bei den höchsten Göttern endet. Die Menschheit wiederum als das Mittelstück in dieser Hierarchie zerfällt in zahlreiche Klassen, als deren oberste die Hindukasten gelten. Die Kastenzugehörigkeit beruht nicht auf Zufall oder dem unerforschlichen Willen eines Gottes, sondern ist gemäß den Lehren vom Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt der individuellen Seele (Samsara) und von der Wirkung des Karmagesetzes durch die sittliche Weltordnung (Dharma) bedingt. Der ganze Kosmos wird beherrscht von der Vergeltungskausalität aller Taten (Karma), die jedem Wesen, das geboren wird, seinen Platz aufgrund seiner guten oder bösen Handlungen in einer vorausgegangenen Existenz anweist. Die Lehre von der Seelenwanderung wird somit zur Grundlage des Kastenwesens. Die Seelenwanderung hat keinen Anfang; sie findet ein Ende nur dann, wenn eine Seele, nachdem sie in zahllosen Existenzen in Tier- und Menschengestalt, höllischen und himmlischen Existenzweisen geläutert worden ist, durch Weltentsagung, göttliche Gnade oder selbst erworbene Erkenntnis die endgültige Erlösung von allen Formen weltlicher Bindung erreicht (Moksha). Diese ist ein unverlierbarer Bewusstseinszustand der Seligkeit (Nirvana), der von manchen Schulen als ein verklärtes individuelles Dasein, von anderen als ein Aufgehen des individuellen Selbst (Atman) in das unvergängliche Absolute, das Brahman, mit dem es ursprünglich identisch ist, aufgefasst wird. Die verschiedenen Wege zur Erlösung sind in der »Bhagavadgita« beschrieben (Bhakti).
 
 Götter
 
Das Pantheon ist ebenso umfangreich wie vielgestaltig. Verehrt werden die verschiedensten Dorfgottheiten, Könige und Heilige, Heroen, Geister und Dämonen. In den Mythologien der heiligen Schriften treten die Götter der vedischen Zeit, meist mit besonderen Attributen versehen, als Schirmherren von Naturelementen und -vorgängen sowie vielfältiger Lebenserscheinungen auf: Indra (Krieg, Regen), Surya (Sonne), Soma (für die halluzinogene Pflanze des Opfertranks; Mond), Vayu (Wind), Agni (Feuer), Varuna (Gewässer), Yama (Tod), Kama (Liebe), Kubera (Reichtum), Skanda (Krieg), Ganesha (Beseitigung von Hindernissen). Den obersten Rang nehmen der Weltschöpfer Brahma, der Welterhalter Vishnu und der Weltzerstörer Shiva mit ihren Frauen Sarasvati (Gelehrsamkeit), Lakshmi (Glück) und Shakti (Urenergie) ein. Die drei Gottheiten bilden die Hindutrinität (Trimurti), wobei die Verehrung Brahmas (Brahmanismus) jedoch zunehmend an Bedeutung verlor; er wird als Demiurg gedacht, der im Auftrag von Vishnu oder Shiva die Weltschöpfung ausführt. Vishnu, der als Narayana und als Krishna menschliche Gestalt annahm, und der unter dem phallischen Symbol des Lingam verehrte Shiva stehen seit langem im Mittelpunkt des Glaubens und Kultus. Für die Anhänger des Vishnuismus ist Vishnu, für den Shivaismus Shiva der einzige ewige Weltenherr, während alle anderen Götter der Seelenwanderung unterworfen sind und dem Höchsten als Gefolge dienen. Die Shaktas, Anhänger Shaktis (Shaktismus), sehen in der Weltenmutter Shakti (auch unter dem Namen Durga oder Kali) das höchste Weltprinzip. Die meisten Hindus sind aber keine Sektierer und verehren in henotheistischer Weise (Henotheismus) bald Vishnu, bald Shiva, bald Shakti als die einzige höchste Gottheit. In einer anderen Anschauung werden Brahma, Vishnu, Shiva als drei Gestalten des einen höchsten Wesens (Ishvara) betrachtet. Für die Vedantaphilosophen (Vedanta) gehören alle persönlichen Götter der Welt des Scheins an, in Wahrheit existiert nur das eine unpersönliche Absolute, der Allgeist (Brahma).
 
 Kosmologie
 
Der Hinduismus hat auch detaillierte mythologische und philosophische Vorstellungen über die Beschaffenheit des Kosmos entwickelt, die im Einzelnen oft abweichend, doch morphologisch eine gleichartig inspirierte Konzeption zeigen. Die Welt als solche ist ewig, erfährt aber einen zyklischen Wechsel von Entfaltung und Vernichtung. Dazwischen wird eine längere Periode der Ruhe angenommen, in der die Urmaterie (Prakriti), ein von der Gottheit verschiedenes Prinzip, in unentfaltetem Zustand verharrt. Ihre drei die gesamte Erscheinungswelt bestimmenden Konstituenten (Guna) sind »Güte« (Sattva), »Leidenschaft« (Rajas) und »Finsternis« (Tamas).
 
Wenn ein neuer »Weltentag« beginnt, vermischen sich die drei Konstituenten zu den fünf Elementen Äther, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Aus deren Kombination entwickelt sich das Weltei, in dem sich die Gottheit als Gott Brahman manifestiert, der dann die ganze Schöpfung mit ihren Göttern, Titanen, Menschen, Tieren, Pflanzen und Höllenwesen aus sich entlässt. Unter der Erde liegen die sieben Unterwelten (Patala), wo Schlangengeister (Naga) leben, und unter ihnen die Höllen. Im Zentrum des Universums liegt der Weltberg Meru, der Wohnsitz der Götter ist.
 
Eine jede Weltperiode (Kalpa) umfasst vier Weltzeitalter (Yugas), in denen sich die Religion, die Rechtschaffenheit und die Lebensumstände der Menschen zunehmend verschlechtern: Krita (goldenes Zeitalter), Treta, Dvapara und schließlich das Kali-Yuga, die Zeit des Verfalls. Am Ende des letzten Zeitalters wird die Welt durch einen großen Brand zerstört, und nach einer Periode der Ruhe beginnt der geschilderte Weltprozess von neuem.
 
 Kultus
 
Der Hinduismus kennt, verbunden mit der Verehrung der Götter, von Tieren (Kuh, Affe, Elefant, Schlange) und Naturelementen (u. a. Steine und Pflanzen, z. B. Lotos), eine Vielfalt von im Haus (Rites de Passage) und im Tempel verrichteten Kulten. In den Riten bestehen schon seit dem ältesten Hinduismus große lokale sowie an Familien- und Kastentraditionen gebundene Unterschiede. Zu Ehren der Götter werden Feste veranstaltet: die »Nacht des Shiva« im Februar, Holi, eine Art Karneval, zum Frühlingsanfang, im Herbst Navaratri, das Fest der Tagundnachtgleiche, das Lichterfest Divali. Wie reiche Prozessionen mit Götterbildern und -statuen bilden auch Wallfahrten einen wesentlichen Bestandteil hinduistischen Religiosität. Besucht werden z. B. Mathura sowie Varanasi (Benares), wo ein Bad in dem als heilig verehrten Ganges von der Sünde reinigen soll. Während manche Kulte weltzugewandt sind, auch das Erotische einbeziehen und eine Rolle im religiösen Leben vieler Dörfer spielen (z. B. Shaktismus), tragen andere einen asketischen Charakter (Mönchsorden, Einsiedler) und legen das Hauptgewicht auf eine durch yogische Übungen (Yoga) angestrebte Läuterung.
 
Außer den angeführten religiösen, sozialen, mythologischen und kulturellen Vorstellungen sind für den orthodoxen Hinduismus auch noch bestimmte Bräuche charakteristisch, so die Verbote der Wiederverheiratung von Witwen, selbst Kinderwitwen, der Tötung von Kühen u. a. Unter islamischem Einfluss entstanden seit dem 15. Jahrhundert Reformbewegungen, die die bildlose Verehrung eines Gottes lehrten (Kabir, Sikhs). Diese haben sich aber gegenüber dem Gesamthinduismus ebenso wenig durchgesetzt wie die ähnlichen Ziele verfolgenden Religionsgemeinschaften des Neohinduismus im 19. und 20. Jahrhundert (Aryasamaj, Brahmasamaj, Ramakrishna-Mission).
 
In Indien erfolgte zeitgleich mit einer Periode großer Offenheit für am Vorbild des Westens orientierte Reformen im Rahmen des Neohinduismus die Rückbesinnung auf die traditionellen Werte (z. B. angeregt durch Svami Vivekanada, R. Tagore, Sri Aurobindo).
 
Literatur:
 
W. Kirfel: Die Kosmographie der Inder. Nach den Quellen dargestellt (1920, Nachdr. 1967);
 H. von Glasenapp: Der H. (1922, Nachdr. 1978);
 H. von Glasenapp: Hl. Stätten Indiens (1928);
 H. von Glasenapp: Religiöse Reformbewegungen im heutigen Indien (1928);
 H. von Glasenapp: Die Religion Indiens (21955);
 E. Frauwallner: Gesch. der ind. Philosophie, 2 Bde. (Salzburg 1953-56);
 J. Gonda: Die Religionen Indiens, Bd. 1 u. 2 (1960-63);
 L. Alsdorf: Beitr. zur Gesch. von Vegetarismus u. Rinderverehrung in Indien (1961);
 K. Klostermaier: H. (1965);
 T. J. Hopkins: The Hindu religious tradition (Encino, Calif., 1971);
 M. Biardeau: L'hindouisme. Anthropologie d'une civilisation (Neuausg. Paris 1981);
 J. L. Brockington: The sacred thread. Hinduism in its continuity and diversity (Edinburgh 1981);
 B. Walker: Hindu world. An encyclopedic survey of Hinduism, 2 Bde. (Neuausg. New Delhi 1983);
 L. Renou: Der H. (a. d. Frz., Neuausg. 1985);
 R. C. Zaehner: Der H. Seine Gesch. u. seine Lehre (a. d. Engl., Neuausg. 1986);
 H. Zimmer: Ind. Mythen u. Symbole (a. d. Engl., 31986);
 A. Schweitzer: Die Weltanschauung der ind. Denker (Neuausg. 1987);
 H. von Stietencron: H., in: Christentum u. Weltreligionen, bearb. v. H. Küng u. a., Bd. 2 (Neuausg. 1987);
 D. Kinsley: Ind. Göttinnen. Weibl. Gottheiten im H. (a. d. Amerikan., 1990);
 N. Gutschow u. A. Michaels: Benares. Tempel u. religiöses Leben in der hl. Stadt der Hindus (1993);
 U. Schneider: Einf. in den H. (21993);
 H.-P. Hasenfratz: Der ind. Weg. Die Spiritualität eines Kontinents entdecken (1994);
 H. G. Pöhlmann: Begegnungen mit dem H. (1995);
 K. Meisig: Shivas Tanz. Der H. (1996);
 A. Michaels: Der H. Gesch. u. Gegenwart (1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Buddha: Der Erleuchtete
 
Brahma, Vishnu, Shiva: Die Götterwelt der Hindus
 
Hinduismus: Samsara und Erlösungsstreben
 
Hindutempel: Brücke zwischen Göttern und Menschen
 
indische religiöse Feste
 

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Hin|du|ịs|mus, der; -: indische Volksreligion.

Universal-Lexikon. 2012.