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Selbstbestimmungsrecht
Sẹlbst|be|stim|mungs|recht 〈n. 11; unz.〉 Recht auf Selbstbestimmung ● \Selbstbestimmungsrecht der Völker Recht von Völkern od. Völkergruppen, über ihre Zugehörigkeit zu einem Staat selbst zu bestimmen; Anspruch eines Volkes auf einen eigenen Staat

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Sẹlbst|be|stim|mungs|recht, das:
a) (Rechtsspr.) Recht des bzw. der Einzelnen auf Selbstbestimmung (a);
b) (Völkerrecht) Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung (c).

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Selbstbestimmungsrecht,
 
das Recht des Einzelnen oder von Gruppen, die eigenen Angelegenheiten frei und eigenverantwortlich zu gestalten.
 
 Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen
 
Die Idee des Selbstbestimmungsrechts nahm auf innerstaatlicher wie auf internationaler Ebene zuerst in der Forderung nach religiös-individueller Selbstbestimmung Gestalt an. Sie fand besonders deutlicher Ausdruck im Kalvinismus und im englischen Protestantismus (Puritanismus). Auf dem europäischen Kontinent zeigten sich erste Anzeichen in dem Ringen um die Gleichberechtigung der Konfessionen nach der Reformation. Der Grundsatz »cuius regio, eius religio«, der im Westfälischen Frieden (1648) bestätigt wurde, garantierte nur den Landesherren, nicht aber ihren Untertanen, das Selbstbestimmungsrecht und die Religionsfreiheit. Trotzdem profitierten auch die Untertanen mittelbar von dieser Errungenschaft; denn ihnen wurde das Recht der Auswanderung für den Fall zugestanden, dass sie die Konfession des Landesherrn nicht annehmen wollten. So gehören Ausreise- und Religionsfreiheit zu den am frühesten verbürgten Menschenrechten. Auf dieser Grundlage vollzog sich auch die Auswanderung englischer Puritaner nach Nordamerika, wo das individuelle, religiöse Selbstbestimmungsrecht in die Organisation des politischen Gemeinwesens einfloss.
 
Neuen und entscheidenden Auftrieb erfuhr die Selbstbestimmungsidee durch die Philosophie der Aufklärung im 18. Jahrhundert, die das Schlagwort prägte »Bestimme dich aus dir selbst«. Obwohl die Aufforderung mit ethischen Postulaten verknüpft war, die sich an den Einzelnen richteten, hatte sie dennoch auch einen politischen Aspekt; denn aus ihr ergab sich zwangsläufig die an den Staat gerichtete Forderung, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen - unter Beachtung der durch das Gemeinwohl gesetzten Schranken - nicht nur zu dulden, sondern auch zu garantieren.
 
In diesem Sinne garantiert Art. 2 Absatz 1 GG das Recht eines jeden Menschen »auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt«. Mithilfe dieser Formel versucht das GG, wie jede andere freiheitlich-rechtsstaatliche Verfassung, die Spannung zwischen individueller Autonomie und äußeren Bindungen zu lösen. Das Ringen um diese Problemlösung steht aber schon seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr unter dem Zeichen eines »individuellen Selbstbestimmungsrechts«, sondern unter demjenigen des Persönlichkeitsrechts. Erst in jüngster Zeit ist der Ausdruck »Selbstbestimmungsrecht« erneut auch im Bereich der individuellen Grundrechte verwendet worden, und zwar im Begriff des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung.
 
 Das Selbstbestimmungsrecht der Völker
 
Auf internationaler Ebene tritt die Selbstbestimmungsidee in der Form des »Selbstbestimmungsrechts der Völker« in Erscheinung. Der Name lässt erkennen, dass in diesem Zusammenhang die Selbstbestimmungsidee nicht auf den Einzelnen, sondern auf Gruppen von Menschen angewendet wird. Trotzdem ist die Idee der individuellen Selbstbestimmung nicht ohne Belang für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Der Übergang vom Einzelrecht zum Gruppenrecht zeigte sich bereits in dem Ringen um die Religionsfreiheit. Die eigentliche Geschichte des Selbstbestimmungsrechts konnte jedoch erst nach der Herausbildung des politischen Volksbegriffs beginnen.
 
Der politische Volksbegriff entstand im 19. Jahrhundert. Die mittelalterlichen Herrschaftsverbände waren so organisiert, dass das Volk darin als politische Größe nicht erschien. In der Neuzeit trat der moderne Staat zunächst in der Form der absoluten Monarchie auf, in der das Untertanenverhältnis im Vordergrund stand. Die Monarchen erwarben Gebietsteile ohne Rücksicht auf die Nationalität der darin lebenden Menschen. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts begannen sich die Zuordnungen zu verschieben. Das Untertanenverhältnis wurde vom Staatsangehörigkeitsverhältnis verdrängt. Nach der Revolution von 1848 setzte sich der politische Volksbegriff durch, als dessen erster Theoretiker der Italiener Pasquale Stanislao Mancini (* 1817, ✝ 1888) gilt (»Die Nationalität als Grundlage des Völkerrechts«, 1851 gehaltene Vorlesung an der Universität Turin). Dem danach entwickelten »Nationalitätsprinzip« gab der schweizerische Staatsrechtler J. C. Bluntschli eine präzise Form: »Jede Nation ein Staat. Jeder Staat ein nationales Wesen.«
 
Von Anfang an war klar, dass sich die Stoßrichtung des Nationalitätsprinzips v. a. gegen die Vielvölkerstaaten wandte. Schon deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der erste Theoretiker des Selbstbestimmungsrechts, K. Renner, in dem Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn wirkte. Sein Buch über den »Kampf der österreichischen Nationen um ihren Staat« (1908 unter dem Pseudonym Rudolf Springer erschienen) trug in der 2. Auflage (1918) den Titel »Das Selbstbestimmungsrecht der Völker«. Ein weiterer früher Theoretiker des Selbstbestimmungsrechts der Völker war der Österreicher O. Bauer. Ihre Schriften veranlassten die russischen Sozialisten, den jungen Stalin 1913 nach Wien zu senden, um die Selbstbestimmungsfrage zu studieren. Daraus entstand Stalins Werk »Marxismus und die nationale Frage«.
 
Auf die internationale Ebene gelangte die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker aber erst durch den amerikanischen Präsidenten W. Wilson, wesentlich befördert durch seine Friedensbotschaft vom 22. 1. 1918 und seine Kongressbotschaft vom 11. 2. 1918, in der er erklärte: »Das Selbstbestimmungsrecht ist nicht eine bloße Phrase, es ist ein gebieterischer Grundsatz des Handelns, den die Staatsmänner künftig nur auf ihre eigene Gefahr missachten werden.«
 
In den Friedensschlüssen nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Selbstbestimmungsrecht jedoch keineswegs ausnahmslos verwirklicht. Denjenigen Nationalitäten, die zu den Siegern gezählt wurden, gestatteten die Siegermächte die Gründung von (Pseudo-)Nationalstaaten unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht. Da diese Staaten aber gleichzeitig die historischen Grenzen der alten Vielvölkerstaaten für sich beanspruchten, wurden sie selbst zu Vielvölkerstaaten, die denjenigen Nationalitäten, die nicht zu den Staatsnationen gehörten, das Selbstbestimmungsrecht verweigerten. Nur in einigen Gebieten (Oberschlesien, Masuren, Kärnten) wurden 1920 und 1921 Abstimmungen aufgrund der Friedensverträge von Versailles und Saint-Germain-en-Laye durchgeführt. Die daran anschließende Grenzziehung durch die Siegermächte entsprach allerdings nicht ganz dem Ergebnis dieser Abstimmungen.
 
 Das Erbe der Völkerbundsära
 
Der im 19. Jahrhundert entstandene Nationalismus fand in den Nachfolgestaaten der österreich-ungarischen Monarchie gerade deshalb einen guten Nährboden, weil diese Staaten (v. a. Jugoslawien, Tschechoslowakei, Polen) die Probleme eines Vielvölkerstaates auf kleinerem Raum unter ungünstigeren wirtschaftlichen, sozialen und politischen Grundbedingungen zu lösen hatten. In allen diesen Staaten standen neben einer »Staatsnation« weitere Volksgruppen, die infolge der Friedensverträge plötzlich zu Minderheiten geworden waren. Der Versuch des Völkerbunds, gestützt auf entsprechende Bestimmungen in den Friedensverträgen sowie eine Reihe von Spezialverträgen, welche die Hauptsiegermächte des Ersten Weltkriegs mit den Nachfolgestaaten geschlossen hatten, ein wirksames Minderheitenschutzsystem zu errichten, scheiterte. Obwohl eine eigens dafür eingerichtete Abteilung des Völkerbunds eine große Zahl von Beschwerden (Petitionen) behandelte und obwohl auch der Ständige Internationale Gerichtshof wiederholt mit Minderheitenfragen beschäftigt war und mehrere Entscheidungen zugunsten geschützter Minderheiten (in Polen, Rumänien und Albanien) erließ, konnte der Völkerbund nicht erreichen, dass die bestehenden Minderheitenschutzverträge loyal erfüllt wurden. Die Nachfolgestaaten, denen die Minderheitenschutzbestimmungen von den Hauptsiegermächten des Ersten Weltkriegs aufgezwungen worden waren, betrachteten diese Bestimmungen als Beschränkungen ihrer Souveränität und bemühten sich um die Assimilation der Minderheiten.
 
Nur im Fall der Ålandinseln gelang es, das Selbstbestimmungsrecht der Völker bereits in der Völkerbundsära wirksam ins Spiel zu bringen.
 
 Das Selbstbestimmungsrecht im geltenden Völkerrecht
 
Im Gegensatz zur Völkerbundssatzung erwähnt die Satzung (Charta) der UNO das Selbstbestimmungsrecht der Völker ausdrücklich, und zwar in Art. 1 Absatz 2 und in Art. 55. An beiden Stellen wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker als eine Grundlage der Beziehungen zwischen den Staaten bezeichnet. Die anfängliche Unsicherheit bezüglich der juristischen Bedeutung dieser Satzungsbestimmungen (der französische Text verwendet ausdrücklich den Ausdruck »Recht«, während der englische sich mit dem Wort »Prinzip« begnügt) ist überwunden. Durch die langjährige Praxis der Vereinten Nationen ist Klarheit in dem Sinne geschaffen worden, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker eine echte Norm des Völkerrechts ist. Die Völkerrechtslehre gesteht ihm die Rechtsqualität einer zwingenden Norm (ius cogens) zu, d. h. einer Rechtsnorm, von der auch Verträge unter keinen Umständen abweichen dürfen.
 
Eine starke Bekräftigung erhielt das Selbstbestimmungsrecht der Völker durch die beiden internationalen Menschenrechtspakte von 1966 (Menschenrechte). Sie erklären in ihrem Art. 1 übereinstimmend: »Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung.« In den Durchführungsabkommen zu diesen Menschenrechtspakten wird das Selbstbestimmungsrecht definiert als Recht der Völker, »frei über ihren politischen Status zu bestimmen und frei ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung zu verfolgen«.
 
Die »Prinzipienerklärung« der UNO-Generalversammlung vom 24. 10. 1970 hat diese Definition noch verfeinert. Danach haben kraft der Selbstbestimmung »alle Völker das Recht, ohne Eingriff von außen über ihren politischen Status zu entscheiden und ihre wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung frei zu verfolgen, und jeder Staat ist verpflichtet, dieses Recht in Übereinstimmung mit den Satzungsvorschriften zu achten«. Ferner heißt es in der Erklärung: »Die Errichtung eines souveränen und unabhängigen Staates, die freie Vereinigung oder Verschmelzung mit einem unabhängigen Staat oder der Übergang zu irgendeinem anderen, vom Volk frei bestimmten politische Status stellen Verwirklichungen des Selbstbestimmungsrechts durch das betreffende Volk dar. Jeder Staat ist verpflichtet, von Gewaltmaßnahmen Abstand zu nehmen, die vorerwähnte Völker daran hindern, den hier in Rede stehenden Grundsatz ihres Rechts auf Selbstbestimmung, Freiheit und Unabhängigkeit zu verwirklichen. Solche Völker sind, wenn sie dergleichen Gewaltmaßnahmen in Verfolgung der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts Widerstand leisten, berechtigt, in Übereinstimmung mit den Ziel- und Grundbestimmungen der Satzung Unterstützung zu erbitten und zu erhalten.«
 
 Konsequenzen des Selbstbestimmungsrechts
 
Schon 1921 prophezeite der amerikanische Politiker R. Lansing, die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts werde Ströme von Blut fließen lassen. Auch später haben die Kritiker des Selbstbestimmungsrechts der Völker stets vor der Explosivkraft dieser Völkerrechtsnorm gewarnt. Dem ist aber zu entgegnen, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker seiner Definition nach nur ein Formalprinzip ist, das Völkern und Volksgruppen das Recht gibt, in bestimmten Situationen über ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staatsverband zu entscheiden, eine Entscheidung, die auch positiv ausfallen kann: Die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts muss also nicht zwangsläufig zur Zerstörung eines Vielvölkerstaates führen; sie kann auch den Verbleib eines Volkes oder einer Volksgruppe in einem Vielvölkerstaat rechtlich fixieren. Allerdings besteht eine solche Hoffnung nur dort, wo die Existenz des Volkes beziehungsweise der Volksgruppe, ihre wirtschaftliche Sicherung und die Erhaltung ihrer Sprache und Kultur mit oder ohne völkerrechtliche Absicherung durch die Verfassung und die Gesetze des Gesamtstaates gewährleistet sind. Dies kann durch die Gewährung einer Autonomie oder durch föderalen Aufbau des Staatsgebiets entsprechend den Siedlungsgebieten seiner Völker und Volksgruppen erreicht werden.
 
Das Selbstbestimmungsrecht der Völker darf daher nicht einfach mit dem Recht auf Sezession gleichgesetzt werden. Das bedeutet auch, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker (das nach heute geltendem Völkerrecht auch Volksgruppen zusteht, sodass jeder Streit über die Berechtigung einer Bevölkerungsgruppe, die Bezeichnung »Volk« für sich in Anspruch zu nehmen, sinnlos ist) nicht wie ein ständiges Damoklesschwert über jedem souveränen Staat schwebt.
 
Das juristische Hauptproblem liegt in der Frage beschlossen, in welcher Situation die Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu einem Rechtsanspruch eines Volkes oder einer Volksgruppe auf Sezession von einem Gesamtstaatsverband, dem dieses Volk oder diese Volksgruppe bisher angehört hat, führen kann, und wie sich die Staatengemeinschaft im Konflikt zwischen Gesamtstaatsverband und Volk beziehungsweise Volksgruppe zu verhalten hat. Die »Prinzipienerklärung« vom 24. 10. 1970, die zwar keinen Rechtsnormcharakter besitzt, aber von der Völkerrechtslehre als Inhaltsbestimmung des Selbstbestimmungsrechts der Völker anerkannt wird, sagt hierzu: »Nichts in den vorhergehenden Absätzen darf dahin ausgelegt werden, als solle dadurch irgendeine Handlung gerechtfertigt oder begünstigt werden, welche die Unversehrtheit des Gebiets oder die politische Einheit souveräner oder unabhängiger Staaten gänzlich oder teilweise zerstören oder antasten würde, wenn diese Staaten sich dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker entsprechend verhalten und dementsprechend über eine Regierung verfügen, die das gesamte zum Gebiet gehörige Volk ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens oder der Hautfarbe vertritt.« Das bedeutet: Solange in einem Vielvölkerstaat das Selbstbestimmungsrecht der Völker beachtet wird und das Verlangen eines Volkes oder einer Volksgruppe nach Autonomie oder Selbstregierung im Rahmen eines Föderalismus oder Regionalismus nicht gewaltsam unterdrückt oder eine formell gewährte Autonomie oder Föderalismusstruktur auf subtile Weise von der Zentralregierung unterlaufen wird, kann das Selbstbestimmungsrecht nicht in ein Recht auf Sezession münden. Vielmehr ist das Recht auf Sezession eine Konsequenz der Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts.
 
Zu beachten ist jedoch, dass das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes oder einer Volksgruppe nicht durch die Gewährung eines Autonomiestatus oder einer föderalen Struktur ein für alle Mal konsumiert werden kann. Diejenige Situation, in der nach geltendem Völkerrecht die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts auch zur Sezession vom Gesamtstaat berechtigt, kann jederzeit durch repressive Maßnahmen des Gesamtstaates herbeigeführt werden. In einer solchen Situation ist es dem Gesamtstaat nicht erlaubt, auf den »Verbrauch« des Selbstbestimmungsrechts durch frühere verfassungsrechtliche Akte hinzuweisen.
 
Das größte, in der Praxis noch immer schwer zu lösende Problem bei der Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker ist, trotz aller auch in dieser Frage erreichten theoretischen Klarheit, das Verhältnis zwischen Selbstbestimmungsrecht und Gewaltverbot. Auch das Gewaltverbot, das in Art. 2 Ziffer 4 der Charta der UNO ausdrücklich bekräftigt wird, ist zwingendes Recht, Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts und ein Eckpfeiler der Völkerrechtsordnung. Art. 2 Ziffer 4 der UN-Charta erfasst jede Form der zwischenstaatlichen Gewalt, gilt universell und kennt nur zwei Ausnahmen: Zwangsmaßnahmen des Sicherheitsrates (Art. 39 ff. der UN-Charta) und das individuelle beziehungsweise kollektive Selbstverteidigungsrecht (Art. 51). Das Selbstverteidigungsrecht setzt einen bewaffneten Angriff voraus; es ist das »naturgegebene« Notwehrrecht des souveränen Staates. Die Resolution der UN-Generalversammlung Nummer 3314 (XXIX) vom 14. 12. 1974 definiert den Begriff »Angriff« und regelt in Art. 7: »Keine Bestimmung dieser Definition. .. kann in irgendeiner Weise das aus der Charta hergeleitete Recht auf Selbstbestimmungsrecht, Freiheit und Unabhängigkeit von Völkern beeinträchtigen, denen dieses Recht gewaltsam entzogen wurde und auf die in der Erklärung über die Grundsätze des Völkerrechts für freundschaftliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten gemäß der Charta der Vereinten Nationen Bezug genommen wird, insbesondere Völker unter Kolonial- und Rassenherrschaft oder anderen Formen der Fremdherrschaft; auch nicht das Recht dieser Völker, zu diesem Zweck zu kämpfen und zu versuchen, Unterstützung zu erhalten, im Einklang mit den Grundsätzen der Charta in Übereinstimmung mit der oben erwähnten Erklärung.« Dieser Regelung ist die Rechtfertigung des »Befreiungskampfes« und seiner Unterstützung durch dritte Staaten entnommen worden, die zu einer empfindlichen Relativierung des Gewaltverbots und des ebenfalls im Völkerrecht fest verankerten Interventionsverbots (Intervention) geführt hätte. Die Gegenmeinung betont, dass ein Volk oder eine Volksgruppe im gerechten Befreiungskampf nur »im Einklang mit den Grundsätzen der Charta« von außen Unterstützung erlangen kann, d. h., der UN-Sicherheitsrat behält sein Gewaltanwendungsmonopol; das Veto einer Großmacht (Art. 27 Absatz 3 der UN-Charta) gegen die gewaltsame Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts wäre dann zu respektieren.
 
Das Selbstbestimmungsrecht beschränkt sich nicht auf klassische Entkolonialisierung; heute werden nur noch wenig bedeutsame Territorien als Gebiete ohne volle Selbstverwaltung geführt und bleiben in der Diskussion der UN-Gremien. Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands wird als ein weiterer Anwendungsfall angesehen. Entsprechendes gilt für den Zerfall der Sowjetunion, der ČSSR und Jugoslawiens.
 
Literatur:
 
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 W. Heidelmeyer: Das S. der Völker (1973);
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 A. Rigo Sureda: The evolution of the right of self-determination (Leiden 1973);
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 D. Thürer: Das S. der Völker (Bern 1976);
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 H. Gros Espiell: The right to self-determination (New York 1980);
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 M. Pomerance: Self-determination in law and practice (Den Haag 1982);
 F. Guber: Das S. in der Theorie Karl Renners (1986);
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Nationalism, self-determination and political geography, hg. v. R. J. Johnston (London 1988);
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 S. Baer: Der Zerfall Jugoslawiens im Lichte des Völkerrechts (1995);
 
Grenzen des S. Die Neuordnung Europas u. das S. der Völker, hg. v. E. Reiter (Graz 1996);
 Reinhard Müller: Der »2+4«-Vertrag u. das S. der Völker (1997);
 
S. der Völker - Herausforderung der Staatenwelt, hg. v. H.-J. Heintze (1997).

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Sẹlbst|be|stim|mungs|recht, das <o. Pl.>: a) (Rechtsspr.) Recht des Einzelnen auf ↑Selbstbestimmung (a): Die Hilfeleistungspflicht des Arztes hat ... ihre Grenzen im S. des Patienten (Noack, Prozesse 223); b) (Völkerrecht) Recht eines Volkes auf ↑Selbstbestimmung (c): das S. der Völker, Nationen.

Universal-Lexikon. 2012.