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Gemeinwohl
Allgemeinwohl

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Ge|mein|wohl [gə'mai̮nvo:l], das; -[e]s:
das Wohl[ergehen] eines jeden Einzelnen innerhalb einer Gemeinschaft:
die neue Einrichtung dient dem Gemeinwohl.

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Ge|mein|wohl 〈n. 11; unz.〉 Nutzen für die Allgemeinheit, der Allgemeinheit ● sich um das \Gemeinwohl bemühen; für das \Gemeinwohl sorgen; dem \Gemeinwohl dienen

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Ge|mein|wohl, das [ von engl. commonwealth]:
das Wohl[ergehen] aller Mitglieder einer Gemeinschaft:
dem G. dienen;
im Dienst des -s der Menschheit.

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Gemeinwohl,
 
vielschichtiger und vieldeutiger Begriff der Staats- und Sozialphilosophie, an dem sich jede Politik - bewusst oder unbewusst, zustimmend oder ablehnend - ausrichtet, tritt oft auch unter anderen Bezeichnung auf: »gemeines Bestes«, »Wohl der Allgemeinheit«, »Gemeinnutz«, »Staatsinteresse«, »öffentliches Interesse«. Gemeinwohl ist eine weit in die Geschichte der Theorien über das menschliche Zusammenleben zurückreichende, in ihrem konkreten Inhalt oft umstrittene Denkfigur. Darüber hinaus ist Gemeinwohl ein unbestimmter Rechtsbegriff, dessen Bedeutung für den konkreten Anwendungsbereich (Rechtsfall) die staatliche Gesetzgebung und die Rechtsprechung ermitteln und festlegen.
 
 Definitionen und ihre Grundlagen
 
Der philosophische Ansatz des Begriffs Gemeinwohl ist in der Auffassung begründet, dass der Mensch als gesellschaftliches Wesen nur im Zusammenwirken mit anderen seine Lebenserfüllung erreichen und seine Wertvorstellungen verwirklichen kann. Die Feststellung gemeinsamer Ziele und Werte formt die Gruppen und Individuen einer Gesellschaft zu einer Gemeinschaft, die in der Feststellung eines Gemeinwohls als Maßstab ihres Handelns ihre Identität, ihre innere Begründung und ihre Rechtfertigung als soziales Gebilde, als politische Gemeinschaft findet. Mit der Hinwendung der Menschen - im Rahmen von Stämmen, Völkern oder Staaten - auf gemeinsame Ziele materieller, kulturell-religiöser oder politischer Art zeigten sich schon früh Vorstellungen von Gemeinwohl; ihr konkreter Gehalt ist nach Zeit und Art der Gemeinschaft, aber auch innerhalb eines Zeitraums und einer bestimmten Gemeinschaft nach Art der Menschen und Gruppen verschieden. Gemeinwohl schließt das Vorhandensein von Partikularinteressen grundsätzlich nicht aus, zeigt aber die Richtung an, in der sich die Sonderinteressen des Einzelnen mit dem geringsten Schaden für das Ganze bewegen sollten. Die Abhängigkeit des Gemeinwohlgedankens vom Vorhandensein eines Wertesystems bedingt seine enge Verknüpfung mit weltanschaulichen Elementen. So sieht der Liberalismus in der Realisierung der individuellen Freiheit die beste Ausprägung des Gemeinwohls. In seiner klassischen Form verstand er unter Gemeinwohl »das größte Glück der größten Zahl«, d. h. das größtmögliche Glück einer größtmöglichen Zahl von Menschen. Der Sozialismus stellt die solidarische Verwirklichung der sozialen Gerechtigkeit durch Reform oder Revolution in das Zentrum seiner Gemeinwohlvorstellungen. Der Marxismus als eine spezifische Form des Sozialismus sieht das Gemeinwohl nur im Rahmen des historisch zwingend gebotenen Klassenkampfes, im Sieg der proletarischen Revolution über die kapitalistische Gesellschaftsordnung, in der Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der allmählichen Überführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung in die klassenlose Gesellschaft. Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland wurde der Begriff des Gemeinwohls im rassistisch-nationalistischen Sinne missbraucht.
 
Nach der katholischen Soziallehre ist das Gemeinwohl ein über die Interessengegensätze und Sozialkonflikte hinausgehendes notwendiges Gut der Gemeinschaft (»bonum commune«). Gemeinwohl ist jedoch kein Wert um seiner selbst willen, sondern ein »Dienstwert«, der die gesellschaftlichen Vorbedingungen schafft für die von den einzelnen Menschen und Untergruppen der Gesellschaft verwirklichten Werte. Pluralistisch orientierte Auffassungen von Gemeinschaft sehen das Kernanliegen des Gemeinwohls besonders in dem gerechten Ausgleich der Interessen in der Gesellschaft, in der Suche nach der breitestmöglichen Basis rechts- und sozialethischer Vorstellungen, in den Bemühungen um den Konsens in den Grundwerten der Gesellschaft.
 
 Konkretisierung des Gemeinwohls im staatlichen Bereich
 
Die Verwirklichung des Gemeinwohls gilt allgemein als die höchste Aufgabe staatlichen und staatsbezogenen Handelns; im Sinne dieser Prämisse ist der Grad der Umsetzung von Gemeinwohlvorstellungen der entscheidende Maßstab für die Legitimation von Politik. In einem staatlichen Gemeinwesen zielt das Gemeinwohl auf die bestmögliche Verfasstheit des gesellschaftlichen Lebens, um die Voraussetzungen für die bestmögliche Lebensentfaltung der Staatsbürger zu gewährleisten. Die dazu notwendigen Staatsstrukturen sind meist in geschriebenen Verfassungen niedergelegt.
 
Gemeinwohl ist nicht die Summe aller einzelnen Bürgerinteressen, sondern eine eigene politische Größe; sie bietet Leitlinien, um bei Interessenskollisionen Grundregeln für die Lösung von Konflikten zu finden. Gemeinwohl ist dabei eine Rechtfertigung und Begründung von allgemeinen Aufgaben, individuellen Pflichten, Kompetenzzuweisungen, Rechtsbeschneidungen oder Rechtserweiterungen. Die inhaltliche Bestimmung von Gemeinwohl hängt ab von den Wertvorstellungen des Staates und der ihn tragenden Kräfte, den ideologischen Vorgaben der Gesellschaft und der Machtverteilung im Staat, d. h. der Form der Herrschaft.
 
Von den Wertvorstellungen des Staates her gesehen, gibt es zwei Konzeptionen von Gemeinwohl: die normativ-apriorischen Begriffe von Gemeinwohl und die aposteriorischen. Erstere gehen von der Existenz eines im Voraus definierten, objektiv gegebenen, subjektunabhängigen Gemeinwohls aus, das nicht an die Zustimmung der Gemeinschaftsmitglieder gebunden ist, dem sie sich aber unterzuordnen haben. Zu diesen apriorischen, d. h. von vornherein gegebenen Auffassungen zählen besonders solche, die ethisch-moralisch, religiös oder weltanschaulich ausgerichtet sind. Die aposteriorischen Vorstellungen von Gemeinwohl, d. h. diejenigen, die sich im Nachhinein gebildet haben, sind stärker dynamisch, entwicklungsbezogen, mehr an den Wünschen des Einzelnen ausgerichtet, sie zielen auf das Machbare und empirisch Feststellbare.
 
Die normativ-apriorischen Lehren vom Gemeinwohl gehen auf das Naturrechtsdenken der Antike zurück. Nach Platon und Aristoteles repräsentiert der Staat ein »präexistentes«, d. h. von vornherein vorhandenes Gemeinwohl; Ziel des Staates ist es, dem Glück des Bürgers zu dienen. Beide sehen in der griechischen Polis ihrer Zeit jene Gemeinschaft, durch die und in der das Gemeinwohl verwirklicht werden kann. Die Stoa definierte das Gemeinwohl nicht mehr auf ein bestimmtes politisches Gemeinwesen bezogen, sondern aus der Eingebundenheit des Menschen in die natürliche Ordnung aller Dinge, die als das Gute aufgefasst wurde. Thomas von Aquino fügte im Mittelalter dem Staatszweck des tugendhaften Lebens die Sicherung des inneren und äußeren Friedens, des materiellen Wohlstands und die Sicherung des dem Menschen gesetzten göttlichen Heilsplanes als Element des Gemeinwohls hinzu. Im Zuge der Entwicklung der industriellen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert knüpfte die katholische Kirche in ihren Sozialenzykliken an diese Gedankengänge an. - In der Zeit der Aufklärung hatte J.-J. Rousseau das der Gesellschaft vorgegebene Gemeinwohl in einem »allgemeinen Willen«, in der Volonté générale, konkretisiert. Im Sinne dieses Gemeinwohls verzichtet der mündige Bürger in einem »Gesellschaftsvertrag« (französisch contrat social) auf seine naturgegebenen Rechte; ideell gesehen, stellt Rousseau das Gemeinwohl auf die Grundlage einer vertraglichen Vereinbarung freier Menschen. Die vertragstheoretischen Gedankengänge Rousseaus förderten seit dem 19. Jahrhundert die demokratietheoretischen Ansätze der Gemeinwohlvorstellungen, wie sie v. a. in der Idee der direkten Demokratie oder auch der Basisdemokratie zum Ausdruck kommen. Die apriorische Fundierung des Gemeinwohls stellte die Gemeinwohlauffassungen v. a. im heraufziehenden Industriezeitalter und seiner Massengesellschaft - oft in den Rahmen einer umfassenden, alles erklärenden Ideologie, die von sich behauptet, den richtigen Weg der Geschichte, den Nutzen des Volkes, den Zweck des Staates und seiner Organe zu kennen; sie bildete im 20. Jahrhundert die Basis zahlreicher Diktaturen; der mündige Bürger bleibt hier von der Formulierung des Staatszwecks ausgeschlossen, Opposition und Widerstand gelten dabei als Verstoß gegen das Gemeinwohl.
 
Moderne Vertreter der Politikwissenschaft, die in Anknüpfung an antike Traditionen das Gemeinwohl an vorgegebene Staatszwecke binden, sind z. B. D. Sternberger oder O. H. von der Gablentz; für Sternberger ist der Gedanke des Friedens, für Gablentz die Idee der Freiheit konstitutiv für das Gemeinwohl.
 
Im Gegensatz zu Aristoteles, Thomas von Aquino oder Rousseau gaben die liberalen Vertragstheoretiker seit J. Locke apriorischen Gemeinwohlauffassungen auf zugunsten von Gemeinwohlvorstellungen, die sich im Vollzug der politischen Willensbildung in einer staatlichen Gemeinschaft herausgebildet haben. Gemäß dieser Denkschule, die heute v. a. in den pluralistisch strukturierten Demokratien zum Tragen kommt, kann das Gemeinwohl nur unter Mitwirkung der Individuen und Gruppen der Gesellschaft herausgefunden werden. Nach E. Fraenkel, einem Vertreter dieser Auffassungen, ist das Gemeinwohl »die Resultante. .., die sich jeweils aus dem Parallelogramm der ökonomischen, sozialen, politischen und ideologischen Kräfte einer Nation dann ergibt, wenn ein Ausgleich angestrebt und erreicht wird, der objektiv den Mindestanforderungen einer gerechten Sozialordnung entspricht und subjektiv von keiner maßgeblichen Gruppe als Vergewaltigung empfunden wird«. Für Fraenkel ist das Gemeinwohl keine »soziale Realität«, sondern eine »regulative Idee«.
 
Im Gegensatz zu den Gemeinwohlideen einer »geschlossenen Gesellschaft« mit einer für alle verbindliche Weltanschauung und einer hierarchisch-autoritären Herrschaftsordnung ist das Gemeinwohl in einer »offenen«, demokratisch strukturierten Gesellschaft das Ergebnis eines dynamischen Willensbildungsprozesses, an dem - in verschiedenen Rollen - staatliche Organe, gesellschaftliche Organisationen (Parteien, Gewerkschaften und andere Interessenverbände) sowie auch die Medien (»öffentliche Meinung«) Anteil haben. In einem so konzipierten Staatswesen entwickeln sich die Gemeinwohlauffassungen in einem ständigen evolutionären Prozess weiter, indem die bestehenden überprüft werden und neue sich entfalten. Die Gemeinwohlvorstellungen einer Demokratie sind gebunden an die dem Staat vorgegebenen Grundrechte, z. B. an seine Verpflichtung, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen zu achten. Mit der Beschränkung politischer Macht durch das Prinzip der Volkssouveränität und der Gewaltenteilung, der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der Unabhängigkeit der Gerichte, dem Prinzip freier Wahlen und dem Recht auf Opposition ist der Rechtsstaat als Rahmen der staatlichen Gemeinschaft selbst Inhalt des Gemeinwohls und seiner Realisierung.
 
Der Gemeinwohlaspekt darf - juristisch gesehen - nicht aus dem jeweiligen konkreten Kontext gelöst werden; er darf nicht von den Verfahren abgekoppelt werden, in denen Gemeinwohl sich äußert. In der Abwägung individueller Interessen und Rechtspositionen mit öffentlichen Belangen muss der Staat seiner Aufgabe gerecht werden, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in der Gesellschaft sicherzustellen.
 
 Kritik des Gemeinwohlbegriffs
 
Häufig wird das Postulat des Gemeinwohls als typisches Element einer Herrschaftsideologie charakterisiert. Vor dem Hintergrund dieses Vorbehaltes ist es offenkundig, dass die herrschenden Gruppen oder Personen in einer Diktatur sich emphatisch auf das Gemeinwohl berufen, dabei aber tatsächlich die Menschen unterdrücken und entrechten. Weltanschaulich geprägte Gemeinschaften und Staaten suchen die Bürger, die in ihren Wertvorstellungen abweichende Anschauungen vertreten, gesellschaftlich auszugrenzen. In demokratisch verfassten Staaten stehen die materiellen und kulturellen Bedürfnisse von Randgruppen oft in Konflikt mit dem von der Mehrheit der Staatsbürger anerkannten Gemeinwohl. Die Bündelung von Einzelinteressen in Interessengruppen ist unterschiedlich ausgeprägt; manche Interessen sind nur unzureichend organisiert, manche verfügen über eine relativ starke wirtschaftliche und politische Macht, um die politische Willensbildung in ihrem Sinne zu beeinflussen (Lobbyismus). Die Hauptrichtung der Kritik, z. B. unter den Gruppen der neuen sozialen Bewegungen, zielt auf die harmonieorientierten und interessenneutralen Grundannahmen der Gemeinwohlvorstellungen; die Existenz grundsätzlicher Interessenkonflikte würde geleugnet und diente dazu, den Herrschaftsanspruch eines Teils der Gesellschaft dadurch zu verschleiern, dass deren Sonderinteressen zum Gemeinwohl erklärt würden. Unter dem Eindruck dieser Kritik beziehen bestimmte Theoretiker den Begriff des Gemeinwohls nicht mehr auf seinen Inhalt, sondern auf die Art, wie politische Entscheidungsprozesse in der Gemeinschaft verlaufen.
 
Literatur:
 
A.-F. Utz: Sozialethik, Bd. 1: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre (1958);
 J. Messner: Das G. Idee, Wirklichkeit, Aufgaben (21968);
 G. Gundlach: G., in: Staatslex., hg. v. der Görres-Gesellschaft, Bd. 3 (61959);
 R. Herzog in: Histor. Wb. der Philosophie, hg. v. J. Ritter, Bd. 3 (1974);
 W. Hennis: Politik u. prakt. Philosophie (1977);
 P. Hibst: Utilitas publica - gemeiner Nutz - Gemeinwohl (1991);
 B. Kettern: Sozialethik u. G. (1992).

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Ge|mein|wohl, das [LÜ von engl. commonwealth]: das Wohl[ergehen] aller Mitglieder einer Gemeinschaft: dem G. dienen; So steht alles unter dem Antriebsdruck partikularer Eigeninteressen und keineswegs im Dienst des -s der Menschheit (Gruhl, Planet 262).

Universal-Lexikon. 2012.