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wirtschaftliches Wachstum
I
wirtschaftliches Wachstum,
 
Wirtschaftswachstum, im weiteren Sinn die Zunahme einer wirtschaftlichen Größe im Zeitablauf, z. B. bezogen auf Unternehmen (Unternehmenswachstum, gemessen an Eigenkapital, Wertschöpfung oder Umsatz, Unternehmenskonzentration), auf private Haushalte (z. B. Wachstum des verfügbaren Einkommens, der Konsumausgaben, des Geldvermögens) oder auf den Staat (z. B. Wachstum der öffentlichen Einnahmen, Ausgaben oder Schulden). Wachstum wird in der Regel angegeben als prozentuale Veränderung im Zeitablauf (monatliche, vierteljährliche, jährliche Wachstumsrate). Da Wachstum grundsätzlich als Normalfall angesehen wird, spricht man bei Konstanz wirtschaftlicher Größen auch von »Null-W.« (Stagnation), schrumpft die wirtschaftliche Größe, von »Minuswachstum«.
 
Der Wachstumsbegriff wird im engeren Sinn auf gesamtwirtschaftliche Größen bezogen und interpretiert als dauerhafte (langfristige) Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts. Dieses reale Wachstum bedeutet Zunahme des Inlandsprodukts in Preisen eines Basisjahres. Veränderungen des allgemeinen Preisniveaus (Inflationsrate) im Betrachtungszeitraum werden im Gegensatz zum nicht preisbereinigten nominellen Wachstum herausgerechnet (Deflationierung). Um den langfristigen Aspekt des Wachstums hervorzuheben und um das Wachstum von den eher kurzfristigen, konjunkturell bedingten Veränderungen des Sozialprodukts abzugrenzen, wird statt des tatsächlich erarbeiteten Sozialprodukts einer Volkswirtschaft deren Produktionspotenzial herangezogen, d. h. dasjenige Inlandsprodukt, das erwirtschaftet werden könnte, wenn der vorhandene Bestand an Sachkapital und Arbeitskräften im Produktionsprozess voll ausgelastet wäre. Berechnet man das Bruttosozialprodukt je Einwohner, so führt eine Zunahme zu einer besseren materiellen Güterversorgung der Bevölkerung. Wird das Bruttoinlandsprodukt dagegen auf die Zahl der Erwerbstätigen bezogen, resultiert daraus eine Aussage über deren Produktivität (Arbeitsproduktivität). Entspricht das Wachstum des Inlandsprodukts gerade dem Bevölkerungswachstum, sodass die in Pro-Kopf-Größen gemessene materielle Güterversorgung unverändert bleibt, spricht man von extensivem Wachstum. Steigt das Inlandsprodukt hingegen rascher als die Bevölkerung, so bezeichnet man dies als intensives Wachstum.
 
Die Wachstumsrate w des Sozialprodukts Y oder des Sozialprodukts je Einwohner bezieht die jeweilige absolute Zunahme in einer Periode t auf das Niveau der Vorperiode t —1;
 
 
Dies bedeutet mathematisch, dass auch bei einer konstanten Wachstumsrate das Sozialprodukt exponentiell (überproportional) zunimmt.
 
 Wachstumstheorie
 
Im Mittelpunkt der Wachstumstheorie stehen neben der Erforschung der Bestimmungsfaktoren des Wachstums Fragestellungen, inwieweit der Wachstumsprozess durch vermehrten Einsatz von Produktionsfaktoren zu einem stabilen Gleichgewicht führt und gesamtwirtschaftlich optimal ist. Ausgangspunkt der Wachstumsanalyse sind private Unternehmen, die eigenes oder fremdes Geldkapital in Produktionsprozesse einsetzen, um dauerhaft Gewinne zu erzielen. Da Unternehmen für ihre Produktion Produktionsfaktoren benötigen und nachfragen, ist zu untersuchen, ob ein geeignetes Angebot an diesen Faktoren zur Verfügung steht. Diese Fragestellung bezieht sich auf die Ausstattung eines Landes mit Boden (z. B. als Landwirtschafts-, Industrie- oder Verkehrsfläche) und Bodenschätzen, mit Arbeit (Erwerbsbevölkerung mit bestimmter Alters-, Sozial- und Qualifikationsstruktur) und Sachkapital (z. B. Maschinen, Anlagen, Gebäude) sowie auch auf den Grad der Mobilität der Faktoren Arbeit und Kapital.
 
Die zentrale Rolle der Rendite auf das eingesetzte Kapital (Profitrate) im Wachstumsprozess hatte bereits D. Ricardo zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgehoben. Er gelangte zu der Erkenntnis, dass aufgrund des Ertragsgesetzes die langfristige wirtschaftliche Entwicklung in einen stationären Zustand einmünden müsse, indem die Profitrate gleich null wird und nur noch Reinvestitionen durchgeführt werden. Der technische Fortschritt könne diese Entwicklung verzögern, aber nicht verhindern. Eine sinkende Profitrate spielt auch eine entscheidende Rolle bei K. Marx. Er analysierte aber auch, wie später J. A. Schumpeter, die besondere Bedeutung der technischen Neuerungen und des Konkurrenzkampfes für die Profitrate. Marx erkannte, dass die entstehenden Industriegesellschaften (Phase des Take-off nach W. W. Rostow) durch ständige technische Neuerungen gekennzeichnet sind. Um im Wettbewerb bestehen zu können, sehen sich die Unternehmen gezwungen, diese Innovationen bei sich einzuführen. Da hierzu in der Regel neue Maschinen und Anlagen erforderlich sind, müssen die Unternehmen ständig investieren, wodurch der Wachstumsprozess vorangetrieben wird. In diesem Wachstumsprozess wies Schumpeter den Pionierunternehmen eine besonders aktive Rolle zu. Diese erkennen, dass sie durch Produkt- und Verfahrensinnovationen und die damit verbundene Rationalisierung zumindest vorübergehend Monopolgewinne und damit eine besonders hohe Profitrate erzielen können. Sie setzen deshalb solche Innovationen durch und treiben den Wachstumsprozess voran (»Prozess der schöpferischen Zerstörung« nach Schumpeter).
 
Aufgrund der Unterbrechung des Wachstumsprozesses in den Industriestaaten durch die Weltwirtschaftskrise 1929-33 hat die Notwendigkeit stärkere Beachtung gefunden, für die wachsenden produzierten Gütermengen die entsprechenden Absatzmöglichkeiten zu finden. Berücksichtigt man die Absatzseite, so lassen sich Wachstumsmodelle entwickeln, in denen der Wachstumsprozess instabil ist und immer wieder zusammenzubrechen droht. Das erste vom Keynesianismus geprägte Wachstumsmodell von H. R. F. Harrod kommt genau zu diesem Ergebnis. In Reaktion auf die postkeynesianische Wachstumstheorie hat die neoklassische Wachstumstheorie Modelle entwickelt, in denen im Sinne der Neoklassik und des Monetarismus das Absatzproblem als gelöst gilt und das Wachstum zu einem dauerhaften gleichgewichtigen Wachstumspfad tendiert. Beide Theorierichtungen gehen also unterschiedliche Wege bei der Beantwortung der Frage nach Existenz und Stabilität eines gleichgewichtigen Wachstumsprozesses.
 
Ausgangspunkt der postkeynesianischen Wachstumstheorie, die besonders von Harrod und E. D. Domar geprägt wurde (Harrod-Domar-Modell), ist das kurzfristige keynesianische Modell, das durch die Einbeziehung des Kapazitätseffekts der Investitionen in ein langfristiges Modell umgestaltet wird. Unter den Annahmen einer konstanten Konsumquote und eines konstanten Kapitalkoeffizienten (Verhältnis von Kapitalstock und Sozialprodukt) im Domar-Modell sowie unter Einbeziehung des Zusammenwirkens von Akzelerator und Multiplikator im Harrod-Modell erhöht jede Nettoinvestition das Produktionspotenzial (Kapitalstock, Sachkapital), das nur dann ausgelastet wird, wenn die Investitionen mit einer bestimmten Rate wachsen (»Wachstum auf des Messers Schneide«): Langfristiges Wachstumsgleichgewicht (Steadystate) bei Vollbeschäftigung herrscht nur dann, wenn die für die Auslastung des wachsenden Produktionspotenzials erforderliche Wachstumsrate des Sozialprodukts (befriedigende oder gleichgewichtige Wachstumsrate) mit der durch Bevölkerungswachstum und technischen Fortschritt möglichen Wachstumsrate (natürliche Wachstumsrate) übereinstimmt. Liegt die natürliche über der befriedigenden Wachstumsrate, kommt es zu wachsender Arbeitslosigkeit, da das Wachstum des Produktionspotenzials für die Beschäftigung des Arbeitskräftepotenzials nicht ausreicht.
 
Die neoklassische Wachstumstheorie untersucht besonders die gesamtwirtschaftliche Produktionsfunktion, die die Abhängigkeit des realen Sozialprodukts vom Arbeits- und Kapitaleinsatz sowie vom technischen Fortschritt angibt (R. M. Solow, J. E. Meade). Bei einer unterstellten Produktionsfunktion mit substituierbaren Produktionsfaktoren ist die Wachstumsrate des Sozialprodukts abhängig von den Wachstumsraten des Arbeits- und Kapitaleinsatzes, von den Produktionselastizitäten dieser Faktoren und von der Wachstumsrate des technischen Fortschritts. Langfristig müssen sich die Wachstumsraten des Sozialprodukts und des Kapitals angleichen, ein stabiles Wachstumsgleichgewicht mit Übereinstimmung von natürlicher und gleichgewichtiger Wachstumsrate wird erreicht (»Golden Age«). Weder die postkeynesianische noch die neoklassische Wachstumstheorie können der Wachstumspolitik Hinweise auf anzustrebende Wachstumsraten geben, da sie als positive Theorien nur Ursachen und Wirkungsweise des Wachstumsprozesses analysieren. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich die auf F. P. Ramsey zurückgehende normative Theorie des optimalen Wachstums mit der Frage, wie ein auf Dauer mit maximaler gesellschaftlicher Wohlfahrt verbundener Wachstumsprozess aussehen sollte. Ihr wirtschaftspolitischer Wert wird jedoch durch die sehr strikten Prämissen (v. a. bezüglich einer gesellschaftlichen Wohlfahrtsfunktion) erheblich eingeschränkt.
 
Wichtiger Auslöser für die Entwicklung der »Neuen Wachstumstheorie« Mitte der 1980er-Jahre waren die Arbeiten von Paul M. Romer und R. E. Lucas. Während die traditionelle neoklassische Wachstumstheorie zu dem Ergebnis kommt, dass dauerhaftes Pro-Kopf-Wachstum nur durch fortwährenden technischen Fortschritt möglich ist, dieser aber als exogener Faktor betrachtet und nicht näher erklärt wird, versuchen Vertreter der Neuen Wachstumstheorie gleichgewichtige Wachstumsraten modellendogen zu erklären. Die Wege, die dabei beschritten werden, sind unterschiedlich. Bei einer Reihe von Ansätzen steht nicht der exogene technische Fortschritt im Vordergrund, sondern die Bildung von Humankapital, bei anderen Ansätzen wird auf das Suchen der Unternehmen nach Neuerungen (Innovation) abgestellt.
 
 Wachstumspolitik
 
Der Wachstumsprozess geht in allen Gesellschaften mit tief greifenden strukturellen Wandlungen einher. Daher setzt Wachstum die Bereitschaft voraus, diese Wandlungen zu akzeptieren und den auf Veränderungen drängenden Kräften Raum zur Entfaltung zu gewähren. Unter diesem Aspekt hat Rostow fünf Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung unterschieden, die seiner Meinung nach durchlaufen werden (Wirtschaftsstufen). Der im Zuge des Wachstumsprozesses auftretende wirtschaftliche Strukturwandel führt zu grundlegenden Veränderungen der Produktionsverhältnisse, der Nachfrage u. a. wirtschaftlichen Größen. Diese Strukturwandlungen, die sich z. B. auch nach der Dreisektorenhypothese als Weg von der Agrar- über die Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft veranschaulichen lassen, stellen hohe Anforderungen an Anpassungsfähigkeit und -willen des wirtschaftenden Menschen. Sie erfordern von Unternehmen und Staat Maßnahmen, die eine möglichst reibungslose Umstellung auf sich grundlegend ändernde wirtschaftliche Bedingungen sicherstellen oder zumindest erleichtern.
 
Im weiteren Sinn umfasst Wachstumspolitik alle Maßnahmen des Staates zur Steigerung des Sozialprodukts einschließlich der Konjunktur- und Stabilitätspolitik. Wachstumspolitik im engeren Sinn ist dagegen begrenzt auf die Steigerung des gesamtwirtschaftlichen Produktionspotenzials. So hängt der technische Fortschritt einerseits davon ab, wie viele Innovationen durch unabhängige Erfinder, durch Wissenschaft und Forschung sowie durch die Ausgaben der Unternehmen für Forschung und Entwicklung möglich werden, und andererseits davon, wie viele dieser Möglichkeiten durch den Konkurrenzdruck am Markt und den Anreiz guter Renditen verwirklicht werden und dadurch Investitionen hervorrufen. Daher zählen zur Wachstumspolitik die Schaffung wachstumsfreundlicher Rahmenbedingungen und die Sicherung eines wirksamen Wettbewerbs. Neben Ordnungs- und Wettbewerbspolitik können zur Wachstumspolitik alle Maßnahmen gerechnet werden, die die Quantität und Qualität der Produktionsfaktoren Arbeit (Erwerbspersonenpotenzial, Arbeitszeit, berufliche Qualifikation) und Kapital (z. B. Altersstruktur des Anlagevermögens, Verfügbarkeit von Industrie- und Bürogebäuden) sowie den technischen Fortschritt beeinflussen: Investitions- und Forschungsförderung, Technologie-, Industrie- und Strukturpolitik, Wirtschaftsförderung und Infrastrukturpolitik, Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik.
 
Besonders schwierig und deshalb umstritten sind im Rahmen einer Marktwirtschaft die Wege zur Förderung der langfristigen Renditeerwartungen der Unternehmen. Eine danach ausgerichtete Wachstumspolitik erfordert es, die Erwartungen hinsichtlich erzielbarer Gewinnspannen und künftig absetzbarer Produktmengen positiv zu beeinflussen. Probleme treten auf, weil manche Maßnahmen (z. B. eine Umverteilung von Lohn- zu Gewinneinkommen) zwar die erwartete Gewinnspanne erhöhen können, aber die Absatzerwartungen verschlechtern.
 
 Wachstum als Ziel der Wirtschaftspolitik
 
In der wirtschaftspolitischen Diskussion nimmt Wachstum eine zentrale Stellung ein. So wird in Deutschland im Stabilitätsgesetz von der Bundesregierung verlangt, für ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum zu sorgen, was auch die Verwirklichung anderer wirtschaftspolitischer Ziele ermöglicht (z. B. Preisniveaustabilität, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht). »Stetiges Wachstum« bedeutet, dass starke Schwankungen im wirtschaftlichen Wachstumsprozess möglichst vermieden werden, »angemessenes Wachstum« verweist darauf, dass nicht eine möglichst hohe Wachstumsrate des Sozialprodukts erzielt werden soll (Wachstumsmaximierung); gleichzeitig bleibt aber der Inhalt des Wachstumsziels weitgehend unbestimmt. Wirtschaftspolitisch wird angemessenes Wachstum meist interpretiert als quantitative Zielvorgabe im Sinne einer Wachstumsrate des Sozialprodukts, die mit Preisniveaustabilität und Vollbeschäftigung zu vereinbaren und unter den gesamtwirtschaftlichen Bedingungen zu erzielen ist. Dabei wird eine Gleichsetzung von Wachstum, gesellschaftlicher Wohlstandsmehrung und Fortschritt angenommen. So gilt die erreichte Wachstumsrate des Sozialprodukts (je Einwohner) als ein zentrales Kriterium für die wirtschaftspolitische Leistungsfähigkeit der jeweiligen Regierung sowie für die Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit der jeweiligen Volkswirtschaft.
 
Zur Begründung dieses quantitativen Wachstumsziels wird erstens angeführt, dass durch Wachstum auch die bisher weniger gut Gestellten einen höheren materiellen Wohlstand erreichen können, ohne dass »reichen« Bevölkerungsgruppen etwas von ihrem Besitzstand weggenommen werden muss. Allerdings ist zu beobachten, dass der Wachstumsprozess bisher nicht zu einer Konzentration der Wachstumsgewinne auf die Bezieher niedriger Einkommen geführt hat. Insofern erscheint Wachstum nur bedingt geeignet, wirtschaftliche Verteilungskonflikte beziehungsweise eine als »ungerecht« betrachtete Einkommens- und Vermögenskonzentration über die Umverteilung von Sozialproduktzuwächsen zu lösen. Zweitens führt Wachstum in der Regel zu erhöhter Beschäftigung. Dies gilt aber nur, wenn die Produktion schneller steigt als die Arbeitsproduktivität. Andernfalls würde eine höhere Beschäftigung eine kürzere Arbeitszeit je Beschäftigten erfordern. Insofern ist zu fragen, ob nicht das Ziel einer höheren Beschäftigung eher über kontinuierliche Arbeitszeitverkürzungen angestrebt werden sollte. Für diesen Weg spricht auch, dass ein steigendes Sozialprodukt bei gleicher Produktionstechnik mit höherem Ressourcenverbrauch und verstärkter Umweltbelastung verbunden ist. Diesem Punkt wird als drittes Argument für Wachstum entgegengehalten, dass weiteres Wachstum notwendig sei, um eingetretene Umweltschäden zu beseitigen und durch gezielte Umweltschutzinvestitionen künftige Umweltschäden möglichst zu vermeiden. Viertens ermöglicht Wachstum einen sozialverträglichen Strukturwandel, fünftens bessere Versorgung mit kollektiven Gütern (v. a. technische und soziale Infrastruktur) und sechstens eine verstärkte Hilfe für Entwicklungsländer. Allerdings lässt sich Wachstum in dieser Weise nur rechtfertigen, wenn diese Möglichkeiten genutzt werden. Schon angesichts des Niveaus an materiellem Wohlstand, den breite Schichten der Bevölkerung in den westlichen Industrieländern erreicht haben, erscheint es fraglich, ob künftig das weitere Wachstum des Sozialprodukts je Einwohner zumindest für diese Länder von derart zentraler Bedeutung sein sollte.
 
Ende der 1960er-Jahre begann besonders mit dem Bewusstwerden der mit Wachstum verbundenen Umweltbelastung und Ausbeutung der Erde die Kritik an einer rein wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik (»Wachstumsdogma«). Hinzu traten Krisenerscheinungen im politischen und sozialen Bereich, verbunden mit Begriffen wie Wertewandel, Rationalisierung und Ökonomisierung vieler Lebensbereiche, politischer Extremismus, Nord-Süd-Konflikt. Anfang der 1970er-Jahre, besonders im Zusammenhang mit dem ersten Bericht an den Club of Rome (»The limits to growth«, 1972; deutsch »Die Grenzen des Wachstums«), kam die Forderung auf, das eher quantitative Wachstumsziel zugunsten eines qualitativen Wachstums aufzugeben. Hauptziel sollte die Steigerung der Lebensqualität sein. Gleichzeitig ging es darum, neue Messverfahren und Indikatoren für Wohlstandswachstum und Lebensqualität zu entwickeln. Gefordert wurde auch eine Strategie des selektiven oder kontrollierten Wachstums, die dem besonders von Unternehmen vorangetriebenen Wachstumsprozess kollektiv bestimmte qualitative, v. a. sozial- und umweltpolitische Vorgaben entgegensetzt (z. B. vermehrte Bereitstellung kollektiver Güter).
 
Die Diskussion um qualitatives Wachstum führte zu Anforderungen an das Wachstumsziel, die mit Wirtschaftlichkeit, Sozial-, Umwelt- und internationale Verträglichkeit umschrieben werden können. Besonders angesichts zunehmender internationaler Verflechtung der Staaten beziehungsweise Volkswirtschaften sowie der Indizien für eine globale Überschreitung absoluter Grenzen der Belastbarkeit der Erde durch die Folgen von Produktion und Konsum weiter wachsender Volkswirtschaften gewinnt das Konzept einer nachhaltigen Entwicklung zunehmend an Bedeutung. So sind z. B. neben den Gefahren des steigenden Ressourcen- und Energieverbrauchs sowie der Umweltverschmutzung auch länderübergreifende und globale Umweltprobleme wie Waldsterben und Klimaänderungen durch Treibhauseffekt, Ozonloch und Abholzung der tropischen Regenwälder ins Blickfeld der Öffentlichkeit getreten.
 
 Wachstum und nachhaltige Entwicklung
 
Unter nachhaltiger Entwicklung wird eine wirtschaftliche Entwicklung verstanden, die durch eine Veränderung des herrschenden Produktions- und Komsumstils besonders in den Industrieländern das Ziel der Produktion von Gütern mit dem der Erneuerung beziehungsweise Wiederherstellung der Produktions- und Lebensgrundlagen verbindet und die dauerhaft ist, d. h. zeitlich unbegrenzt durchgehalten werden kann. Gefordert sind ein langfristiges Denken und Handeln in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zentrales Element ist die Solidarität mit allen gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen, besonders aber die intergenerative Gerechtigkeit, da erstmals in der Menschheitsgeschichte im Gefolge des Wachstumsprozesses in den Industrieländern durch die negativen Auswirkungen des Produktions- und Konsumstils der heute dort lebenden Generationen die Lebens- und Entfaltungsbedingungen künftiger Generationen gefährdet sind. Heutige wie auch künftige Generationen in Industrie- und Entwicklungsländern sollen gleichermaßen an den Produktions- und Lebensmöglichkeiten, die die Erde bietet, teilhaben können. Unbegrenzte Wachstumsprozesse sind somit bei globalen ökologischen Gefahren und im Bewusstsein nicht übersteigbarer Grenzen der Nutz- und Belastbarkeit des Ökosystems Erde (»Raumschiff Erde«) nicht mehr zu tolerieren, da sie Leistungspotenziale, von denen künftige Produktions- und Konsumprozesse abhängig bleiben, entwerten oder zerstören. Strategien einer nachhaltigen Entwicklung gehen für das Konfliktfeld »Ökonomie und Ökologie« über eine ökologische Modernisierung z. B. im Sinne einer Entkopplung von Wachstum, Ressourcenverbrauch und Umweltbelastung (»dauerhaftes Wachstum«) und einer Steigerung der Ressourcenproduktivität hinaus und umfassen auch Veränderungen wirtschaftlicher (z. B. Übergang von der bisher Arbeit zur Ressourcen sparenden Wirtschaftsentwicklung durch Verlagerung der Steuerlast vom Faktor Arbeit auf den Faktor Naturressourcen) und gesellschaftlicher Strukturen (z. B. Dezentralisierung von Produktions- und Konsumstrukturen, alternativer Lebensstil in den Industrieländern). Nachhaltige Entwicklung könnte zum Leitbegriff einer global, ökologisch und sozial ausgerichteten Wirtschafts- und Umweltpolitik werden, dem sich das bisher vorherrschende Wachstumsziel unterzuordnen hätte.
 
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Beschäftigung · Fortschritt · Innovation · Investition · Konjunktur · Konsum · Lebensqualität · Leistungsgesellschaft · sozialer Wandel · Umweltpolitik · Wirtschaftspolitik · Wohlstand
 
Literatur:
 
W. W. Rostow: Stadien wirtschaftl. W. (a. d. Engl., 21967);
 H. Giersch: Konjunktur- u. W.-Politik in der offenen Wirtschaft (1977, Nachdr. 1983);
 W. Krelle: Theorie des wirtschaftl. W. (21988);
 K. H. Oppenländer: W.-Theorie u. W.-Politik (1988);
 H. C. Binswanger: Geld u. Natur. Das wirtschaftl. W. im Spannungsfeld zw. Ökonomie u. Ökologie (1991);
 J. Heubes: Konjunktur u. W. (1991);
 
W. - Abschied von einem Dogma, hg. v. E. Stratmann-Mertens u. a. (1991);
 L. R. Brown u. a.: Zur Rettung des Planeten Erde (a. d. Amerikan., 21992);
 
Umweltschutz, Strukturwandel u. Wirtschafts-W., Beitrr. v. R. Graskamp u. a. (1992);
 J. Kromphardt: W. u. Konjunktur (31993);
 
Die Grenzen des W. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Beitrr. v. D. L. Meadows u. a. (a. d. Amerikan., 161994);
 T. Gries: W., Humankapital u. die Dynamik der komparativen Vorteile (1995);
 D. H. Meadows u. a.: Die neuen Grenzen des W. (a. d. Amerikan., Neuausg. 20.-23. Tsd. 1995);
 
Mit der Natur rechnen. Der neue Club-of-Rome-Bericht. Vom Bruttosozialprodukt zum Ökosozialprodukt, hg. v. W. van Dieren (a. d. Amerikan., Basel 1995);
 K. Rose: Grundlagen der W.-Theorie (61995);
 A. Maußner u. R. Klump: W.-Theorie (1996);
 M. Ruschinski: Neuere Entwicklungen in der W.-Theorie (1996);
 H. Strulik: Die Interdependenz von Bev.- u. Wirtschaftsentwicklung in neoklass. W.-Modellen (1996);
 H. Wagner: W. u. Entwicklung (21997);
 E. U. von Weizsäcker u. a.: Faktor Vier. Doppelter Wohlstand - halbierter Naturverbrauch (Neuausg. 1997);
 H. Majer: Wirtschafts-W. u. nachhaltige Entwicklung (31998);
 
Zukunftsfähiges Dtl. Ein Beitr. zu einer global nachhaltigen Entwicklung, Beitrr. v. R. Loske u. a. (Neuausg. Basel 1998).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
 
Wachstum: Grenzen des wirtschaftlichen Wachstums
 
Wachstum: Grundzüge des wirtschaftlichen Wachstums
 
Wachstum: Wirtschaftliches Wachstum und Konjunktur
 
Wachstum: Wirtschaftliches Wachstum und Strukturwandel
 
Wirtschaftswachstum: Zusammenspiel vieler Faktoren
 
Wirtschaftswachstum: Hat das Wachstum Grenzen?
 
II
wirtschaftliches Wachstum,
 
das Wachstum.

Universal-Lexikon. 2012.