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Dienstleistungsgesellschaft
Dienst|leis|tungs|ge|sell|schaft 〈f. 20(heutige) Gesellschaft, deren Wesen u. Struktur sehr stark von Dienstleistungsbetrieben u. -gewerbe geprägt ist

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Dienst|leis|tungs|ge|sell|schaft, die (Soziol.):
Gesellschaft, in der die Dienstleistungsbetriebe, -unternehmen zentrale Bedeutung haben.

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Dienstleistungsgesellschaft,
 
eine Form der hoch entwickelten Gesellschaft, in der nicht mehr die industrielle Fertigung die sozioökonomischen Strukturen (Arbeits- und Lebensbedingungen, Wertesystem) bestimmt, sondern ein vielfältig strukturierter Dienstleistungssektor. Eine einheitliche Definition des Begriffes Dienstleistungen existiert - abgesehen von der sehr allgemeinen Bestimmung als ökonomischer Güter zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse - aufgrund der Vielschichtigkeit von Dienstleistungen nicht. Die Bestimmung des Begriffes hängt weitgehend davon ab, an welchen Merkmalen (Produkteigenschaften, Produktionsprozess, Produktivität, Nachfrageelastizitäten und Tätigkeitmerkmale der Produzenten) angeknüpft wird. Im Unterschied zu den Sachgütern zeichnen sich Dienstleistungen durch Immaterialität, Vergänglichkeit (nicht lagerfähig), Standortgebundenheit (nicht transportfähig), Synchronität von Produktion und Verbrauch aus.
 
Je nach ihrem Einsatz können verbraucherbezogene Dienstleistungen (z. B. Erholung, Reinigungs- und Reparaturdienste, Körperpflege) von produktionsbezogenen Dienstleistungen (z. B. Unternehmensberatung, Marktforschung, Gebäudereinigung) unterschieden werden. Die meisten Verbraucher- oder Haushaltsdienstleistungen sind arbeitsintensiv und vom direkten Kontakt zwischen Anbieter und Nachfrager abhängig; einige sind aber auch sehr kapitalintensiv (z. B. öffentlicher Personenverkehr). Zu den Produzentendienstleistungen zählen Finanzdienstleistungen von Banken sowie die Unternehmensdienste, bei denen bestimmte betriebliche Teilfunktionen (z. B. Werbung, Ausstellungswesen, Forschung und Entwicklung, Transport, Bewachung) von darauf spezialisierten Unternehmen übernommen werden. In manchen Bereichen ist die Zuordnung zu verbraucher- oder produktionsbezogenen Dienstleistungen kaum möglich (z. B. Großhandel, Banken, Versicherungen). Dienstleistungen können hauswirtschaftlich (Eigenproduktion der privaten Haushalte), erwerbswirtschaftlich durch Dienstleistungsunternehmen (private Dienstleistungen), durch öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaften (öffentlicher oder staatlicher Dienstleistungen) oder durch private Organisationen ohne Erwerbszweck (v. a. soziale Dienstleistungen) erstellt werden.
 
In den letzten 150 Jahren lässt sich ein stetiges Anwachsen des Dienstleistungssektors verzeichnen. Jahrhundertelang wies der primäre Sektor die meisten Beschäftigten auf; um 1800 waren durchschnittlich etwa 80 % der Bevölkerung in der Landwirtschaft, 8 % in der Industrie und 12 % im tertiären Sektor beschäftigt. Mit dem Einsetzen der industriellen Revolution im frühen 19. Jahrhundert wuchs die Zahl der in der Industrie Beschäftigten überproportional. So waren in Deutschland 1880 von 100 Beschäftigten 47 in der Landwirtschaft, 36 in der Industrie und 17 im Dienstleistungssektor tätig.
 
Die kontinuierlichen Bedeutungsverlagerung vom primären (Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft) über den sekundären (Waren produzierendes Gewerbe) hin zum tertiären Sektor (Dienstleistungssektor) ist eine typische Erscheinung des 20. Jahrhunderts und zeigt sich sowohl bei den Anteilen der Bruttowertschöpfung der Sektoren als auch an den Anteilen der Sektoren an der Erwerbstätigkeit. Der Prozess ist nach wie vor in den USA am weitesten fortgeschritten, zeigt sich aber auch in allen westlichen Industriestaaten. So waren 1994 in den USA 73 % aller Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor angesiedelt, in den EU-Staaten lag der Anteil bei 65 % und in Japan bei 60 %.
 
In Deutschland (bezogen auf die alten Bundesländer) stieg der Anteil des tertiären Sektors an der Bruttowertschöpfung von (1960) 49,8 % auf (1993) 62,2 %. Im gleichen Zeitraum sank der Anteil des primären Sektors von 2,3 % auf 1,6 %. Der Anteil des Waren produzierenden Gewerbes stieg zunächst von (1960) 47,9 % auf (1970) 49,2 % und sank dann auf (1993) 36,2 %. Ähnliche Entwicklungen zeigen sich in der Beschäftigtenstruktur: 1960 arbeiteten 38,3 % der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor; 1993 waren es 59,8 %. Seit 1970 nimmt hingegen der Anteil der Erwerbstätigen im sekundären Sektor verstärkt ab (1970: 48,9 %; 1993: 37,2 %). Der Anteil der Erwerbstätigen im primären Sektor sank von (1950) 24,6 % auf (1993) 3,0 %. Insgesamt ist die Erwerbsstruktur der Dienstleistungsgesellschaft durch höher qualifizierte Angestellte und einen steigenden Anteil voll- und teilzeitbeschäftigter Frauen gekennzeichnet.
 
Innerhalb des Dienstleistungssektors ist die Entwicklung allerdings sehr unterschiedlich verlaufen. Den relativ »stabilen« Dienstleistungsbereichen Handel, Verkehr und Nachrichtenübermittlung sowie private Haushalte und private Organisationen ohne Erwerbszweck stehen, besonders bezogen auf die Entwicklung der Erwerbstätigen, die »dynamischen« Dienstleistungsbereiche gegenüber. Der Anteil der Banken, Versicherungen und sonstigen Dienstleistungsunternehmen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen stieg von (1960) 9,1 % auf (1993) 20,6 %. Der Anteil der Beschäftigten bei öffentlichen Gebietskörperschaften und der Sozialversicherung stieg hingegen nur von (1960) 8,0 % auf (1993) 14,9 %.
 
Der Übergang von einer hoch entwickelten Industriegesellschaft zu einer weltwirtschaftlich orientierten Dienstleistungsgesellschaft mit hohem Niveau der industriellen und auch landwirtschaftlichen Produktion entspricht der Dreisektorenhypothese des sektoralen Strukturwandels. Diese eine aufeinander folgende Dominanz des primären, sekundären und tertiären Sektors beschreibende Wirtschaftsstufentheorie wird sowohl durch Verschiebungen der Nachfragestruktur wie durch unterschiedliche langfristige Produktivitätsfortschritte begründet. Während in der Agrargesellschaft die Befriedigung der Grundbedürfnisse ökonomisch im Vordergrund steht, kann im Zuge der Industrialisierung eine zunehmend technisierte und damit produktivere Landwirtschaft Nahrungsmittelüberschüsse für die städtische, in der Industrie beschäftigte Bevölkerung erwirtschaften. Im Zuge der Steigerung des Pro-Kopf-Einkommens wandeln sich auch die Bedürfnisse. Agrarerzeugnisse werden mit steigendem Einkommen im Vergleich zu anderen Erzeugnissen weniger nachgefragt (engelsches Gesetz). Stattdessen steigt die Nachfrage nach industriellen Erzeugnissen (z. B. langlebige Konsumgüter) und im Weiteren, in der Regel nachdem ein bestimmtes Ausstattungsniveau erreicht ist, auch die Nachfrage nach Dienstleistungen, z. B. nach »Freizeitgütern« (Sport, Spiel, Unterhaltung, Reisen). Zugleich bewirkt die mit der Industrialisierung einsetzende Entstehung der Kleinfamilie, dass viele früher im Rahmen des Haushalts der Großfamilie erbrachten Dienstleistungen nunmehr am Markt nachgefragt oder vom Staat angeboten werden. Die Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates hat v. a. im Bereich der sozialen Dienste (Bildung, Gesundheit) ein Wachstum staatlicher Dienstleistungen gefördert.
 
Rationalisierung in Landwirtschaft und Industrie sowie ein v. a. durch die internationale Arbeitsteilung ausgelöster Strukturwandel bewirken eine Freisetzung von Arbeitskräften im primären (1960-93: 2,7 Mio. Beschäftigte) und im sekundären Sektor (1960-93: 1,7 Mio. Beschäftigte). Dieser Freisetzungseffekt wird zu einem Teil dadurch ausgeglichen, dass Arbeitskräfte aus dem primären Sektor in der Industrie Arbeitsplätze finden und freigesetzte Arbeitskräfte aus dem sekundären Sektor vom Dienstleistungsbereich aufgenommen werden. Dort entstanden und entstehen bei steigender Nachfrage überproportional viele neue Arbeitsplätze (1960-93: 7,3 Mio.). Der Schritt zur Dienstleistungsgesellschaft wird häufig als Übergang zur postindustriellen Gesellschaft bezeichnet.
 
Der seit den 70er-Jahren weltweit an Bedeutung gewinnende Bereich der Informations- und Kommunikationsindustrie führt zu einem wachsenden Bedarf an entsprechenden Dienstleistungen und lässt in den nächsten Jahren umfassende Veränderungen der Arbeitswelt und der Freizeitgestaltung erwarten (Informationsgesellschaft). Inwieweit diese Entwicklung auch Grundlage für dauerhaftes zukünftiges Wirtschaftswachstum sein und die gravierenden Beschäftigungsprobleme lösen kann, ist umstritten. Einerseits zeigt sich, dass im Zusammenhang mit dem Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationssysteme sowohl im Dienstleistungssektor (z. B. Handel, Verkehr, Banken) als auch bei Dienstleistungsberufen (z. B. im Bürobereich) stark rationalisiert werden kann. Insofern sind auch Arbeitnehmer dieser Bereiche zunehmend von Rationalisierungsarbeitslosigkeit bedroht. Andererseits expandieren personenbezogene Dienstleistungen infolge zunehmender Freizeit (Tourismusbranche), veränderter Aus- und Weiterbildung sowie gestiegener Lebenserwartung (z. B. medizinische und Pflegeeinrichtungen). Insgesamt hat es der tertiäre Sektor trotz stetigem Anstieg der absoluten Zahl der Erwerbstätigen in diesem Bereich (1960: 10,0 Mio.; 1993: 17,3 Mio.) nicht vermocht, alle in anderen Sektoren freigesetzten Arbeitskräfte aufzunehmen.
 
Die Tendenz, dass arbeitsintensive Dienstleistungen zunehmend dem öffentlichen Sektor übertragen werden, ist allem Anschein nach an einer Grenze angelangt. Dem Wachstum des Wohlfahrtsstaates wird mit Bemühungen um Konsolidierung und Kostendämpfung (z. B. durch stärkere Selbstbeteiligung) in den öffentlichen Haushalten, um eine Senkung der Belastung mit Steuern und Abgaben sowie um Reprivatisierung bisher öffentlich erbrachter Dienstleistungen entgegengetreten.
 
Seit den 70er-Jahren ist eine zunehmende Verkopplung von industrienahen Dienstleistungen und Waren produzierendem Gewerbe zu verzeichnen. Einerseits verlagern zahlreiche Unternehmen im Zuge der Rationalisierung Dienstleistungsfunktionen auf externe Anbieter. Andererseits bieten v. a. Investitionsgüterhersteller aus den Bereichen Maschinenbau, Elektronik und Elektrotechnik Systemlösungen an, die Waren und komplementäre Dienstleistungen (z. B. technische Planung und Beratung, Schulung, Vermietung, Wartung und Inspektion, Datenverarbeitung und Dokumentation) miteinander verknüpfen. Zudem werden beim Absatz von Sachgütern Dienstleistungen wie Beratung, Finanzierung, Service und Wartung zu einem wichtigen Wettbewerbselement. Insgesamt führen zunehmende Komplexität wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen, wachsende Auslandsverflechtung, Kompliziertheit der Rechtsordnung und gestiegene Anforderungen an Unternehmen zur Sicherung der nationalen und internationalen Wettbewerbsfähigkeit zu einer »Tertiarisierung des Produktionssektors«. Gleichzeitig nimmt auch der internationale Handel mit Dienstleistungen zu.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Arbeit · Beruf · Freizeit · Industriegesellschaft · sozialer Wandel · Strukturpolitik · Wachstum
 
Literatur:
 
L. Berekoven: Der Dienstleistungsmarkt in der BRD, 2 Bde. (1983);
 L. Hübl u. W. Schepers: Strukturwandel u. Strukturpolitik (1983);
 A. Völker: Allokation von Dienstleistungen (1984);
 H. Schedl u. K. Vogler-Ludwig: Strukturverlagerungen zw. sekundärem u. tertiärem Sektor (1987);
 H. Tengler u. M. Hennicke: Dienstleistungsmärkte in der BRD (1987);
 R. Maleri: Grundlagen der Dienstleistungsproduktion (31994);
 D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft (a. d. Amerikan., Neuausg. 1996).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Arbeit: Die Arbeitswelt von morgen
 
Weltwirtschaft: Neue Mächte, neue Märkte
 

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Dienst|leis|tungs|ge|sell|schaft, die (Soziol.): heutige Gesellschaft, in der die Dienstleistungsbetriebe, -unternehmen zentrale Bedeutung haben: Bis zum Jahre 2000 wird sich der Trend zur D. fortsetzen (Zivildienst 2, 1986, 29).

Universal-Lexikon. 2012.