Alter Ori|ent,
das Gebiet der frühen Hochkulturen in Palästina-Syrien, Kleinasien, Mesopotamien, im iranischen Hochland und, im weiteren Sinne, in Ägypten, vom 7. Jahrtausend v. Chr. bis zur Zeit Alexanders des Grossen (4. Jahrhundert v. Chr.).
Im 9. Jahrtausend begann in den Gebirgsrandzonen des Fruchtbaren Halbmonds der Übergang von Jäger- und Sammlerkulturen zur Nahrungsmittelproduktion (»neolithische Revolution«). In der ältesten Phase der Jungsteinzeit war die Töpferei noch unbekannt (»akeramisches Neolithikum«). Im 8. Jahrtausend (»keramisches Neolithikum«) existierten im Regenfeldbaugebiet des Alten Orients bereits voll ausgebildete Ackerbauern- und Viehzüchterkulturen. Obsidian- und Kupferfunde deuten auf weit reichende Austauschbeziehungen. Das Chalkolithikum (Kupferzeit, etwa 5500-3000 v. Chr.) ist fast überall im Alten Orient durch zum Teil sehr kunstvoll bemalte Keramik gekennzeichnet. Aus dem Chalkolithikum stammen die ältesten bisher festgestellten Spuren menschlicher Besiedlung in der Ebene von Euphrat und Tigris sowie im Niltal. Seit etwa 3600 v. Chr. war in der Kultur von Obeid die Töpferscheibe bekannt. Wichtige Fundorte aus vorgeschichtlicher Zeit sind: Hassuna, Jarmo, Jericho, Samarra, Susa, Tell Halaf, Tell Obeid, Tepe Sialk.
Um 3000 v. Chr. entstanden die beiden Zentren früher Hochkulturen, Ägypten und Sumer (auf dem Boden des späteren Babylonien). Sumer hatte bereits eine beträchtlich entwickelte Stadtkultur mit einer Konzentration von Güterproduktion, Fernhandel und Reservebildung in Tempeln (Uruk). Damit gingen einige wichtige kulturelle Neuerungen einher wie Großarchitektur und -plastik, Reliefkunst, Rollsiegel und Schrift. Der auf Rohstoffmangel in Mesopotamien und Ägypten zurückgehende Fernhandel verband Mesopotamien mit Afghanistan, Anatolien und der Induskultur; seit 2500 bestanden Handelsbeziehungen zwischen Ägypten und der phönikischen Küste sowie Ostafrika (Punt). Die politische Geschichte Vorderasiens wurde bis in die Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr. von den Rivalitäten der Stadtstaaten bestimmt (Eschnunna, Isin, Lagasch, Larsa, Mari, Susa, Umma, Ur, Uruk). Dazu kam der mehr oder minder starke Druck der am Rand oder außerhalb der Anbaugebiete lebenden Wanderhirtenstämme. Ägypten schloss sich politisch bereits um 2900 zusammen, in Mesopotamien bildeten sich überregionale Territorialstaaten erst Ende des 3. und Anfang des 2. Jahrtausends heraus (Sargon von Akkad, Reich der 3. Dynastie von Ur, Schamschi-Adad, Hammurapi). Die insgesamt kontinuierlicher als in Vorderasien verlaufende ägyptische Geschichte erfuhr zwei tiefe Einschnitte: den Untergang des Alten Reiches in einer sozialen Revolution (um 2160 v. Chr.) und die Herrschaft der vorderasiatischen Hyksos (etwa 1650-1550 v. Chr.). Die Geschichte des Alten Orients von etwa 1400 bis 1200 ist durch das relative Gleichgewicht mehrerer in engem diplomatischem Kontakt stehender Staaten (Ägypten, Babylonien, Mitanni, Hethiterreich, Assyrien) bestimmt.
Mit dem Ende der späten Bronzezeit vollzogen sich im vorderasiatischen Raum tief greifende Veränderungen. Die aus der Ägäis kommenden Seevölker zerstörten die Stadtstaaten Syriens und Palästinas, das Hethiterreich brach zusammen, Babylonien und Assyrien konnten ihre Staatlichkeit gegen die Aramäer nur mühsam behaupten, Ägypten wurde durch innere Schwierigkeiten geschwächt. Im 10. Jahrhundert v. Chr. begann der Wiederaufstieg Assyriens, der in Auseinandersetzung mit den Aramäerstaaten Syriens, den späthethitischen Staaten Südostanatoliens sowie Urartu (Urartäer) zum assyrischen Großreich führte, das seinerseits 612 v. Chr. durch Meder und Babylonier zerstört wurde. Das Neubabylonische Reich (Nebukadnezar II.) fiel 539 v. Chr. an die Perser, die 525 auch Ägypten eroberten. Der Siegeszug Alexanders des Großen (um 330 v. Chr.) leitete die Hellenisierung des Orients ein und gilt gleichzeitig als Ende der altorientalischen Geschichte.
Der Alte Orient hat als Umwelt des Alten Testaments und (als Ausbreitungsgebiet der hellenistischen Kultur) später auch des Neuen Testaments die Religionsgeschichte Israels und des jungen Christentums zum Teil erheblich beeinflusst. Wenn auch die zentralen religiösen Aussagen der hebräischen Bibel, insbesondere der strikte Monotheismus und die mit ihm verbundene Geschichtsauffassung, sich von der altorientalischen Religionsgeschichte (ägyptische Kultur, Religion, assyrische Kultur, Religion, babylonische Kultur, Religion, phönikische Religion) abheben, zeugt doch v. a. der Kampf der alttestamentlichen Propheten gegen die »fremden Götter« von der Bedeutung des im ganzen Orient, auch im palästinensischen Raum, lebendigen Polytheismus.
Um 3000 v. Chr. wurde in Altmesopotamien die Schrift erfunden, die zur Keilschrift weiterentwickelt wurde und vermutlich bald die Anregung zu weiteren Schriftschöpfungen (darunter die ägyptische Hieroglyphenschrift) gab; im 2. Jahrtausend v. Chr. beeinflusste sie das Entstehen alphabetischer u. a. Schriften (darunter die phönikische Schrift, die hethitischen Hieroglyphen und die altpersische Keilschrift). Die sumerische Keilschrift wurde im 3. Jahrtausend von mehreren Völkern zur Aufzeichnung von Texten in ihren Sprachen adaptiert (darunter Akkadisch, Eblisch oder Eblaitisch, Elamisch, Hurritisch). Sie wurde zur allgemeinen gebräuchlichen Schrift im Alten Orient, das Akkadische erlangte die Stellung einer internationalen Kultur-, Verkehrs-, Diplomaten- und Literatursprache. Parallel dazu wurden Regionalsprachen zu Verkehrs- und/oder Literatursprachen entwickelt, im 2. Jahrtausend v. a. Hethitisch und Ugaritisch, im 1. Jahrtausend Phönikisch und Aramäisch.
Von der reichen Literatur des Alten Orients gehört manches, wie das Gilgamesch-Epos (um 2000 v. Chr.) oder die Sonnenhymnen Echnatons (um 1360 v. Chr.), der Weltliteratur an. Darüber hinaus gab es eine umfangreiche weltliche (Märchen, Erzählungen, politische und philosophische Werke, Weisheitslehren, Liebeslieder, Gedichte und Harfnerlieder) und religiöse Literatur (Pyramidentexte, Totenbuch, Rituale, Hymnen).
Die formative Phase der Kunst Mesopotamiens setzte in vordynastischer Zeit gegen Ende des 4. Jahrtausends, v. a. in Uruk, mit einem großen Aufschwung im Tempelbau mit Neuerungen in Grundriss, Aufbau, Ausmaßen und Dekoration (Tonstiftmosaik) ein und legte den Grund für die sumerische Kunst. Zugleich traten Steinskulptur (Beterstatuetten) und Steinrelief auf, und es entstand die hoch entwickelte Rollsiegelkunst von Sumer, Akkad und Babylon. Intarsien-, Einlege- und Goldarbeiten sind seit frühdynastisch-sumerischer Zeit belegt, Bronzeplastik trat in der akkadischen Kunst hinzu. In der neusumerischen Kunst gegen Ende des 3. Jahrtausends erhielt der Tempel axiale Anordnung (Ur, Eschnunna). Die Wandmalerei ist mit den Lehmziegelbauten weitgehend verloren gegangen, Fragmente aus frühgeschichtlicher Zeit und aus dem frühen 2. Jahrtausend (Mari) sind am mittleren Euphrat erhalten. Die ägyptische Kultur und Kunst entstand innerhalb einer relativ ungestörten gesellschaftlichen Entwicklung unter Bewahrung sehr alter Kulturelemente. Ein Bewusstsein der Dauer konnte sich so ausprägen, was wiederum eine Kunst beförderte, die in der Sicherung des Lebens nach dem Tod ihre Hauptfunktion wahrnahm. Der Bau von Pyramiden, Totentempeln und größeren Grabanlagen sowie deren Ausstattung hatten eine Blütezeit von Skulptur, Relief, Wandmalerei und Kunsthandwerk zur Folge. Bronze spielte erst seit dem 2. und v. a. im 1. Jahrtausend eine Rolle. Die meist in vergänglichen Material errichteten Paläste sind archäologisch erst seit Mitte des 2. Jahrtausends fassbar. Der mesopotamische Palast entstand in dynastischer Zeit, als der königliche Wohntrakt aus dem Tempel hinausgelegt wurde. Er gewann neben dem Bau von Tempel und Zikkurat zunehmend an Bedeutung bei den rivalisierenden Städten Sumers, dann in der babylonischen Kultur (Kunst) sowie der kassitischen Kunst des 2. Jahrtausends und insbesondere in der assyrischen Kultur (Kunst) im 1. Jahrtausend. Die Kunst Babyloniens unter den Kassiten regte die Blüte der mittelelamerikanischen Kunst an (elamische Kultur, Kunst), die dann ihrerseits für die achaimenidische Kunst des Iran (iranische Kunst) von großer Bedeutung war. Die hethitische Kunst in Anatolien nahm Einflüsse der babylonischen, kassitischen und im 1. Jahrtausend der assyrischen Kunst auf, die auch sonst weit reichenden Einfluss hatte (z. B. auf die urartäische Kunst). Die späthethitische Kunst Nordsyriens beeinflusste die Entwicklung der syrischen Kunst der Aramäerzeit wie der phönikischen Kunst; beide nahmen auch kanaanäische und ägyptische Elemente auf.
Die Kenntnis der Musik der Ägypter (ägyptische Kultur, Musik), der Assyrer (assyrische Kultur, Musik), der Akkader, Babylonier und Sumerer (babylonische Kultur, Musik), der Juden (jüdische Musik) und der Phöniker (phönikische Musik) basiert auf Funden von Musikinstrumenten, bildlicher Darstellungen und literarischen Quellen. Demnach besaß der Alte Orient bereits ein reich entwickeltes Instrumentarium, kannte Solo- und Chorgesang, oft in Verbindung mit Tanz. Auch die Scheidung zwischen magisch-kultureller Musik und profaner Hofmusik ist bezeugt.
Auf dem Gebiet der Mathematik und Astronomie erreichten die Kenntnisse besonders im sumerisch-babylonischen Kulturraum einen beachtlichen Stand (babylonische Kultur, Wissenschaft) und flossen zum Teil in die ägyptische und griechische Wissenschaft ein. Die Medizin war eine Mischung aus praktischer Erfahrung und magischer Vorstellungen, suchte aber bereits auch medikamentös zu kurieren. In der Technik sind besonders die assyrischen Leistungen auf dem Gebiet des Militärwesens (Entwicklung neuer Belagerungswaffen wie z. B. Rammböcke und Sturmschilde) und im Wege-, Damm- und Aquäduktbau erwähnenswert.
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
Ägypten · ägyptische Kultur · Assyrien · assyrische Kultur · Babylonien · babylonische Kultur · Israel · Kanaan
Geschichte, Kulturgeschichte:
Reallex. der Assyriologie u. vorderasiat. Archäologie, hg. v. O. D. Edzard (1931 ff.; bis 1985: 6 Bde.);
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W. Orthmann: Der A. O., in: Propyläen-Kunstgesch., Bd. 14 (1975);
H. Freydank u. a.: Der A. O. in Stichworten (1978);
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Schrift, Literatur:
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H. Husmann: Grundlagen der antiken u. oriental. Musikkultur (1961; mit Bibliogr.);
C. Schmidt-Colinet: Die Musikinstrumente in der Kunst des A. O. (1981).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Mesopotamien und Kleinasien: Städte, Staaten, Großreiche
Universal-Lexikon. 2012.