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Tiere
Tiere
 
[althochdeutsch tior, wahrscheinlich eigentlich »atmendes Wesen«], Animalia, die Gesamtheit der eukaryontischen Organismen, die im Tierreich (regnum animalium) zusammengefasst sind und als solche dem Pflanzenreich gegenübergestellt werden. Systematisch wird das Tierreich in die Unterreiche Protozoa (einzellige Tiere) und Metazoa (vielzellige Tiere) gegliedert, mit insgesamt 30 Stämmen, wobei über die Zahl der Stämme und deren weitere systematische Unterteilung unter Wissenschaftlern keine Übereinstimmung herrscht. Sowohl einzellige (rund 40 000 Arten) als auch vielzellige Tiere (etwa 1,5 Mio. bekannte Arten) sind aus echten Zellen mit Zellkern und membranumgrenzten Zellorganellen aufgebaut. Stammesgeschichtlich können Tiere und Pflanzen auf gemeinsame einzellige Urformen zurückgeführt werden, die unter den Flagellaten zu finden sind; bei den Flagellaten werden autotrophe und heterotrophe Formen unterschieden und die Ernährungsweise ist wohl das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen den im Allgemeinen autotrophen Pflanzen und den heterotrophen Tieren. Deutlich werden die Unterschiede zwischen Pflanzen und Tieren bei den vielzelligen Organismen, wobei die sich herausbildenden Strukturmerkmale in vielem als Anpassung an die heterotrophe Ernährungsweise und die (im Gegensatz zu den Pflanzen) meist frei bewegliche Lebensweise gesehen werden können. Grundsätzlich haben die vielzelligen Tiere, bei denen der Stoffaustausch im Wesentlichen im Körperinnern stattfindet, eine eher kompakte Form mit reich gegliederten Körperhohlräumen, während Pflanzen eine im Vergleich zur Körpermasse große, reich gegliederte Oberfläche haben.
 
Trotz der großen Vielfalt im Tierreich existiert nur eine begrenzte Zahl von Grundbauplänen, da viele Tiere gemeinsame Merkmale besitzen. Wichtiges Organisationsmerkmal ist die Größe; zunehmende Größe ermöglicht und erfordert zunehmende Komplexität und Spezialisierung.
 
Stützsysteme
 
und Bewegungsapparat: Pflanzen erhalten ihre Stabilität v. a. durch den hohen Turgor der Zellen. Bei Tieren wird dies durch die Ausbildung von Bindegewebe und Faserproteinen (z. B. Kollagen, Chitin) erreicht. Stützelemente, die meist - neben kontraktilen Fasern - auch der Bewegung dienen, finden sich schon bei Einzellern. V. a. bei Wirbellosen kann ein Hydroskelett ausgebildet sein, das außer der Stützfunktion auch im Dienst der Fortbewegung stehen kann, so durch über Muskelkontraktion erzeugte peristaltische Bewegungen (z. B. bei Würmern), und das auch umfangreichere Gestaltänderungen erlaubt. Stützelemente in Form von Hartskeletten können als Außen- oder Innenskelett ausgebildet sein. Außenskelette finden sich z. B. bei den Gliederfüßern (Kutikula mit Chitineinlagerung) und bei den Weichtieren (Kalkschale). Sie haben neben der Stützfunktion auch Schutzfunktion. Bei größeren Tieren ist ein Außenskelett schon wegen des zu erwartenden Gewichts ungünstig. Sie besitzen ein Innenskelett, das bei den Chordatieren aus Knorpel oder Knochen besteht; dieses ist aufgebaut aus Kollagenfasern, die durch Calciumcarbonat, -phosphat und -silikat mineralisiert sind, wodurch ihm auch eine wichtige Rolle im Mineralhaushalt zukommt. Sowohl bei Außen- als auch bei Innenskeletten sind Gelenke ausgebildet; das Vorhandensein beweglicher Glieder erweitert - im Zusammenspiel mit Muskeln - die Möglichkeiten der Fortbewegung, dies v. a. bei landlebenden Tieren.
 
Nahrungsaufnahme
 
und Verdauung: Tiere sind auf die Aufnahme organischer Nahrung angewiesen und besitzen dementsprechend Organe, die der Nahrungsaufnahme, ihrem mechanischen Aufschluss, dem chemischen Abbau und der Resorption der Spaltprodukte dienen. Bei den vielzelligen Tieren sind zu diesem Zweck Körperhohlräume (Darmsysteme) ausgebildet, die mit der Außenwelt in Verbindung stehen. Nach der Art der Nahrungsaufnahme kann unterschieden werden zwischen Filtrierern, Säftesaugern, Schlingern, Substratfressern, Zerkleinerern (z. B. mit Radula, Mundgliedmaßen, Kaumägen, Gebiss). Der Darmtrakt besteht meist aus einem durchgehenden Darm mit Mund und After, der in morphologisch und funktionell verschiedene Abschnitte gegliedert ist. Grundsätzlich werden Vorder-, Mittel- und Enddarmabschnitte unterschieden, vielfach mit Anhangsdrüsen unterschiedlicher Funktion (Speicheldrüsen, Mitteldarmdrüsen, Leber u. a.). Die chemische Verdauung beruht auf der katalytischen Wirkung von Enzymen, die von den Anhangsdrüsen und auch den Epithelzellen der Darmwand selbst gebildet werden (bei einigen Tieren, z. B. Spinnen, kommt extraintestinale Verdauung vor). Die Resorption der Spaltprodukte geschieht über Diffusion und aktiven Transport, eine größtmögliche Resorption wird durch Vergrößerung der resorbierenden Oberfläche (Einfaltungen, Darmzotten u. a.) erreicht. Bei vielen Tieren wirken symbiontische Mikroorganismen bei der Verdauung im Darm mit (besonders wichtig für den Aufschluss von Cellulose).
 
Atmung
 
und Gasaustausch: Während bei den Pflanzen der Gasaustausch grundsätzlich an der Oberfläche erfolgt, ist dies nur bei kleineren Tieren der Fall, die im Verhältnis zum Volumen eine große Körperoberfläche haben (z. B. Hohltiere, Plattwürmer, kleine Ringelwürmer und Gliederfüßer, manche Schnecken) und durch die Haut atmen; Hautatmung kommt bei vielen Tieren auch zusätzlich zur Atmung mittels Atmungsorganen vor. An spezifischen Atmungsorganen kann man drei Grundformen unterscheiden: Bei wasserlebenden Tieren finden sich Kiemen, landlebende besitzen entweder Tracheen (Insekten, Tausendfüßer) oder Lungen.
 
Kreislaufsysteme
 
dienen der Versorgung aller Teile des Körpers mit Nährstoffen und Atemgasen sowie dem Abtransport der Abfallprodukte. Bei sehr kleinen Tieren kann dies durch einfache Diffusion geschehen, bei größeren Tieren ist eine ausreichende Versorgung aller Zellen nur durch unterstützenden Transport gewährleistet. Im einfachsten Fall liegt ein offener Kreislauf vor, das heißt, die Zellen grenzen an flüssigkeitsgefüllte Körperhöhlen, die Flüssigkeit wird durch Körperbewegungen durchmischt (z. B. bei Würmern, Weichtieren, Gliederfüßern). Bei größeren Tieren reicht dies nicht aus, hier ist ein geschlossener Kreislauf erforderlich mit einem Herzen, das die Körperflüssigkeit (Blut) in den Gefäßen durch seine Pumptätigkeit in Umlauf hält, was für die Konstanterhaltung der Lebensbedingungen aller Körperzellen wichtig ist.
 
Exkretion,
 
Wasser- und Ionenhaushalt: Die Funktion von Exkretionsorganen ist die Aufrechterhaltung der Ionenkonzentration, die Steuerung des Wassergehaltes des Körpers und die Abscheidung stickstoffhaltiger Abfallprodukte (als Ammoniak, Harnstoff, -säure). Bei den wasserlebenden Tieren dienen die Exkretionsorgane v. a. der Regulation von Wasser- und Ionenhaushalt, während bei den landlebenden Tieren die Ausscheidungsfunktion ebenso wichtig ist. Exkretionsorgane im weiteren Sinn finden sich schon bei süßwasserbewohnenden Einzellern als kontraktile Vakuolen. Exkretionsorgane im engeren Sinn sind in ihrer ursprünglichsten Form die Protonephridien, z. B. der Plattwürmer, Fadenwürmer, vieler Larven, weiterhin die bei Ringelwürmern, Gliederfüßern, Weichtieren vorkommenden Metanephridien, bei den landlebenden Gliederfüßern die Malpighi-Gefäße und bei den Wirbeltieren die Nieren.
 
Sinnesorgane
 
und Nervensysteme: Sinnesorgane dienen der Aufnahme von Reizen aus der Umwelt; um auf diese in angemessener Weise reagieren zu können sowie zur Koordination der Tätigkeit der verschiedenen Organe und Gewebe im Körper, ist bei vielzelligen Tieren ein Nervensystem ausgebildet. Schon einzellige Tiere reagieren auf Reize; bei den Vielzellern können im einfachsten Fall einzelne Sinneszellen einziges Element der Reizaufnahme sein; mit steigendem Organisationsgrad werden in Anpassung an Lebensweise und Lebensraum zunehmend kompliziert aufgebaute Sinnesorgane ausgebildet (z. B. Gehörsinnesorgane, Augen). Auch das Nervensystem wird mit zunehmendem Organisationsgrad komplexer. Hohltiere und Seeigel besitzen ein diffuses Nervennetz, zum Teil auch schon Nervenstränge. Bei den meisten Wirbellosen ist eine Bauchganglienkette ausgebildet, viele segmentierte Tiere besitzen pro Segment ein Ganglion. Bei höheren Gliederfüßern finden sich einfache Gehirne in Form z. B. der Oberschlundganglien. Am höchsten entwickelt ist das Nervensystem der Wirbeltiere.
 
Fortpflanzung
 
und Entwicklung: Sowohl ungeschlechtliche als auch geschlechtliche Fortpflanzung kommen vor, beide Formen können in einem Generationswechsel verbunden sein. Die der Erzeugung der Keimzellen dienenden Fortpflanzungsorgane liegen meist im Körperinneren (bei Pflanzen stets an der Oberfläche). Während viele wasserlebende Tiere ihre Eier und Spermien ins Wasser abgeben, überwiegt bei Landtieren innere Befruchtung, was zusätzliche Organe für die Übertragung und Aufnahme des Spermas erfordert. - In der Individualentwicklung hört bei den Tieren das Wachstum in der Regel nach Ende einer definierten Wachstumsphase auf, während Pflanzen zeitlebens wachsen.
 
Tiere haben für den Menschen in vielerlei Hinsicht Bedeutung. Viele Tiere und ihre Produkte (Eier, Honig, Milch u. a.) sind wesentliche Grundlage der Ernährung des Menschen und dienen der Herstellung von Kleidung (Felle, Leder, Wolle), Werkzeugen (Knochen, Zähne u. a.), Arzneimitteln (z. B. Schlangenseren, Immunseren) und vielen anderen Produkten. V. a. die zur Ernährung dienenden Nutztiere wurden vom Menschen schon früh in den Hausstand übernommen und planmäßig gezüchtet. In der wissenschaftlichen Forschung und v. a. in der pharmazeutischen und kosmetischen Industrie werden Tiere als Versuchstiere eingesetzt, um Substanzen auf ihre schädliche Wirkung hin zu testen. Hauptsächlich für Wirbeltiere, die er als ihm verwandte Mitgeschöpfe erkennt, kann der Mensch »Tierliebe« empfinden und sie deshalb als Haustiere halten.
 
Recht:
 
Rechtlich sind Tiere zwar keine Sachen, die für Sachen geltenden Vorschriften finden auf sie aber grundsätzlich entsprechende Anwendung (§ 90 a BGB). Tiere werden durch besondere Gesetze, insbesondere das Tierschutzgesetz, geschützt.
 
Besteht wegen der Verletzung eines Tiers ein Schadensersatzanspruch, sind die Kosten der Heilbehandlung unter Umständen auch dann zu ersetzen, wenn sie den Wert des Tiers erheblich übersteigen (§ 251 Absatz 2 Satz 2 BGB).
 
Ferner sind Haustiere von wilden Tieren zu unterscheiden. Wilde Tiere sind herrenlos, solange sie sich in Freiheit befinden; sie unterliegen dem Aneignungsrecht, das durch landesgesetzliche Bestimmungen über das Jagd- und Fischereirecht beschränkt ist (Jagdrecht). Haustiere werden, auch wenn sie verwildern, nicht herrenlos. Über die Haftung Tierhalter.
 
Religionsgeschichte:
 
Als Mitlebewesen des Menschen haben Tiere von frühesten Zeiten an Teil am religiösen Selbstverständnis und Vollzug menschlicher Gemeinschaften (Felsbilder und frühe Kleinplastik, Tierdarstellungen). In Jäger- und Viehzüchterkulturen bilden sie den Mittelpunkt kultischer und manipulativer Religiosität (Animalismus, z. B. als »Jagdzauber«), aber auch in Ackerbaukulturen und weiter differenzierten Gesellschaften gehören Tiere zum festen Bestandteil religiöser Ausdrucksformen in Lehre (Tiergottheiten, Ahnentiere, Seelentiere, Tiere als Heil- und Kulturbringer) und Kult (Opfer- und Orakeltiere, Gebrauch von Tiermasken und Tierbekleidung oder Tierteilen als Elemente des Priesterornats oder als Amulette). Zum kultischen Umgang mit Tieren gehört auch die Tempelsodomie. Eine besondere Rolle spielen Tiere im Nagualismus und Totemismus. In den meisten Religionen ist das Verhältnis zu (bestimmten) Tieren ambivalent: Neben heiligen Tieren (z. B. Kuh, Stier, Bär, Fuchs) und religiös unbedeutenden Tieren stehen solche mit dämonischem (z. B. Wolf, Ziegenbock, Katze, Ratte, Wiesel, Chamäleon) oder gar Unheil bringendem Charakter (Schlange, Drache, »Tiere der Endzeit«). Eine besondere Form des Tierkults findet sich in Jägerkulturen bei dem meist tiergestaltigen Herrn der Tiere (Sibirien, Afrika), der für Jagderfolg verantwortlich ist, die Seele der getöteten Tiere aber wieder zu sich nimmt (Skelett- oder Tierteilbestattung). An die Stelle von heiligen Tieren treten häufig auch Tierstatuen (Stier, Schlange u. a.) oder tier- beziehungsweise tierkopfgestaltige Gottheiten (z. B. in Indien, Ägypten und im Nahen Osten). In monotheistischen Religionen erscheinen sie nur noch als Symboltiere (Lamm, Fisch, Taube u. a.) oder Begleittiere (Adler, Löwe, Eule, Bär, Affe u. a.). Die Annahme, der Tierkult und der mit ihm verbundene Ahnenglaube habe am Anfang aller Religion gestanden, hat zu verschiedenen religionswissenschaftlichen (Ursprung-)Theorien geführt (Animismus, Animatismus, Präanimismus, Totemismus, Dynamismus), die die neuere Forschung aber aufgrund des spekulativen Charakters zunehmend infrage stellt.
 
Zur Literatur Tierdichtung.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Atmung · Blutkreislauf · Darm · Domestikation · Entwicklung · Ernährung · Exkretion · Fortpflanzung · Muskeln · Nervensystem · Sinnesorgane · Skelett · Systematik · Tierschutz · Tierversuche · Verdauung
 
Literatur:
 
Biologie:
 
U. Welsch u. V. Storch: Einf. in die Cytologie u. Histologie der T. (1973);
 A. Kaestner: Lb. der speziellen Zoologie, auf zahlr. Tl.-Bde. ber. (41980 ff.);
 
Lb. der Zoologie, begr. v. H. Wurmbach, fortgef. u. hg. v. R. Siewing, 2 Bde. (31980-85);
 
Grzimeks Tierleben. Enzykl. des Tierreichs, hg. v. B. Grzimek u. a., 13 Bde. (Neudr. 1993);
 K. Urich: Vergleichende Biochemie der T. (1990);
 
Urania-Tierreich, 6 Bde. in 7 Tlen. (Neuausg. 1993-2000).
 
Religionsgeschichte:
 
H. Findeisen: Das Tier als Gott, Dämon u. Ahne (1956);
 
J. Paulson: Schutzgeister u. Gottheiten des Wildes in Nordeurasien (Stockholm 1961);
 
K. Sälzle: Tier u. Mensch, Gottheit u. Dämon (1965);
 
K. Myśliwiec: Studien zum Gott Atum, Bd. 1: Die hl. T. des Atum (1978);
 
D. Kessler: Die hl. T. u. der König, Tl. 1: Beitrr. zu Organisation, Kult u. Theologie der spätzeitl. Tierfriedhöfe (1989);
 
H. M. Lins: T. in der Mythologie u. ihre religiöse Symbolkraft (21994).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Evolution: Tiere erobern das Festland
 
Lebewesen: Die Vielfalt
 

Universal-Lexikon. 2012.