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Hölderlin
Họ̈lderlin,
 
Johann Christian Friedrich, Dichter, * Lauffen am Neckar 20. 3. 1770, ✝ Tübingen 7. 6. 1843; wuchs nach dem frühen Tod seines Vaters, des Klosterhofmeisters Heinrich Friedrich Hölderlin, und seines Stiefvaters, des Nürtinger Bürgermeisters Johann Christoph Gock (✝ 1779), in enger Bindung an seine pietistisch-fromme Mutter auf, die ihn für das Pfarramt bestimmte. 1784-88 besuchte er die Klosterschulen Denkendorf und Maulbronn, studierte dann bis 1793 evangelische Theologie in Tübingen und wohnte im Tübinger Stift. Seine Abneigung gegen das geistliche Amt wurde durch die Atmosphäre im Stift bestärkt; die philosophischen Studien brachten ihn in Verbindung mit G. W. F. Hegel und F. W. J. von Schelling. Die Französische Revolution fand im Stift und bei Hölderlin lebhaften Widerhall und hinterließ tiefe Spuren in seinem Werk. Ende 1793 kam er, von Schiller empfohlen, als Hofmeister zu Charlotte von Kalb nach Waltershausen. 1795 löste er diese Verpflichtung und lebte vorübergehend in Jena, wo er mit I. von Sinclair Freundschaft schloss. Unter dem übermächtigen Eindruck Schillers und J. G. Fichtes geriet er in eine seelische Krise und verließ Jena. Zu Beginn des Jahres 1796 wurde er Hofmeister im Hause des Frankfurter Bankiers J. F. Gontard. Zwischen dessen Frau Susette und Hölderlin entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, Susette Gontard ging als »Diotima« in Hölderlins Dichtung ein. 1798 kam es unter für Hölderlin erniedrigenden Umständen zum Bruch mit der Familie. Bis Mitte des Jahres 1800 lebte er in Bad Homburg bei Sinclair, den Sommer 1800 verbrachte er teils in Stuttgart im Hause des befreundeten Kaufmanns C. Landauer, teils in Nürtingen. 1801 wurde er Hofmeister in Hauptwil (bei Sankt Gallen), 1802 in Bordeaux, von wo er im Juni für zwei Jahre ins Haus seiner Mutter heimkehrte - mit den ersten Anzeichen geistiger Erkrankung. Sinclair nahm sich seiner an, nahm ihn auf eine Reise zum Regensburger Reichstag mit (September/Oktober 1802) und holte ihn 1804 als Bibliothekar nach Bad Homburg. 1805 wurde Sinclair unter dem Verdacht revolutionärer Verschwörung verhaftet. Hölderlin wurde im September 1806 in die Tübinger Heilanstalt gebracht, aus der er im Sommer 1807 als unheilbar entlassen wurde. Den Rest seines Lebens verbrachte Hölderlin dann in der Obhut der Tübinger Schreinersfamilie Zimmer, die ihn in ihrem am Neckar gelegenen Turm (»Hölderlinturm«) pflegte.
 
Hölderlins außerordentliches, durch Streben nach Reinheit und Frömmigkeit bestimmtes Wesen, das schon früh überschattet war vom Gefühl der Einsamkeit, der Unruhe, Unstetigkeit und »Zerstörbarkeit«, prägte seine Dichtung, die sich in einem vergeblichen Ringen um Anerkennung neben den großen Strömungen der Klassik und Romantik entwickelte. Mit seiner vom absoluten Anspruch bestimmten Vorstellung vom Dichter, dessen Beruf es sei, »zu rühmen Höheres«, geriet er in Spannung zu den Anforderungen der bürgerlichen Welt und einer dem Dichter feindlichen »dürftigen Zeit«. Er wurde zum Verkünder einer neuen Zeit der Versöhnung aller Gegensätze, eines neuen goldenen Zeitalters der Schönheit und Götternähe, wie er es bei den Griechen ideal vorgebildet sah. Die Französische Revolution erschien ihm als die große Zeitenwende. Die prophetische Grundhaltung seines Dichtertums fand ihre Ausprägung in einem lyrisch-hymnischen Ton, der allen seinen Werken das unverwechselbare Gepräge verleiht.
 
Unter dem Einfluss des Pietismus, Klopstocks Odendichtung, C. F. Schubarts, der Brüder Stolberg-Stolberg und Höltys entstanden die ersten Maulbronner Gedichte. Angeregt durch die Lyrik des jungen Schiller und die Ideen der Französischen Revolution, schrieb Hölderlin die Tübinger Reimhymnen, in denen der religiöse Impuls seiner Dichtung bereits voll ausgebildet ist. Das Gefühl für Susette Gontard, in dem für Hölderlin das Ewige im »göttlichen Augenblick« der Liebe Gegenwart gewann und in dem das dissonante Verhältnis von Ich und Welt im Anschauen der »ewigen Schönheit« seinen Frieden fand, gestaltete er in den Diotima-Gedichten und in den Frankfurter »epigrammatischen« Oden in antiken Versmaßen. Hier wie in den Elegien in Distichen (»Menons Klagen um Diotima«, »Der Wanderer«, »Stuttgart«, »Brot und Wein«, »Heimkunft«) gelang ihm die vollkommene Übertragung der antiken Metrik auf die deutsche Sprache. Die späten, freirhythmischen Hymnen (»Der Mutter Erde«, »Am Quell der Donau«, »Die Wanderung«, »Der Rhein«, »Friedensfeier«, »Der Einzige«, »Patmos« u. a.) sind Ausdruck einer pantheistischen Einigkeitssehnsucht mit dem Göttlichen. Diese war bereits das Thema von Hölderlins lyrischem Briefroman »Hyperion oder der Eremit in Griechenland« (4. Fassung, 1797-99, 2 Bände). In den drei fragmentarischen Fassungen des Trauerspiels »Der Tod des Empedokles« (entstanden 1798-1800, gedruckt 1826) wird der legendäre Freitod des antiken Philosophen im Ätna aufgegriffen. Die Thematik der durch den freiwilligen Tod gewonnenen Wiedergeburt eines Volkes und der Befreiung des Lebens vom monarchischen Prinzip steht in engem Zusammenhang mit den republikanischen Revolutionsbestrebungen in Schwaben. - Hölderlins dichterische Arbeiten waren begleitet von Übersetzungen der Trauerspiele des Sophokles (1804, 2 Bände) und dichtungstheoretischen Abhandlungen über das »kalkulable Gesetz« der Dichtung (»Über die verschiedenen Arten zu dichten«, »Wechsel der Töne«, »Über die Verfahrensweise des poetischen Geistes«, »Über den Unterschied der Dichtarten« u. a.).
 
Hölderlins Dichtung fand erst im 20. Jahrhundert volle Anerkennung. Für viele moderne Lyriker wurde er zur Leitfigur. Unter dem Einfluss der von P. Bertaux ausgehenden neueren Hölderlinforschung schrieb P. Weiss das Drama »Hölderlin« (1971), das die gesellschaftliche Problematik im Leben Hölderlins thematisiert; auch P. Härtling griff Hölderlin als Motiv in »Hölderlin. Ein Roman« (1976) auf.
 
Ausgaben: Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von F. Zinkernagel, 5 Bände (1914-26); Sämtliche Werke, herausgegeben von N. von Hellingrath und anderen, 6 Bände (2-31923-43); Sämtliche Werke (Große Stuttgarter Ausgabe), herausgegeben von F. Beissner, 8 Bände (1-21943-85); Sämtliche Werke, herausgegeben von D. E. Sattler und anderen, auf 24 Bände berechnet (1975 folgende, historisch-kritische Ausgabe); Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von G. Mieth, 2 Bände (51989).
 
Literatur:
 
N. von Hellingrath: H.-Vermächtnis (21944);
 
H.-Jb., Jg. 2 ff. (1947 ff.; Jg. 1 u. d. T. Iduna. Jb. der H.-Gesellschaft 1944);
 M. Kohler u. A. Kelletat: H.-Bibliogr. 1938-1950 (1953);
 F. Beissner: H. heute. Der lange Weg des Dichters zu seinem Ruhm (1963);
 F. Beissner: H. Reden u. Aufs. (21969);
 W. Michel: Das Leben F. H.s (Neuausg. 1967);
 L. Ryan: F. H. (21967);
 
H. Eine Chronik in Text u. Bild, hg. v. A. Beck u. a. (1970);
 
H. ohne Mythos, hg. v. I. Riedel (1973);
 
F. H., hg. v. G. Krämer u. a. (1981);
 U. Peters: H. Wider die These vom edlen Simulanten (1982);
 P. Szondi: H.-Studien (Neuausg. 1984);
 P. Bertaux: H.-Variationen (1984);
 P. Bertaux: F. H. (61994);
 P. Bertaux: H. u. die Frz. Revolution (Neuausg. 1996);
 
Internat. H.-Bibliogr., hg. vom H.-Archiv der Württemberg. Landesbibliothek Stuttgart (1985 ff., ersch. unregelmäßig);
 
F. H. Dokumente seines Lebens, hg. v. H. Hesse u. a. (31985);
 S. Wackwitz: F. H. (1985);
 W. Binder: F. H. Studien (1987);
 
H. u. Nürtingen, hg. v. P. Härtling u. G. Kurz (1994);
 
Neue Wege zu H., hg. v. U. Beyer (1994);
 U. Häussermann: F. H. (98.-100. Tsd. 1995).
 

Universal-Lexikon. 2012.