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Es|say 〈[ ɛ̣sɛı] m. 6 oder n. 15; Lit.〉 literar. Kunstform, Abhandlung in knapper, geistvoller, allgemein verständlicher Form; oV Essai [engl., „Versuch“]
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Es|say ['ɛse , auch, österr. nur: ɛ'se: ], der od. das; -s, -s [engl. essay < mfrz. essai = Probe, (literarischer) Versuch < lat. exagium = das Wägen]:
Abhandlung, die eine literarische od. wissenschaftliche Frage in knapper u. anspruchsvoller Form behandelt.
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Essay
['ɛse, englisch 'eseɪ; eigentlich »(literarischer) Versuch«, »Probe«] der oder das, -s/-s, Abhandlung, die einen Gegenstand auf besondere Weise erörtert: Der Essay unterscheidet sich einerseits durch Stilbewusstsein und subjektive Formulierung von der objektiven, wissenschaftlichen Abhandlung (der Übergang zu dieser ist jedoch fließend), andererseits durch breitere Anlage und gedanklichen Anspruch vom journalistischen Feuilleton. Auch mit der wörtlichen Übersetzung »Versuch« lässt sich seine Besonderheit zum Teil erfassen. Dem Essay haftet etwas Fragmentarisches, Bewegliches, Momenthaftes, Gesprächhaftes, manchmal auch Spielerisches an. Er stellt, meist ohne objektivierende Distanz, in unmittelbarer, freier, intuitiver Weise Querverbindungen her; dabei verzichtet der Essayist bewusst auf ein Denken im Rahmen von festgelegten Systemen. Essayist. Literatur sucht eher nach Fragen als nach Lösungen. Die Offenheit des Denkprozesses stellt den Essay zu den offenen literarischen Formen wie Brief, Tagebuch, Dialog, Diatribe, Miszelle; seine Struktur als ästhetisches Gebilde aber verleiht ihm starke Geschlossenheit. Die Intention des Essays ist häufig Kulturkritik (auch am Beispiel naturwissenschaftlicher Themen) als Kritik an etablierten Meinungen. Der inhaltlichen Beweglichkeit des Essays entspricht im Idealfall seine stilistische, oft aphoristische, artistische Leichtigkeit oder auch Eleganz.
Dem Essay vergleichbare Darstellungsformen finden sich in der Antike u. a. bei Plutarch (»Moralia«), Cicero, Seneca der Jüngere (»Epistulae morales ad Lucilium«), Horaz, Catull, Mark Aurel und Gellius (»Noctes atticae«).
Als Schöpfer der Kunstform des Essays gilt M. de Montaigne (»Les essais«, 1580-95); sein Essay ist Absage an alle Systematik und reiner Ausdruck der Persönlichkeit. F. Bacon übernahm von ihm das Wort Essay, fand aber eine eigene Form; seine »Essays« (1597, erweitert 1612, 1625) sind der aphoristische und zur Maxime strebende Ausdruck eigener Erfahrung. In der Folge wurden philosophische (R. Descartes, B. Pascal, J. Locke, G. W. Leibniz, D. Hume) und naturwissenschaftliche Themen (R. Boyle) in der Form des Essays abgehandelt, die Bezeichnung diente hier dazu, den Fragmentcharakter der Abhandlung zu betonen. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich in Großbritannien der Zeitschriftenessay (R. Steele, J. Addison, S. Johnson mit den moralischen Wochenschriften, O. Goldsmith), auf den das spätere Feuilleton zurückgeht. In Frankreich war der Essay eine bevorzugte Form der Moralisten und der Aufklärer (u. a. bei Montesquieu, Voltaire, D. Diderot und N. de Chamfort). In Deutschland begann sich die Gattung im 18. Jahrhundert einzubürgern (G. E. Lessing, J. G. Herder, J. J. Winckelmann, J. Möser, Goethe, Schiller, C. M. Wieland, G. Forster, G. C. Lichtenberg).
Erst im 19. Jahrhundert wurden alle ästhetischen Möglichkeiten des Essays realisiert. In Großbritannien sind neben C. Lamb, W. Hazlitt, J. H. L. Hunt, T. De Quincey besonders bemerkenswert T. Carlyle, T. B. Macaulay, M. Arnold, J. Ruskin; in den USA W. Irving, E. A. Poe, H. D. Thoreau (»Walden«, 1854), O. W. Holmes, J. R. Lowell; in Frankreich F. de Lamennais, C. Baudelaire, J.-A. de Gobineau, C. A. Sainte-Beuve, H. Taine, die Brüder Goncourt, P. Bourget. Der deutsche Essay erreichte einen ersten Höhepunkt mit F. von Schlegel, der auch wichtige Einsichten zur Theorie der Gattung formulierte; mit Herman Grimm, der sich an der Essayauffassung des Amerikaners R. W. Emerson (»Essays«, 1841-44) orientierte, erreichte die deutsche Essayistik den Anschluss an die europäische Tradition. Weiter sind zu nennen A. und W. von Humboldt, J. Burckhardt, K. Hillebrand, O. Gildemeister, J. P. Fallmerayer, F. Kürnberger. Am Ende des Jahrhunderts wird der Essay zur Ausdrucksform sowohl zweckfreier Ästhetik (O. Wilde, W. H. Pater) als auch eines revolutionären Philosophierens (F. Nietzsche).
Der Essay hat sich als geeignete Form erwiesen, Probleme von Krisen- und Umbruchzeiten zu diskutieren. Dies spiegelt sich in der Fülle der philosophischen, literarischen, kunst- und kulturkritischen Essays, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat und die oft programmatische Bedeutung für geistige Strömungen hatten. Als bedeutende Essayisten dieses Jahrhunderts sind zu nennen: in Großbritannien u. a. H. Belloc, G. K. Chesterton, A. Huxley, T. S. Eliot, E. M. Forster, W. H. Auden, die Iren J. Joyce und W. B. Yeats; in den USA G. Santayana, die Vertreter des »New Criticism« (R. P. Blackmur, C. Brooks, K. Burke, J. C. Ransom, Y. Winters) sowie Laura Riding und Susan Sontag; in Frankreich H. Bergson, A. France, C. Maurras, C. Péguy, P. Valéry, A. Gide, P. Claudel, C. Du Bos, J.-P. Sartre, Simone de Beauvoir, A. Camus, R. Barthes; in Italien A. Baldini, E. Cecchi, B. Croce, U. Eco; in Spanien Á. Ganivet, M. de Unamuno, R. de Maeztu y Whitney, J. Ortega y Gasset, J. Bergamín, P. Laín Entralgo; in Argentinien J. L. Borges; in Mexiko O. Paz; in Polen K. Brandys, J. Kott, L. Kołakowski; in der deutschsprachigen Literatur, häufig von der Literaturkritik und Literaturwissenschaft herkommend, H. von Hofmannsthal, R. Borchardt, R. Kassner, H. und T. Mann, C. J. Burckhardt, M. Kommerell, E. R. Curtius, E. und F. G. Jünger, M. Rychner, H. E. Holthusen, W. Jens, W. Kraft, Hilde Spiel, Hans Mayer, Werner Krauss, stark gesellschaftsbezogen etwa H. M. Enzensberger und die jüngeren Autoren J. Dahl, B. Guggenberger, M. Schneider, P. Schneider, Barbara Sichtermann, G. Kunert, P. Sloterdijk, Gisela von Wysocki; von der Philosophie oder Soziologie herkommend G. Simmel, W. Benjamin, S. Kracauer, E. Bloch, J. Pieper, T. W. Adorno, J. Améry, O. Marquard; in der Psychologie S. Freud als hervorragender Stilist; v. a. Naturwissenschaften einbeziehend C. F. von Weizsäcker, W. Heisenberg, R. Jungk u. a. - Neue Verwendungsmöglichkeiten erfährt der Essay in Hörfunk und Fernsehen in der Form des Features. - Mit Essayismus bezeichnet die moderne Literaturkritik vielfach ein Stil- und Gestaltungsprinzip in erzählerischen Texten, die spezifische Formen und Funktionen des Essays (z. B. im Roman) als Mittel besonderer Wirklichkeitsdarstellung einsetzen.
Wichtige Preise für Essayistik im deutschsprachigen Raum sind der »Johann-Heinrich-Merck-Preis«, seit 1964 verliehen von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung; der »Ernst-Robert-Curtius-Preis«, 1984 gestiftet von dem Bonner Verleger T. Grundmann und der »Europapreis für Essay«, der seit 1974 von der Stiftung Charles Veillon vergeben wird.
P. M. Schon: Vorformen des E. in Antike u. Humanismus (1954);
R. Berger: Der E. (Bern 1964);
L. Rohner: Der dt. E. (1966);
D. Bachmann: E. u. Essayismus (1969);
G. Haas: E. (1969);
G. Lukács: Die Seele u. die Formen (a. d. Ungar., Neuausg. 1971);
T. W. Adorno: Noten zur Lit. (Neuausg. 1981);
Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa, hg. v. K. Weissenberger (1985);
W. Müller-Funk: Erfahrung u. Experiment. Studien zur Theorie u. Gesch. des Essayismus (1995).
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Es|say ['ɛse, ɛ'se:], der od. das; -s, -s [engl. essay < mfrz. essai = Probe, (literarischer) Versuch < lat. exagium = das Wägen]: Abhandlung, die eine literarische od. wissenschaftliche Frage in knapper u. anspruchsvoller Form behandelt: Der E. ist darum „im Kern“, von seinem Ursprung bei Montaigne und Bacon her, „Möglichkeitserwägung“ (Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2, 1970, 27); Immer wieder der Wunsch, über Picasso zu schreiben; einen größeren E., vielleicht ein Buch (K. Mann, Wendepunkt 368); de Quincey in seinem satirischen E. ,Der Mord als eine der schönen Künste betrachtet` (Reinig, Schiffe 119).
Universal-Lexikon. 2012.