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Sozialstaat
So|zi|al|staat 〈m. 23Staat, der versucht, soziale Ungleichheiten zu verringern bzw. abzubauen

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So|zi|al|staat, der:
demokratischer Staat, der bestrebt ist, die wirtschaftliche Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten u. soziale Gegensätze innerhalb der Gesellschaft auszugleichen.

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Sozialstaat,
 
Bezeichnung für die Staatstätigkeit und die Organisation der staatlichen Herrschaft, die Zielen des sozialen Ausgleichs und der sozialen Sicherung verpflichtet ist. Als Sozialstaat wird ein Staatstypus bezeichnet, dessen Politik, Rechtsordnung und Verwaltung - im Gegensatz zum »liberalen Rechtsstaat« und zum Obrigkeitsstaat, aber auch im Unterschied zu einem umfassenden Versorgungsstaat - die Sozialordnung nach bestimmten Zielen im Rahmen rechtsstaatlicher Verfassung gestaltet.
 
Zu den Zielen des entwickelten Sozialstaats werden in der Regel gezählt: Hilfe gegen Not und Armut und Bereitstellung einer angemessenen »Daseinsvorsorge« (unter Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips); Mehrung sozialer Gerechtigkeit durch Verminderung von großen Wohlstandsdifferenzen; Sicherung gegenüber typischen Risiken ausgeprägt arbeitsteiliger Gesellschaftssysteme wie Alter, Invalidität, Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Arbeitslosigkeit; Chancengleichheit; Anhebung und Verbreitung des Wohlstandes; Stützung der Selbsthilfe- und Selbstregulierungsfähigkeit der am Wirtschaftsprozess Beteiligten mittels gesetzgeberischer Gestaltung des kollektiven Arbeitsrechts. Zur Erreichung dieser Ziele bedient sich der Sozialstaat einer Vielzahl von Geboten und Verboten sowie von leistungserbringenden und verteilungspolitischen Instrumenten, die von der Sozialversicherung u. a. Instrumenten der Sozialpolitik über Bildungs- und Wohnungspolitik bis zur Ordnung des Arbeitslebens und zur Steuer-, Einkommens- und Vermögenspolitik reichen.
 
 Begriffsgeschichte
 
Eine Vorform des modernen Sozialstaatsgedankens findet sich im Staatsdenken des kontinentaleuropäischen Absolutismus, dem »gute Policey« (im Sinne »guter« innerer Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten) als eine Leitlinie staatlichen Handelns galt. Der moderne Sozialstaatsgedanke wird in der Regel auf das Konzept des Staates der sozialen Reform zurückgeführt, das L. von Stein (zuerst in »Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs«, 1842) den Monarchien des 19. Jahrhunderts als Antwort auf die durch Industrialisierung, Verstädterung und Verarmung aufgeworfene soziale Frage empfahl. Der Staat müsse als Rechtsstaat die Gleichheit des Rechts gegenüber den Unterschieden zwischen sozialen Klassen aufrechterhalten, aber auch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt aller seiner Angehörigen fördern; in diesem Sinne spricht von Stein in »Gegenwart und Zukunft der Rechts- und Staatswissenschaft Deutschlands« (1876) vom »socialen Staate«.
 
Das Konzept des interventionsstaatlich erzielten sozialen Ausgleichs wurde - in begrifflich unterschiedlicher Form und in unterschiedlichen politischen Kontexten - in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in der Staatstheorie konservativer Theoretiker (z. B. V. A. Huber), in der katholischen Soziallehre (z. B. W. E. von Ketteler), in der Genossenschaftsbewegung (z. B. H. Schulze-Delitzsch), in der Gewerkschaftsbewegung (z. B. M. Hirsch und F. Duncker), im gewerkschaftlichen Flügel der sozialistischen Arbeiterbewegung (F. Lassalle) sowie im 20. Jahrhundert besonders von H. Heller sowie von der Staatsrechtslehre (z. B. E. Forsthoff und Hans F. Zacher, * 1928) und der Politikwissenschaft (z. B. Hans-Hermann Hartwich, * 1928) in der Bundesrepublik Deutschland aufgegriffen, aber auch - mit totalitärer Deformierung - von Theoretikern des nationalsozialistischen Staates. Mit der Einführung der Sozialversicherung des Deutschen Reiches in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der Sozialstaat erstmals mit Regierungspraxis größerer Intensität verbunden.
 
Dem Inhalt nach ist der Sozialstaatsgedanke älteren Datums; der Begriff selbst wurde im 19. Jahrhundert schon vereinzelt verwendet. Allgemeingut der verfassungspolitischen Diskussion wurde er in der Weimarer Republik - bahnbrechend war Hellers Beitrag zur Lehre vom »sozialen Rechtsstaat« - und v. a. in der Bundesrepublik Deutschland durch die verfassungsnormative Anerkennung sozialer Staatsziele und die verfassungspolitischen und verfassungsrechtlichen Debatten über Inhalte des Grundgesetzes (GG), die Beziehung zwischen »Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit« (Forsthoff), das »Sozialstaatspostulat« (Hartwich) und den Zusammenhang von »Sozialstaatsprinzip und Wirtschaftsordnung« (Otto Ernst Kempen, * 1942).
 
 Verfassungsrechtliche Verankerung
 
Vom Sozialstaat ist im GG nicht wörtlich, aber sinngemäß die Rede. Laut Artikel 20 Absatz 1 GG ist die Bundesrepublik Deutschland »ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«, und gemäß Artikel 28 Absatz 1 GG muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern »den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen«. Das hierdurch vorgegebene »soziale Staatsziel« (Zacher) gehört mit den Prinzipien der republikanischen Staatsform, der Demokratie, des Rechtsstaates und des Bundesstaates zu den fundamentalen Normen des Staates und ist mit ihnen im Geltungsbereich des GG unabänderlich.
 
In der Länderverfassungsgebung vor 1949 wurde Baden als »demokratischer und sozialer Freistaat«, Württemberg-Baden als »demokratischer und sozialer Volksstaat« und Rheinland-Pfalz als »demokratischer und sozialer Gliedstaat Deutschlands« benannt; Bayern bezeichnet der Verfassungsgeber explizit als einen »Rechts-, Kultur- und Sozialstaat«. Uneinheitlicher sind die nach dem GG erlassenen Landesverfassungen: Einige Länder übernehmen das Sozialstaatspostulat und fügen konkretere soziale Programmatik hinzu (z. B. Berlin), andere sind zurückhaltender (z. B. Schleswig-Holstein).
 
 Inhalte des Sozialstaats
 
Theorieunterschiede:
 
Inhalt und Reichweite der Sozialstaatsnorm des GG sind umstritten. Dafür sind weltanschauliche Unterschiede und Differenzen des wissenschaftlichen Ansatzes verantwortlich. V. a. die gesellschaftskritische Schule der Verfassungsanalyse (z. B. W. Abendroth, Hartwich) misst dem Sozialstaat verfassungsrechtlich Vorrang und Verpflichtung zur aktiv-reformerischen Gestaltung der Sozial- und Wirtschaftsordnung bei, während die Schule konservativer Staatslehre (z. B. Forsthoff) dem Sozialstaat »Rang und Geltung nur unterhalb des Verfassungsrechts« (Werner Weber, * 1904, ✝ 1976) zuspricht und ihn generell beschränken will. Die gesellschaftskritische Schule befürwortet »die Fortführung der politischen zur wirtschaftlichen Demokratie«, »die Ausdehnung des materiellen Rechtsstaatsgedankens auf die Arbeits- und Güterordnung« (Heller); sie will »den reinen Rechtsstaat zum demokratisch-sozialen Wohlfahrtsstaat dadurch umwandeln, dass sie die, Anarchie der Produktion' durch eine gerechte Ordnung des Wirtschaftslebens zu ersetzen strebt« (Heller). Hierin sieht die gesellschaftskritische Schule die Voraussetzung für Freiheit und für volle Verwirklichung von staatsbürgerlicher Gleichheit. Die Schule der konservativen Staatslehre hingegen betont den Vorrang des Rechtsstaatlichen und das Spannungsverhältnis zwischen Sozialstaatlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Sie warnt vor der Untergrabung Letzterer durch Erstere sowie vor der potenziellen Einschränkung von Freiheit durch ein Übermaß an Sozialstaatlichkeit. Vermittelnde Positionen hingegen betonen die tief verwurzelte Verschwisterung von sozialem Staatsziel und Rechtsstaat: Beiden komme durch Artikel 28 Absatz 1 GG gleicher Rang zu.
 
Konkrete Ausgestaltung:
 
Trotz der Auseinandersetzung über die staatsrechtliche Bedeutung des Sozialstaats besteht zwischen den unterschiedlichen Positionen weitgehend Konsens über die Notwendigkeit eines erheblichen Ausmaßes staatlicher sozialer »Daseinsvorsorge« (Forsthoff unter begrifflichem Rückgriff auf K. Jaspers). Auch halten Verfassung und Verfassungsauslegung den Spielraum von Politik und Gesetzgeber für sozialstaatliche Gestaltung hinreichend offen, der, wie die Geschichte sozialstaatlicher Eingriffe lehrt, weitgehend genutzt wurde. Die Inhalte, Bestimmungsfaktoren und Auswirkungen konkreter sozialstaatlicher Politik sind Gegenstand der - zunächst vorwiegend von Wirtschaftswissenschaftlern und Sozialhistorikern, zunehmend auch von Soziologen und Politologen betriebenen - Forschung zur Regierungspraxis des Sozialstaats, wobei der Schwerpunkt auf den Bereichen soziale Sicherheit und gesetzliche Regulierung des kollektiven Arbeitsrechts liegt.
 
Früher als in anderen Ländern - und auf niedrigerem Niveau wirtschaftlicher Entwicklung - begann eine systematische Sozialstaatspolitik in Deutschland unter Bismarck. Diese war nicht nur auf das Ziel der Armutsbekämpfung gerichtet und von fürsorglich-paternalistischen Motiven geprägt, sondern primär durch ein staatspolitisches Kalkül motiviert: Die Arbeiterschaft sollte mittels sozialer Leistungen (das »Zuckerbrot«) an den monarchischen Staat gebunden und die Sozialdemokratie durch das repressive Sozialistengesetz (die »Peitsche«) geschwächt werden. Beide Ziele wurden nicht erreicht. Als langfristig erfolgreicher erwies sich der Gedanke des durch sozialstaatliche Eingriffe erzielten Schutzes. Zunächst galt er v. a. der Industriearbeiterschaft, wurde aber kontinuierlich noch im Kaiserreich auch auf besser gestellte Arbeitnehmer ausgeweitet, unter Betonung von Statusdifferenzen zwischen Arbeiterschaft und Angestellten.
 
Im Zentrum der sozialstaatlichen Tätigkeit des Deutschen Reiches von 1871 stand zunächst die Arbeiterfrage. Der Arbeitsschutz und die Arbeitsordnung wie auch die Anerkennung der Gewerkschaften jedoch wurden lange ausgeklammert und nur zögernd in kleinen Schritten eingeführt. Der Kurswechsel erfolgte während des Ersten Weltkriegs und wurde in der Weimarer Republik zum Auf- und Ausbau eines umfassender konzipierten Sozialstaats weitergeführt. Was als typisch soziale Errungenschaft der Weimarer Republik zählt und zwischen 1918 und 1920 gesetzlich fixiert wurde, lässt sich wesentlich auf die Praxis der »militärischen Sozialpolitik« (Werner Abelshauser, * 1944) zurückführen, die in der Kriegswirtschaft zur Stärkung der Solidarität der Bevölkerung mit der Kriegführung und zwecks Erhöhung der Arbeitsproduktivität eingeführt wurde: Die volle Anerkennung der Gewerkschaften als Arbeitnehmervertretungen und die Mitbestimmung durch Einführung von Betriebsräten, Koalitionsfreiheit und tarifvertraglich geregelte Lohnpolitik sowie der Ausbau der Arbeitslosenunterstützung, des Arbeitsschutzes, des Mietrechts und des Mutterschutzes zählten ebenso zu den von der Arbeiterbewegung seit langem geforderten Neuerungen wie die Bewirtschaftung des Wohnraums.
 
Die nationalsozialistische Sozialstaatspolitik war gekennzeichnet durch eine widersprüchliche Mischung aus Kontinuität (z. B. in der Struktur der sozialen Sicherungssysteme) und Diskontinuität (z. B. Zerschlagung der Gewerkschaften und Arbeiterparteien sowie Einführung einer autoritären Arbeitsordnung), von Leistungsverbesserungen (z. B. Ausdehnung des Kreises der Sozialversicherten, Mutterschaftsschutz) und Leistungseinschränkung (z. B. niedriges Sozialleistungsniveau), von Beschäftigung und Schutz für die »Volksgenossen«, im Besonderen für die »schaffenden Deutschen«, und Repression sowie Ausgrenzung der aus rassischen und politischen Gründen außerhalb der »Volksgemeinschaft« Gestellten und Verfolgten.
 
Die Sozialstaatspolitik der Bundesrepublik Deutschland knüpfte wieder an die zivilgesellschaftlichen Traditionen besonders der Weimarer Republik an und baute sie zu einem - auch im internationalen Vergleich - hoch entwickelten, leistungsfähigen Sozialstaat aus.
 
 Alte und neue soziale Fragen
 
Gegenstand und Zielkatalog der Sozialstaatspolitik wurden mit zunehmender staatlicher Intervention in Gesellschaft und Wirtschaft erweitert und von dem engen Bezug auf Armut und Arbeiterschaft gelöst. Der Erste Weltkrieg und seine Folgen sowie die Krisenjahre der Weimarer Republik ließen neue benachteiligte Gruppen und neuen Regelungsbedarf entstehen: Kriegsopfer, Kriegsgeschädigte, Witwen, kinderreiche Familien, Mieter und - mit der Verschärfung der Wirtschaftskrise am Ende der Weimarer Republik - auch das Millionenheer der Erwerbslosen und der deklassierten mittelständischen Existenzen. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg rückten nicht nur »Besser-Schlechter-Relationen« (Zacher) zwischen sozialen Klassen oder Gruppen ins Zentrum der Sozialstaatspolitik, sondern auch Ungleichgewichte zwischen Lebensbereichen (z. B. Arbeit, Wohnen, Umwelt), Lebenssituationen (z. B. Berufstätigkeit versus Altersruhestand) sowie zwischen Regionen (z. B. Wahrung gleichwertiger Lebensverhältnisse sowie der Rechts- und Wirtschaftseinheit in den Bundesländern gemäß Artikel 72 Absatz 3 GG). In der Bundesrepublik wurde der Sozialstaat besonders weit ausgebaut: Das Netz der sozialen Sicherung wurde dichter (z. B. durch Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung), zahlreiche Sozialleistungen wurden dynamisiert (z. B. durch die Anbindung der Altersrenten an die Entwicklung der Bruttolöhne, später der Nettolöhne), das Bildungswesen wurde ausgebaut und verbreitert. Dem Ausbau des Sozialstaats liegen gesellschaftliche und politische Bedingungen zugrunde, wie der zunehmende Bedarf an sozialstaatlicher Daseinsvorsorge aufgrund der veränderten Altersgliederung (z. B. im Zusammenhang mit dem Problem der Pflegebedürftigkeit), die wachsende Bedeutung von sozialstaatlicher Leistung und Verteilung für das Wählerverhalten, ein intensivierter Parteienwettbewerb (der in Prosperitätsphasen bisweilen »Sozialpolitik-Wettläufe« zwischen Regierung und Opposition erzeugte), ferner besitzstandswahrende oder -stärkende Effekte des Arbeits- und Sozialrechts sowie Beharrungs- und Expansionstendenzen der sozialstaatlichen Bürokratie.
 
Die forcierte Sozialstaatspolitik schlug sich auch in rasch wachsender Gesetzgebungs- und Sozialverwaltungstätigkeit sowie im stark zunehmenden Umfang der Sozialausgaben und in einer höheren Sozialleistungsquote (öffentliche Sozialleistungen in Prozent des Bruttosozialprodukts) nieder. In den 50er-Jahren wuchs diese noch schwach (jedoch auf der Basis hoher Zuwächse des Sozialprodukts), in den 60er- und in der 1. Hälfte der 70er-Jahre jedoch stark; in den 80er-Jahren pendelte sie sich im Zuge einer Konsolidierungspolitik auf dem relativen Niveau der frühen 70er-Jahre ein; seit 1990 verursachen die Alterung der Gesellschaft, die hohe Arbeitslosigkeit und der Aufbau der Pflegeversicherung sowie die Folgekosten der deutschen Einheit erhebliche Ausgabensteigerungen (Sozialleistungsquoten nach Abgrenzung des Internationalen Arbeitsamtes 1950: 14,8 %, 1960: 16,0 % und 1989: 22,7 %, nach der Definition des Sozialbudgets des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung 1960: 22,8 %, 1975: 33,9 %, 1989: 30,7 %, 1999: 33,7 %). Aber nicht alle sozialstaatlichen Tätigkeiten verursachen unmittelbar oder mittelbar Kosten für die öffentlichen Haushalte. Ein Beispiel ist die gesetzgeberische Gestaltung der Arbeitsordnung und der Beziehungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer mittels Betriebsverfassungs-, Personalvertretungs- und Mitbestimmungsgesetzgebung. Diese Gesetzgebung führte in Verbindung mit der Tarifautonomie zu einem - im internationalen Vergleich einmalig - dichten Netz von Mitbestimmung der Arbeitnehmer (beziehungsweise ihrer Repräsentanten und der Gewerkschaften) im Betrieb und auf überbetrieblicher Ebene.
 
Mit dem entwickelten Sozialstaat waren zusätzlich zur Behandlung »alter sozialer Fragen« neue auf die Tagesordnung der Politik gekommen. Dem historischen Vergleich erschließt sich, wie stark die Regelungsweite und -tiefe des Sozialstaats zugenommen haben in sachlicher Hinsicht (nach Zahl und politischer, ökonomischer und sozialer Bedeutung und Dichte der Regelungsbereiche), sozialer Hinsicht (nach Zahl und Bevölkerungsanteil der Adressaten der sozialstaatlichen Politik) und zeitlicher Dimension (nach Dauer der sozialstaatlichen Leistungen).
 
 Bewertung des Sozialstaats
 
Der Ausbau des Sozialstaats hat zahlreiche Probleme gelöst oder zuverlässig unter Kontrolle gehalten: Die Eindämmung von Not und absoluter Armut zählt ebenso hierzu wie Stabilisierungsleistungen des Sozialstaats für die Politik (indem das Risiko des Umschlagens ökonomischer in politische Krisen vermindert wird), für die Gesellschaft (z. B. durch Schutz gegen »Wechselfälle« des Lebens, aber auch durch Verhinderung oder Eindämmung von sozialer Auflösung) sowie für die Wirtschaft (z. B. durch Stimulierung arbeitssparenden technischen Fortschritts, die Sicherung des sozialen Friedens in den Betrieben und die Entlastung der Arbeitswelt von schweren Konflikten um die Sozialpolitik).
 
Kritiker des Sozialstaats hingegen bewerten die ihm immanente Expansionstendenz negativ; sie betrachten den Sozialstaat eher als Problemursache denn als -bewältigung. Die Expansionslogik des Sozialstaats sei unendlich groß: Die Konstellationen sozialer Ungleichheiten, für deren Einebnung er zuständig gemacht werden könnte, seien beliebig vermehrbar. Überdies betonen die Kritiker politische, soziale und ökonomische Folgekosten des entfalteten Sozialstaats, z. B. neue Verteilungskonflikte, Untergrabung klassischer Staatsbürgertugenden (z. B. Eigeninitiative, Selbsthilfe), Übermaß an kontrollierenden Eingriffen in die Lebenswelt der Bürger und wirtschaftspolitisch abträgliche Kostenbelastungen und Regulierungen sowie Anreiz zur missbräuchlichen Inanspruchnahme sozialstaatlicher Leistungen (Moral Hazard).
 
Unbestreitbar gibt es Effektivitäts- und Effizienzprobleme des Sozialstaats. Das jeweilige Ausmaß von Nutzen und Kosten jedoch variiert - wie besonders neuere historische und Nationen vergleichende Studien zeigen - je nach Sozialstaatsmodell, Politikbereich, Adressatengruppe, Problemlage und Leistungsfähigkeit der Wirtschaft. Ein hoch entwickelter Sozialstaat mit weit reichender Gestaltung der Wirtschaftsordnung beispielsweise sichert ein hohes Maß an sozialer und politischer Integration, riskiert aber infolge der hohen Arbeitskosten ein Wirtschaftswachstum, das mit einer nur mäßig hohen Erwerbsquote und relativ geringen Beschäftigungszuwächsen einhergeht; ein schwach ausgebauter Sozialstaat hingegen erzeugt politische, soziale und ökonomische Unsicherheit und versagt vor sozialen und politischen Integrationsaufgaben. Eine mittlere Position (wie sie z. B. der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland darstellt) kann hingegen die Kosten der Sozialstaatlichkeit durch die Bewältigung von Problemen der politischen Stabilität, der sozialen Sicherung und der Arbeitsordnung kompensieren.
 
Weitere Informationen zu diesem Thema finden Sie v. a. auch in den folgenden Artikeln:
 
Arbeitsrecht · Eigentum · Gerechtigkeit · Marktwirtschaft · Rechtsstaat · Solidarität · Wirtschaftsethik · Wohlfahrtsökonomik
 
Literatur:
 
H. Heller: Rechtsstaat oder Diktatur? (1930);
 
Rechtsstaatlichkeit u. Sozialstaatlichkeit, hg. v. E. Forsthoff (1968);
 W. Abendroth: Zum Begriff des demokrat. u. sozialen Rechtsstaates im GG der Bundesrep. Dtl., in: W. Abendroth: Antagonist. Gesellschaft u. polit. Demokratie (21972);
 
S.-Prinzip u. Wirtschaftsordnung, hg. v. O. E. Kempen (1976);
 H.-H. Hartwich: S.-Postulat u. gesellschaftl. status quo (31978);
 M.-L. Recker: Natsoz. Sozialpolitik im Zweiten Weltkrieg (1985);
 
Die Weimarer Rep. als Wohlfahrtsstaat, hg. v. W. Abelshauser (1987);
 J. Alber: Der S. in der Bundesrep. 1950-1983 (1989);
 
40 Jahre S. Bundesrep. Dtl., hg. v. N. Blüm u. a. (1989);
 
Der wirtschaftl. Wert der Sozialpolitik, hg. v. G. Vobruba (1989);
 G. A. Ritter: Der S. (21991);
 Manfred G. Schmidt: Sozialpolitik in Dtl. (1998);
 
Welfare and work in the open economy, hg. v. F. W. Scharpf u. V. A. Schmidt, 2 Bde. (Oxford 2000);
 
Gesch. der Sozialpolitik in Dtl. seit 1945, hg. vom Bundes-Min. für Arbeit u. Sozialordnung u. vom Bundesarchiv, Bd. 1 (2001).
 
Weitere Literatur: Sozialpolitik, Sozialversicherung.

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So|zi|al|staat, der: demokratischer Staat, der bestrebt ist, die wirtschaftliche Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten u. soziale Gegensätze innerhalb der Gesellschaft auszugleichen: Falls aber, wie von Seehofer angekündigt, zugleich 250 Millionen Mark eingespart würden, ... »wird die Reform zum Vehikel, um unseren S. zurückzufahren« (Woche 4. 4. 97, 5); ... um ihren Mitgliedern die Segnungen des modernen -es zu erhalten (Schweizer Maschinenbau 16. 8. 83, 41).

Universal-Lexikon. 2012.