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Kleist
Kleist,
 
pommersches Uradelsgeschlecht, das 1263 erstmals urkundlich erscheint. - Bedeutende Vertreter:
 
 1) Ewald von, Generalfeldmarschall (seit 1943), * Braunfels 8. 8. 1881, ✝ Lager Wladimirowka im Oktober 1954; befehligte während des Zweiten Weltkriegs 1940 eine Panzergruppe im Frankreichfeldzug; führte bis 1942 im Balkan- und Russlandfeldzug die Panzergruppe 1; 1942-44 Oberbefehlshaber der Heeresgruppe A. Am 30. 3. 1944 wurde Kleist von Hitler seines Postens enthoben. 1945 geriet er in amerikanischer Gefangenschaft und wurde ein Jahr später an Jugoslawien übergeben (im August 1948 zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt). Kurz darauf an die Sowjetunion ausgeliefert, starb er in der Lagerhaft.
 
 2) Ewald von Kleist-Schmenzin, Widerstandskämpfer, * Groß Dubberow (bei Belgard [Persante]) 22. 3. 1890, ✝ (hingerichtet) Berlin-Plötzensee 9. 4. 1945; Gutsbesitzer; bekämpfte aus altpreußisch-konservativer, christlicher Gesinnung den Nationalsozialismus. Über Gespräche mit R. Vansittart und W. Churchill (1938) suchte er die britische Regierung zur Aufgabe der Appeasement-Politik zu bewegen und damit in Deutschland Umsturzpläne gegen Hitler zu fördern. Monarchistisch gesinnt, erstrebte er die Wiederherstellung eines deutschen Rechtsstaates im Sinne der altpreußischen Staatsidee. Nach dem Attentat vom 20. 7. 1944, an dem er unmittelbar nicht beteiligt war, wurde er zum Tode verurteilt.
 
 3) Ewald Christian von, Schriftsteller, * Zeblin (bei Köslin) 7. 3. 1715, ✝ (an den Folgen einer Verwundung in der Schlacht von Kunersdorf) Frankfurt (Oder) 24. 8. 1759; studierte ab 1731 in Königsberg (heute Kaliningrad) Jura, Philosophie und Mathematik. Er wurde 1736 dänischer Offizier; in preußischen Diensten ab 1740 auf österreichischen, französischen und russischen Kriegsschauplätzen. In Leipzig schloss Kleist 1758 Freundschaft mit G. E. Lessing; mit J. W. Gleim, K. W. Ramler und F. Nicolai stand er in naher Verbindung. Er ist der Adressat der von Lessing verfassten »Briefe, die neueste Litteratur betreffend« (1759-65, 23 Teile) und das Vorbild für die Figur des Tellheim in Lessings »Minna von Barnhelm«. Kleist begann mit Gedichten im Stil der Anakreontik. Unter dem Einfluss F. G. Klopstocks und J. Thompsons schuf Kleist die bukolische Idylle »Der Frühling« (1749); daneben entstanden auch vaterländische Gedichte, Oden und Versepik.
 
Weitere Werke: Lyrik: Der Frühling (1749); Neue Gedichte. .. (1756); Ode an die preußische Armee (1757).
 
Epos: Cissides und Paches (1759).
 
Ausgaben: Werke, herausgegeben von A. Sauer, 3 Bände (Neuausgabe 1968); Sämtliche Werke, herausgegeben von J. Stenzel (Neuausgabe 1980); Ihn foltert Schwermut, weil er lebt. Gedichte, Prosa, Stücke und Briefe, herausgegeben von G. Wolf (1983).
 
 4) Ewald Georg (Jürgen) von, Physiker, * Gut Vietzow (bei Belgard [Persante]) 10. 6. 1700, ✝ Köslin 11. 12. 1748; war 1722-47 Domdechant zu Cammin auf Wollin, danach Präsident des Königlichen Hofgerichts in Köslin und Mitglied der Preußischen Akademie der Wiss.en. Kleist erfand (unabhängig von P. van Musschenbroek) beim Experimentieren 1745 das Prinzip der Leidener Flasche und stattete erstmals eine Elektrisiermaschine mit Saugkamm aus.
 
 5) Friedrich, Graf Kleist von Nọllendorf, preußischer Generalfeldmarschall, * Berlin 9. 4. 1762, ✝ ebenda 17. 2. 1823; wegen seiner ungewöhnlichen militärischen Begabung eine der herausragenden Persönlichkeiten der Befreiungskriege, führte im Herbstfeldzug 1813 das 2. preußische Korps in der Hauptarmee Schwarzenberg. Bei Kulm und Nollendorf (bei Aussig) vereitelte er am 30. 8. 1813 den Ausbruchsversuch der eingekesselten französischen Armee Vandamme und schuf die Voraussetzungen für den ersten Sieg der Verbündeten gegen Napoleon I., wurde wegen seiner Verdienste in der Schlacht bei Nollendorf in den preußischen Grafenstand erhoben.
 
 6) Hans Hugo von Kleist-Rẹtzow [-o], preußischer Politiker, * Kieckow (bei Belgard [Persante]) 25. 11. 1814, ✝ ebenda 20. 5. 1892; von pietistischem Konservativismus getragen, war er einer der Wortführer der Reaktion während der Revolutionsjahre 1848/49; leitete 1848 das Junkerparlament, gehörte zum Gründerzirkel der »Kreuzzeitung«, vertrat 1848-52 die äußerste Rechte im preußischen Abgeordnetenhaus. 1851-58 suchte er als Oberpräsident der Rheinprovinz den dort vorherrschenden liberalen Tendenzen die Spitze zu nehmen. 1877-92 war er Mitglied des Reichstags (Deutschkonservative Partei).
 
 7) Heinrich von, Schriftsteller, * Frankfurt (Oder) 18. 10. (nach eigener Angabe 10. 10.) 1777, ✝ (Selbstmord) am Kleinen Wannsee (heute zu Berlin) 21. 11. 1811, ältester Sohn eines preußischen Hauptmanns und Großneffe von 3). Früh verwaist, trat er 1792, der Familientradition gemäß, in das Potsdamer Garderegiment ein und machte 1794 den Rheinfeldzug mit. Er quittierte 1799 den ungeliebten Dienst, um sich einem selbst aufgestellten »Lebensplan« zu widmen: Er verlobte sich mit Wilhelmine von Zenge (* 1780, ✝ 1852) und begann in Frankfurt (Oder) das Studium der Physik, Philosophie, Mathematik und Staatswissenschaften, das er schon 1800 abbrach. Die »Kantkrise« (1801), das Zerbrechen seines rationalistischen Weltbildes und die damit verbundene Hinwendung zu Subjektivismus und Irrationalismus, bezeichnet die endgültige Wendung Kleists von der Wissenschaft zur Dichtung. Einer von der Familie gewünschten Anstellung im Staatsdienst entzog er sich 1801 durch eine Reise mit der Stiefschwester Ulrike von Kleist (* 1774, ✝ 1849) nach Dresden und Paris. Anschließend reiste Kleist allein weiter in die Schweiz, wo er mit H. Zschokke, L. Wieland und Heinrich Gessner (* 1768, ✝ 1813) in freundschaftliche Verbindung trat. Kleist bezog 1802 (das Verlöbnis war aufgelöst worden) ein Häuschen auf der Aare-Insel bei Thun und begann die Arbeit an den Trauerspielen »Die Familie Schroffenstein« (1803) und »Robert Guiskard, Herzog der Normänner« (unvollendet, 1808 in seiner Monatsschrift »Phöbus« gedruckt). Auf Einladung von C. M. Wieland verbrachte Kleist den Winter 1802/03 auf dessen Gut Oßmannstedt bei Weimar, wo er u. a. Goethe und Schiller begegnete, dann auch in Dresden dem Satiriker J. D. Falk, dessen Arbeit am Amphitryonstoff Kleist zu »Amphitryon, ein Lustspiel nach Molière« (1807) anregte. Kleists zweites Lustspiel, »Der zerbrochne Krug« (gedruckt 1811), entstand aus einem Wettstreit unter Freunden. Erneute Reisen führten ihn 1803 u. a. nach Paris. Dort kam es aufgrund seines labilen seelischen Zustands zur Krisis und zum Zusammenbruch (Brief an Ulrike vom 5. 10.: »Ich kann nicht mehr«). Kleist verbrannte sein »Guiskard«-Manuskript und wanderte, von Selbstmordgedanken gequält, an die französische Nordküste, um in Napoleons I. Landungskorps gegen England »den schönen Tod der Schlachten zu sterben«. Er wurde jedoch nach Paris zurückgebracht und nach Deutschland abgeschoben. Nach schwerer Erkrankung (in Mainz) bewarb Kleist sich im Sommer 1804 in Berlin um Anstellung im preußischen Finanzdepartement und kam danach als Diätar an die Domänenkammer in Königsberg (heute Kaliningrad), wo er erneut sein Studium aufnahm; doch ließ er sich im Sommer 1806 krankheitshalber beurlauben und schrieb intensiv an seinen Dichtungen. Auf dem Weg nach Dresden (1807) wurde er in Berlin unter Spionageverdacht von den Franzosen verhaftet, zum Fort de Joux und dann in das Gefangenenlager Châlons-sur-Marne gebracht, aus dem er erst sechs Monate später nach dem Frieden von Tilsit entlassen wurde. Im kulturell aufblühenden Dresden, im Kreis von A. H. Müller, Otto August Rühle von Lilienstern (* 1780, ✝ 1847), G. H. Schubert, K. F. G. Wetzel, K. A. Böttiger, Ferdinand Hartmann (* 1774, ✝ 1842), G. von Kügelgen, C. G. Körner und L. Tieck begann Kleists fruchtbarste Schaffensperiode. Mit Müller, der zuvor den »Amphitryon« herausgegeben hatte, redigierte er die anspruchsvolle Zeitschrift »Phöbus« (einziger Jahrgang 1808), in der u. a. Proben der Dramen »Penthesilea« und »Das Käthchen von Heilbronn, oder Die Feuerprobe« sowie der Erzählungen »Die Marquise von O...« und »Michael Kohlhaas« erschienen. Noch im selben Jahr verlegte J. F. Cotta das Amazonendrama »Penthesilea«, dessen Übersteigerungen die Zeitgenossen, nicht zuletzt Goethe, schockierten. Auch die durch Goethe angeregte Aufführung von »Der zerbrochne Krug« in Weimar (1808) wurde ein Misserfolg.
 
Nach dem Scheitern seiner literarischen Bemühungen wurde Kleist zum politisch engagierten Autor. Mit dem Tendenzdrama »Die Hermannsschlacht« (gedruckt 1821) wollte er zum Kampf gegen Napoleon I. aufrufen. Zu Beginn der österreichischen Erhebung plante er in Prag die Herausgabe einer politischen Wochenschrift »Germania«, musste jedoch nach der Niederlage bei Wagram (6. 7. 1809) diese Hoffnung aufgeben. Nach schwerer Erkrankung ging er Ende 1809 zurück nach Berlin, wo er im Kreis um A. von Arnim, F. de la Motte Fouqué, Müller und C. Brentano verkehrte. Seine Cousine, Marie von Kleist, suchte wiederholt, das preußische Königshaus auf Kleist aufmerksam zu machen. Das in Wien uraufgeführte »große historische Ritterschauspiel« »Das Käthchen von Heilbronn« wurde vom Berliner Schauspieldirektor A. W. Iffland abgelehnt. Kleist ließ das Stück 1810 drucken, zugleich mit einem Band früher verfasster Erzählungen und Novellen (neben den schon genannten »Das Erdbeben von Chili« u. a.). Von Oktober 1810 bis März 1811 gab Kleist die »Berliner Abendblätter« heraus, die erste Tageszeitung Berlins; hier erschienen u. a. seine mustergültigen Anekdoten und der bedeutende programmatische Essay »Über das Marionettentheater«. Nach anfänglichem Erfolg kam das Unternehmen durch Behördenschikanen zum Erliegen. Auch sein letztes Schauspiel, »Prinz Friedrich von Homburg«, fand keine Anerkennung. Durch den Tod der Königin Luise von Preußen hatte er die letzte kleine Rente verloren. Ohne Existenzgrundlage, nahm er sich gemeinsam mit der schwer kranken Henriette Vogel (* 1773), deren Bekanntschaft er erst am 21. 11. 1811 gemacht hatte, das Leben. Das Manuskript eines möglicherweise autobiographisch aufschlussreichen Romans hatte er zuvor, vermutlich mit anderen Schriften, verbrannt.
 
Mit Tiecks Herausgabe der »Hinterlassenen Schriften« (1821), denen 1826 die »Gesammelten Schriften« (3 Bände) folgten, begann das Verständnis für die überragende Gestaltungskraft des Dichters. Seine extremen Situationen ausgesetzten Figuren treffen ihre Entscheidungen allein nach ihrem innersten Gefühl, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft: die populärste, Michael Kohlhaas, wird aufgrund des kompromisslosen Rechtsgefühls zum Räuber und Rebellen. Mit Kleist gewann die deutsche Novelle ihren konzentriert-dramatischen Charakter. Kleists Dichtung ist keiner literarischen Schule zuzurechnen, sie weist auf die Moderne voraus und nimmt, v. a. durch die spannungsreiche Sprache, in manchem den Expressionismus vorweg. Werk und tragische Biographie des Dichters regen bis in die Gegenwart Schriftsteller zu neuem künstlerischen Gestalten an (u. a. Elisabeth Plessen, Christa Wolf).
 
Ausgaben: Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von I.-M. Barth u. a., auf 4 Bände berechnet (1987 folgende); Sämtliche Werke, herausgegeben von R. Reuss u. a., auf zahlreiche Bände berechnet (1988 folgende); Sämtliche Werke und Briefe, herausgegeben von H. Sembdner, 2 Bände (Neuausgabe 21994).
 
Literatur:
 
E. Rohe: K.-Bibliogr. 1945-1960, in: Jb. der Dt. Schillergesellschaft (1961);
 H. Sembdner: K.-Bibliogr. 1803-1862. H. v. K.s Schriften in frühen Drucken u. Erstveröffentlichungen (1966);
 
K. Leben u. Werk im Bild, hg. v. E. Siebert (1980);
 H. Aretz: H. v. K. als Journalist (1983);
 H. F. Weiss: Funde u. Studien zu H. v. K. (1984);
 E. Borchardt: Myth. Strukturen im Werk H. v. K.s (1987);
 B. Fischer: Iron. Metaphysik. Die Erzählungen H. v. K.s (1988);
 
H. v. K. Studien zu Werk u. Wirkung, hg. v. D. Grathoff (1988);
 D. Grathoff: K.s Geheimnisse. Unbekannte Seiten einer Biogr. (1993);
 H. Sembdner: In Sachen K. Beitr. zur Forschung (31994);
 
H. v. K., hg. v. G. Neumann (1994);
 C. Hohoff: H. v. K. (166.-168. Tsd. 1995).
 
K.-Jb., hg. v. H. J. Kreutzer (1982 ff.).

Universal-Lexikon. 2012.