Erasmus von Rotterdam
Erasmus von Rotterdam, der von 1469 bis 1536 lebte, zählt zu den hervorragendsten Gestalten des Humanismus, einer geistigen Elite von einigen tausend über ganz Europa verstreuten Wissenschaftlern, meist Klerikern, denen das Interesse für die klassische Antike, deren Sprache und Philosophie gemeinsam war, die ausgedehnte Reisen ebenso schätzten wie gepflegte Gespräche oder ein Essen im Kreise ihrer Freunde. Wie kaum ein anderer verkörpert Erasmus das Ideal eines humanistisch gebildeten, weltoffenen. Christen, den vor allem anderen eine tolerante Grundhaltung auszeichnete und in dem sich das Bemühen um die antike Humanität mit der christlichen Philosophie vereinte.
Der uneheliche Sohn eines Priesters aus dem holländischen Gouda wurde als Waise von seinen Vormündern dem Orden der Augustiner übereignet; erst Jahrzehnte später setzte er die Lösung seiner Gelübde durch. Er ließ sich zum Priester weihen, studierte in Paris, bereiste Italien und unternahm mehrfach Reisen nach England, wo ihn mit Thomas Morus und John Colet, ebenfalls Theologe und Humanist, eine lange Freundschaft verband.
Der prominente Gelehrte wurde von seinen Kollegen zugleich gerühmt und beneidet und erfreute sich über lange Zeit gleichermaßen der Gunst von Kaiser und Papst. Als Ratgeber Karls V. vertrat er in seiner »Erziehung des christlichen Fürsten« eine politische Ethik, in der er die Macht des Herrschers auf die Zustimmung der Freien zurückführte; Frieden schließen und bewahren wird zur obersten Pflicht des Herrschers. Die Theologen forderte Erasmus auf, sich mit der heiligen Schrift zu beschäftigen und damit aufzuhören, sich den nutzlosen Fragen der Scholastik zu widmen. Er trat für die stärkere Orientierung am Evangelium ein; statt der volkstümlichen Verehrung der Heiligen und Marias sollte man lieber das eigene Leben an ihrem konkreten Vorbild ausrichten. Selbst Frauenfeindlichkeit und nationale Tendenzen seiner Zeit ließ er hinter sich und hob die Notwendigkeit einer frühzeitigen allgemeinen Erziehung der Kinder, die Jungen und Mädchen gleichermaßen fördert, hervor.
In seinem »Handbüchlein des christlichen Streiters« suchte er nach Gemeinsamkeiten zwischen Bibel und den Philosophen der Antike, besonders Platon, um daraus eine universale Offenbarung und ein reines Evangelium der »Philosophia Christi« zu gewinnen; Ziel war ein von Aberglaube und Dogma befreites Christentum. Als Anleitung für die rechte Frömmigkeit will das Werk dem Hang zur Veräußerlichung des Glaubens entgegenwirken und geht vor allem mit dem Mönchtum seiner Zeit kritisch ins Gericht. Die Theologie müsse sich auf ihre Ursprünge zurückbesinnen. Um diese auf eine wissenschaftlich exaktere Basis zu stellen, gab er etliche Texte der Kirchenväter neu heraus und erstellte 1516 die erste textkritische Ausgabe des Neuen Testaments in griechischer Sprache. Nicht zuletzt diese philologisch-kritische Arbeit ließ in ihm das Bewusstsein einer menschlichen Vernunft reifen, die unabhängig ist von jeglicher Autorität. Für den Bereich des Glaubens bedeutete dies die individuelle Bindung des Menschen an das eigene Gewissen und damit ein erhöhtes Maß an Verantwortlichkeit in seinem Tun.
Diese ethische Grundhaltung wurde letztlich auch ausschlaggebend für sein Verhältnis zu Luther. Der Gedanke, Anhänger einer bestimmten Partei zu sein, war ihm Zeit seines Lebens ein Gräuel. Trotzdem wurden viele seiner Ideen von der Reformation aufgegriffen. Er beklagte allerdings, dass das, was er maßvoll und für bestimmte Situationen gesagt habe, von Luther über Gebühr verallgemeinert worden sei. Trotzdem hob er eher die Gemeinsamkeiten hervor und ließ sich lange drängen, bis er in seiner Schrift »Über den freien Willen« gegen Luther Stellung bezog. Aber dessen Rechtfertigung des Sünders allein aus dem Glauben entzog auch der humanistischen Ethik ihre Basis; und ein verantwortliches moralisches Leben war damit unmöglich.
In den Augen des Erasmus kehrte Luther mit seiner Lehre zur Auffassung des späten Augustinus zurück, an deren Überwindung Generationen von Philosophen und Theologen gearbeitet hatten. Und diese war mit der Vorstellung von Freiheit unvereinbar, wie sie seit dem Hochmittelalter vertreten und von den Humanisten vertieft worden war. Aber allein schon Luthers Volksnähe, die Tatsache, dass er der Volkssprache vor dem Latein der Gebildeten den Vorzug gab, sowie seine grobe Polemik und die mangelnde Differenzierung seiner Thesen unterschied beide in radikaler Weise. Luthers pessimistische Sicht der menschlichen Vernunft und Erkenntnisfähigkeit stand endgültig in völligem Gegensatz zur humanistischen Überzeugung, die beiden Pole des Glaubens und des Wissens miteinander versöhnen zu können.
Letztlich triumphierte aber die Reformation über Erasmus, selbst noch in seiner geschichtlichen Bewertung: Postum wurden seine Schriften mehrfach päpstlich verboten, seine Differenzierungen, seine Weigerung, sich für eine der beiden Parteien zu entscheiden, seine feine Ironie und Diplomatie wirkten scheinbar anstößig in der anbrechenden Zeit der Konfessionalisierung, in der die neue Eindeutigkeit stärker gefragt war als das Ideal der Humanität.
Dr. Ulrich Rudnick
Geschichte der katholischen Kirche, herausgegeben von Josef Lenzenweger u. a. Neuausgabe Graz u. a. 31995.
II
Erasmus von Rotterdạm,
nannte sich seit 1496 Erasmus Desiderius, niederländischer Humanist und Theologe, * Rotterdam 28. 10. 1466 oder 1469, ✝ Basel 12. 7. 1536; bedeutender Philologe, Kritiker der weltlichen und geistlichen Mächte und der erstarrten Scholastik, Pazifist, Fortführer der antiken und der mittelalterlichen humanistischen Tradition im beginnenden Zeitalter des Konfessionalismus.
Als illegitimer Priestersohn aufgewachsen, verlor Erasmus mit etwa 14 Jahren beide Eltern und wurde in das Augustinerkloster Steyn bei Gouda gegeben; in der Schule der Brüder vom gemeinsamen Leben in Deventer lernte er die Devotio moderna kennen. Nach der Priesterweihe (1492) trat Erasmus in den Dienst des Bischofs von Cambrai, der ihn zum Theologiestudium an die Universität Paris schickte (1495-99). Während eines Englandaufenthaltes (1499-1500) rückte unter dem Einfluss von J. Colet das Neue Testament in das Zentrum von Erasmus' Studien. In Italien (1506-09; 1506 Promotion), dann (1509-14) im Haus seines Freundes Thomas Morus in London eignete er sich das philologische Erbe L. Vallas an, um den Urtext der Bibel von späteren Entstellungen zu reinigen. Sein »Encomium moriae« (1509-11; deutsch u. a. als »Lob der Torheit«) verwarf in ironischer Distanz alle intellektualistische Begriffsspielerei, pries die Menschlichkeit und ein natürliches Selbstgefühl und kritisierte Adel, Kaufleute, Fürsten, v. a. die Krieg Führenden, Mönche und Professoren der Sorbonne. Viele dieser Interessen, auch seine Kritik an der Macht des Klerus und am Reliquienkult, rückten Erasmus in die Nähe M. Luthers und trugen zur Vorbereitung der Reformation bei. Doch verwarf Erasmus Luthers antihumanistische Bestreitung der Freiheit des menschlichen Willens, besonders mit seiner Schrift »De libero arbitrio diatribe sive collatio« (1524; deutsch u. a. als »Gespräche oder Unterredung über den freien Willen«). Er fürchtete, Luthers tumultuarisches Vorgehen schade der Reform, und missbilligte dessen »grausame« Stellungnahme im Bauernkrieg. Humanismus und Reformation gingen von da an getrennte Wege trotz beiderseitiger Vermittlungsversuche von Schülern des Erasmus.
Schon die »Adagia« (Sammlung antiker und biblisch-christlicher Sprichwörter; 1500, vervollständigt 1515) machten Erasmus berühmt; durch Stil und Weltsicht vermittelten sie dem Norden und Westen Europas die überlegene Kultur Italiens. Mit ihnen und mit seinen »Colloquia familiaria« (1518; deutsch u. a. als »Gespräche«) wurde Erasmus zum Lehrer einer an der Sprache Ciceros orientierten Latinität; zugleich enthielten die »Colloquia« eine lebensnahe Moralphilosophie, die z. B. den Bildungsanspruch der Frau verteidigte, und eine Anleitung zu ironisierenden Skizzen des täglichen Lebens. Das »Enchiridion militis christiani« (1503; deutsch u. a. als »Handbuch des christlichen Ritters«) entwarf eine lebensnahe christliche Ethik. 1504 edierte er Vallas philologische »Bemerkungen zum Neuen Testament« (»Annotationes«) und eröffnete damit eine neue Epoche neutestamentlicher Forschung; 1516 gab er in Basel die erste Druckausgabe des griechischen Neuen Testaments heraus. In der Einleitung hierzu verteidigte Erasmus sein neues methodisches Konzept der Exegese, zugleich führte er in die »Philosophie Christi« ein, das heißt in ein am Neuen Testament, besonders an der Bergpredigt, orientiertes Christentum ohne Aberglauben und ohne Dogmatismus. Zwischen 1520 und 1530 arbeitete Erasmus an verbesserten Ausgaben der Kirchenväter (1521 Cyprianus, 1523 Hilarius, 1526 Irenäus, 1527 Ambrosius und Origenes, 1527-29 Augustinus, 1530 Johannes I. Chrysostomos). Mit politischer Ethik befasst sich sein Fürstenspiegel »Institutio principis christiani« (1517; deutsch »Fürstenerziehung«). Seine ebenfalls 1517 erschienene »Querela pacis« (deutsch »Klage des Friedens«) beschwor den Frieden als einen hohen Wert. Der umfängliche Briefwechsel des Erasmus bildet eine reichhaltige Geschichtsquelle der Epoche.
Erasmus entzog sich der Vereinnahmung durch die Konfessionen und zieht sich bis heute deren abwertende Zensuren zu. Man verweist tadelnd auf seine diplomatische Vorsicht und auf seine ironisierende »Kunst der Andeutung«. Man wirft ihm mit Zwingli, der einst sein Schüler war, vor, dem verfolgten U. von Hutten die erbetene Unterstützung verweigert zu haben. Katholiken tadeln ihn, weil er im Alter seinen Wohnsitz im protestantisch gewordenen Basel nahm. Die Päpste verboten 1559 und 1590 seine Schriften; Luther griff ihn an als einen Skeptiker und Epikureer; Protestanten werten seine Vereinsamung als das Urteil, das die Geschichte über ihn, den Unentschiedenen, gesprochen habe. Wählt man die eigenen Kriterien des Erasmus als Beurteilungsmaßstab - sprachliche Sorgfalt, Auflösung des dogmatisch Erstarrten, Weite des geschichtlichen Horizonts, Verwerfung des Aberglaubens, Friedenswillen, kurz: christlichen Humanismus - so war Erasmus eine zentrale Gestalt des 16. Jahrhunderts.
Ausgaben: Opera omnia, herausgegeben von J. Clericus, 11 Bände (1703-06, Nachdruck 1961-62, 10 Bände); Opus epistolarum, herausgegeben von P. S. Allen und anderen, 12 Bände (1906-58); Erasmus von Rotterdam, herausgegeben von F. Heer (1962); Ausgewählte Schriften, herausgegeben von W. Welzig, 8 Bände (1967-80, lateinisch-deutsch.); Opera omnia, herausgegeben von J. H. Waszink und anderen, auf mehrere Bände berechnet (1969 folgende, kritische Gesamtausgabe).
J. Huizinga: E. (a. d. Niederländ., Basel 41951);
A. Renaudet: Préréforme et humanisme à Paris pendant les premières guerres d'Italie, 1494-1517 (Paris 21953);
W. P. Eckert: E. von R., 2 Bde. (1967);
E.-W. Kohls: Luther oder E., 2 Bde. (Basel 1972-78);
A. J. Gail: E. von R. (29.-31. Tsd. 1994);
K. Flasch: Das philosoph. Denken im MA. (Neudr. 1995).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Erasmus von Rotterdam
Universal-Lexikon. 2012.