Fu|tu|rịs|mus 〈m.; -; unz.〉 von Italien ausgehende Kunstrichtung (besonders in Malerei u. Dichtung) vor dem 1. Weltkrieg, radikale Form des Expressionismus, die Krieg u. Technik verherrlicht (Darstellung des Maschinenzeitalters) u. alle überlieferten Formen ablehnt, z. B. das Nacheinander von Geschehnissen nebeneinander in einem Bilde vereinigt (Malerei), Wörter u. Laute als reinen Ausdruck des Inneren aneinanderreiht usw. [→ Futurum]
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(von Italien ausgehende) literarische, künstlerische u. politische Bewegung des beginnenden 20. Jh.s, die den völligen Bruch mit der Tradition fordert.
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Futurịsmus
[von lateinisch futurum »Zukunft«] der, -, um 1910 in Italien aufgekommene, rasch nach Russland, Deutschland und Frankreich ausstrahlende revolutionierende, v. a. künstlerische, aber auch politische Bewegung mit starken Einflüssen auf Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus.
Auf das am 20. 2. 1909 von dem italienischen Dichter F. T. Marinetti im »Figaro« veröffentlichte Gründungsmanifest (»Manifeste du futurisme«) des zunächst italienischen literarischen Futurismus folgte eine Flut programmatischer Schriften aus fast allen künstlerischen Bereichen, aber auch zur Politik, wo sich die Nähe des Futurismus zum Faschismus bereits abzeichnet (von Marinetti später in »Futurismo e fascismo« 1924 formuliert). Hauptvertreter des literarischen Futurismus waren neben Marinetti u. a. A. Soffici, Paolo Buzzi (* 1874, ✝ 1956), Enrico Cavacchioli (* 1884, ✝ 1954), Auro D'Alba (* 1888, ✝ 1965), L. Folgore, C. Govoni, A. Palazzeschi, G. Papini und G. Prezzolini. Der Futurismus proklamierte den Bruch mit der Vergangenheit, die Zerstörung des Alten, die Sprengung der geltenden gesellschaftlichen und künstlerischen Traditionen. Er verherrlichte den Krieg als »notwendige Hygiene der Welt« und begeisterte sich für das Tempo des modernen, durch den technischen Fortschritt geprägten Lebens; er wollte die Welt der Technik als »Bewegung der Dynamik«, als »allgegenwärtige Geschwindigkeit, die die Kategorien Raum und Zeit aufhebt«, spiegeln. Eine derartige Literatur musste sich ihre eigene Sprache, Syntax und Grammatik erst einmal schaffen. So opponierte das am 12. 5. 1912 erschienene »Manifesto tecnico della letteratura futurista« gegen die überkommene Syntax, trat für die Abschaffung der Adjektive, Adverbien und der Zeichensetzung ein und plädierte für die Zerstörung des Ichs in der Literatur. Die Form der literarischen Collage hat im Futurismus ihren Ursprung. In sprachlichen und formalen Neuerungen (Schlagwort »Parole in libertà«) liegt daher die wesentliche Bedeutung des literarischen Futurismus; durch sie beeinflusste er u. a. Expressionismus (in Deutschland v. a. H. Waldens »Sturm«), Dadaismus und Surrealismus.
Der russische Futurismus (1910-20) knüpfte in einigen Programmpunkten an Marinetti (der Russland besuchte) an, ist aber eine eigenständige Erscheinung und konzentrierte sich trotz Beteiligung einiger Maler stärker als der italienische Futurismus auf die Dichtung. Es bildeten sich mehrere, zum Teil rivalisierende Gruppen, denen nur der Grundsatz von Dichtung als autonomer und experimenteller Kunst des »Wortes« gemeinsam war, so 1910 als wichtigste die der Kubo-Futuristen mit W. W. Majakowskij, W. Chlebnikow, D. Burliuk und A. J. Krutschonych, die in dem Manifest »Poščečina obščestvennomu vkusu« (1912, deutsch »Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack«) den Bruch mit allen bürgerlichen Konventionen proklamierten, das klassische Erbe vom »Dampfer der Gegenwart« kippen wollten und eine kühn experimentierende Sprache forderten. Der 1911 in Sankt Petersburg von I. Sewerjanin begründete Ego-Futurismus ist zwar künstlerisch nicht überzeugend, erhält aber seine historische Bedeutung durch die Forderung nach einer poetischen Sprache, die mit dem Tempo des modernen Lebens Schritt halten und es wiederzugeben imstande sein sollte. Dichtung wurde als Spiel mit neuen Reimen und Wörtern verstanden, als Apotheose des Ego, als Suche nach Selbstoffenbarung. Der Futurismus, der als Kunst- und Literaturrevolution zunächst mit der politischen Revolution in Russland parallel lief, geriet jedoch bald - als bourgeois und dekadent kritisiert - in Widerspruch zum Sowjetregime. Er löste sich in den frühen 20er-Jahren als eigenständige Schule auf.
Ausgangspunkt des Futurismus in der bildenden Kunst war das futuristische Manifest Marinettis von 1909, dem 1910 das »Manifesto dei pittori futuristi« (U. Boccioni, C. Carrà, L. Russolo, G. Balla und G. Severini) und das von denselben Künstlern unterzeichnete »Manifesto tecnico della pittura futurista« folgten. 1913 setzte Carràs Schrift »La pittura dei suoni, rumori, odori« (»Die Malerei der Töne, Geräusche und Gerüche«) die programmatischen Äußerungen dieser wohl manifestfreudigsten Bewegung der Moderne fort. Die futuristischen Künstler protestierten gegen den »Friedhof« der Museen und gegen das statische Bild im konventionellen Sinn und proklamierten eine Ästhetik der Geschwindigkeit und der körperauflösenden Dynamik von Bewegung und Licht (»dinamismo«). Daraus erwuchs die Forderung nach simultaner Darstellung verschiedener Erlebnis- und Ereignisphasen in jedem einzelnen Bild. Dies suchte man durch den »Komplementarismus«, das Entsprechen von Farben und Formen, und maltechnisch zunächst mithilfe einer vibrierenden Malerei in der Art des Divisionismus zu verwirklichen (z. B. »Sphärische Expansion des Lichtes« von Severini, 1914). Kontakte mit den Pariser Kubisten (1911/12) und R. Delaunay (Orphismus) führten zu neuen formalen Möglichkeiten, das Prinzip der Simultaneität komplexer darzustellen. Die statische Formzerlegung des Kubismus wurde durch Bewegungsimpulse dynamisiert und in neue kompositionelle Rhythmen für das Lebensgefühl und die Ikonographie einer rauschhaft erlebten modernen Welt übersetzt. - 1912 forderte Boccioni in seinem »Manifesto tecnico della scultura futurista« auch für die Bildhauerkunst die Wiedergabe dynamischer, simultaner Bewegung (z. B. »Entwicklung einer Flasche im Raum« von Boccioni, 1912), die Ablehnung traditioneller Thematik und die Verwendung neuer, unkonventioneller Mittel (u. a. Glas, Spiegel, elektrisches Licht). - In der Architektur suchte v. a. A. Sant'Elia neue, der modernen Zivilisation angepasste Bauprinzipien auf futuristischer Grundlage zu entwickeln (»Manifesto dell'architettura futurista«, 1914).
Zu den Vertretern des »zweiten Futurismus« oder »Neofuturismus« nach dem Ersten Weltkrieg gehörten u. a. E. Prampolini, Fortunato Depero (* 1892, ✝ 1960) und Gerardo Dottori (* 1888,✝ 1977). In dem 1922 veröffentlichten Manifest »L'arte meccanica« wurde die Maschine zur neuen »Inspirationsquelle« ernannt. Der Verherrlichung des Flugzeugs als Inbegriff der Modernität sollte die 1929 kreierte Flugmalerei (»aeropittura«) dienen, deren bedeutendster Vertreter Dottori war. Der »zweite Futurismus« diskreditierte sich politisch durch seine Verbindung zum Faschismus.
Von den 1912 in Paris, London und Berlin veranstalteten Ausstellungen der italienischen Futuristen gingen wichtige Impulse für die europäische Avantgarde aus. Auch russischer Künstler (D. Burliuk, W. W. Majakowskij, Natalija Gontscharowa, M. Larionoff, K. Malewitsch, A. Pevsner, N. Gabo, W. Tatlin, El Lissitzky) suchten, auf der formalen Grundlage des französischen Kubismus aufbauend, eine Orientierung der neuen Kunst an den modernen technischen Voraussetzungen und lehnten - wie die italienischen Futuristen - die Tradition ab. Auf dem 1920 in Moskau von Gabo und Pevsner veröffentlichten »Technischen Manifest« basierend, strebte der russische Futurismus auf konstruktivistischer Basis eine absolute Gestaltung ohne Wiedergabe individueller Empfindungen unter Verwendung technischer Verfahrensweisen bei der Produktion an. Mechanische Bewegungsimpulse und elektrisches Licht wurden in dreidimensionale Objekte mit einbezogen. (Rayonismus, Suprematismus, Konstruktivismus)
Auch auf die Musik wurde die Begriffs- und Gedankenwelt der futuristischen Bewegung übertragen, so von F. B. Pratella, der die Einbeziehung der modernen, technisierten Lebenswelt in die Musik forderte (»Musica futuristica per orchestra« Opus 30, 1912), und von L. Russolo, der Geräuschinstrumente zur Wiedergabe akustischer Erscheinungen aus Technik und Natur (Motorengeräusche, Tierstimmen u. a.) konstruierte und verwendete. Ein Konzert in Paris 1921 bildete den Höhe- und zugleich Endpunkt der kurzen Bewegung. Futuristische Klangvorstellungen sind u. a. von E. Varèse (»Ionisation«, 1931) und von der konkreten Musik aufgegriffen worden.
D. Tschižewskij: Anfänge des russ. F. (1963);
C. Baumgarth: Gesch. des F. (1966);
V. Markov: Russian futurism (Berkely, Calif., 1968);
Der F. Manifeste u. Dokumente einer künstler. Revolution 1909-1918, hg. v. U. Apollonio (a. d. Ital., 1972);
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Der musikal. F., hg. v. O. Kolleritsch (Graz 1976);
S. von Falkenhausen: Der zweite F. u. die Kunstpolitik des Faschismus in Italien 1922-1943 (1979);
B. Romano: Le futurisme, in: Les avant-gardes littéraires au XXe siècle, hg. v. J. Weisgerber, 2 Bde. (Budapest 1984);
J. Eltz: Der ital. F. in Dtl., 1912-1922 (1986);
M. Calvesi: Futurismo (ebd. 1987);
J. J. White: Literary futurism (Oxford 1990);
H. Schmidt-Bergmann: F. Gesch., Ästhetik, Dokumente (1993).
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
Futurismus in der Literatur: »Tod dem Mondenschein!«
Orphismus, Futurismus, Rayonismus und Pittura metafisica: Bewegung und Erstarrung
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Universal-Lexikon. 2012.