Gottscheds »Critische Dichtkunst« und ihre Gegner
Wie 100 Jahre zuvor Martin Opitz so übernahm in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Johann. Christoph Gottsched die Herrschaft über die deutsche Literatur. Seit 1730 außerordentlicher Professor der Poesie, seit 1734 ordentlicher Professor der Metaphysik und Logik, ab 1739 mehrfach Rektor der Leipziger Universität, sah der Anhänger der leibnizschen und wolffschen Philosophie seine reformatorische Aufgabe darin, die Literatur aus ihrer chaotischen Lage zu befreien und ein für allemal auf die Prinzipien der »gesunden Vernunft« zu verpflichten. Die Poesie rückte ins Zeichen der Aufklärung. Gottscheds Aktivitäten waren denkbar weit gestreut. Der Autor philosophischer, rhetorischer und sprachwissenschaftlicher Grundlagenwerke verfasste selbst auch schöngeistige Literatur, gab mehrere Zeitschriften nach dem englischen Muster der Moralischen Wochenschriften heraus und übersetzte Standardtexte der Aufklärung von Leibniz, Bayle, Fontenelle und Helvétius. Zielbewusst kümmerte er sich um das Theater, suchte die Zusammenarbeit mit der Schauspieltruppe der Caroline Neuber, regte Übertragungen der französischen Klassiker und deutsche Originalstücke an.
Das theoretische Hauptwerk, das die Literaturgeschichte auf den Kurs der Vernunft bringen sollte, war die »Critische Dichtkunst« von 1730. Schon der Titelbegriff »Critisch« bezeichnete den neuen Anspruch. Vorbei war es mit der unübersichtlichen polyhistorischen Vielwisserei der Barockpoetik. An ihre Stelle trat eine systematische, philosophisch geschulte Kunst der Beurteilung, die alle literarischen Phänomene aus Vernunftgründen herleiten möchte. Der »Criticus« prüft und untersucht jedes Ding nach seinen »gehörigen Grundregeln«, er ist »ein Gelehrter, der die Regeln der freien Künste philosophisch eingesehen hat«. Der »critische« Geist bestimmt auch die intellektuelle Ausstattung des Poeten. Er muss über einen reinen Geschmack, Witz und Scharfsinn, Einbildungskraft und, vor allem, über Beurteilungskraft verfügen. Von großer Bedeutung für die Literatur der Aufklärung wurde namentlich das Formprinzip des Witzes. Der »Witz« erscheint hier in seiner älteren Bedeutung: Er »ist eine Gemüthskraft, welche die Aehnlichkeiten der Dinge leicht wahrnehmen, und also eine Vergleichung zwischen ihnen anstellen kann«. Die Gelenkigkeit des Witzes, unerlässlich für Metaphernbildung und Komposition, wird freilich gegen jede manieristische Freizügigkeit abgedichtet, so wie die Einbildungskraft gegen jede unvernünftige Überhitzung. Das Regulativ der Beurteilungskraft sorgt dafür, dass der Poet stets der rational durchschaubaren Ordnung der Dinge folgt.
Das Hauptgeschäft der Literatur hieß Nachahmung der Natur, Nachbildung der besten aller möglichen Welten und ihrer Vollkommenheit. Wie durch Nachahmung im Besonderen das vernünftige, moralische Allgemeine entdeckt und offengelegt wird, erläutert Gottsched besonders gern am Begriff der Fabel, der sowohl den aristotelischen Plot wie die Tierfabel umfasst. So statuiert er für die Tragödie: »Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit eines Satzes erhellet.« So wolle der »Oedipus« den moralischen Satz belegen, »dass Gott auch die Laster, die unwissend begangen werden, nicht ungestraft lasse«. Gesunde Moralbegriffe also pflanze die Tragödie wie die Komödie in die Gemüter. Keine Belustigung bleibt ohne Nutzen: Man strebt nach einem »Zuckerwerke« und findet »die nahrhafteste Speise darunter verborgen«.
Solche Pedanterie, oft verspottet, erklärt sich aus der Verluderung des Theaters, wie Gottsched sie vorfand: »Lauter schwülstige und mit Harlekins Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam.« Seinen besonderen Unwillen erregte die Oper, eine wahre Ausgeburt aller Unwahrscheinlichkeiten, sowie das Stegreifspiel der Commedia dell'Arte, das sich in der Figur des Harlekins ein derbes Organ für allerlei Obszönitäten geschaffen hatte. Die Reinigung des Theaters konnte auch handgreiflich werden: Im Jahr 1737 inszenierte die Neuberin die Vertreibung des Harlekins von der Bühne. Lessing, Justus Möser und der junge Goethe haben Gottsched diese Attacke nie verziehen.
Schwerer noch wogen die Geringschätzung, mit der Gottsched das englische Theater, also auch Shakespeare, bedachte, und die offene Missachtung des großen Epikers John Milton. Da sah er, wie im deutschen Barock Hoffmannswaldaus und Lohensteins, nur »Schwulst, die ungeheure Einbildung, die hochtrabende Ausdrückungen und die unrichtige Urteilskraft« am Werk.
Kein Wunder, dass sich Widerstand gegen das eiserne Kommando des Leipziger Literaturpapstes regte. Er kam aus Zürich, von den einstigen Mitstreitern Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Anfangs durchaus auf der aufgeklärten Linie Wolffs und Gottscheds, setzten die beiden Züricher seit den 1740er-Jahren dazu an, am ehernen Vernunftgerüst des Leipzigers zu rütteln. In der Praxis ging es um Bodmers Übertragung von Miltons »Das verlorene Paradies«, die von 1732 bis 1780 in sechs Ausgaben herauskam, in der Theorie um die Lehrstücke von der Einbildungskraft, vom Wahrscheinlichen und vom Wunderbaren, die zum Einbruchstor eines neuen Kunstwollens wurden. Insbesondere Bodmers »Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie« und Breitingers zweibändige »Critische Dichtkunst« bahnten den Weg in die Zukunft.
Als erste erkannten die Schweizer eine eigene Logik der poetischen Fantasie an, die das realistisch enge Wahrscheinlichkeitspostulat außer Kraft setzt. Miltons Engel und Teufel, seine Darstellung von Chaos, Tod, Sünde und Hölle wurden nicht als Monstrositäten abgetan, sondern poetisch ins Recht gesetzt, als eigengesetzliche Schöpfung einer produktiven Einbildungskraft. Denn die Einbildungskraft ist nicht länger nur die »Schatzmeisterinn der Seele«, die Sinneseindrücke speichert und auf Abruf bereithält, »sondern sie besitzt daneben auch ein eigenes Gebiethe, welches sich unendlich weiter erstreckt, als die Herrschaft der Sinnen«. Nur folgerichtig, dass deshalb das Prinzip der Naturnachahmung verblasst und das Wahrscheinliche sich neuen poetischen Reizen beugen muss. Das Neue, das Wunderbare und das Erhabene stiften eine neuartige Gemütserregungskunst. Pseudo-Longinus' wieder entdeckte Schrift »Vom Erhabenen« aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. wie italienische und französische Theoretiker (Muratori, Du Bos) bestärkten die Züricher. Zumindest theoretisch wird der Dichter vom Nachahmer zum Schöpfer: »die Art der Erschaffung, da das Mögliche durch die Kraft der Fantasie vollführet wird, kömmt dem Poeten kraft seines Amtes vornehmlich zu, nach welchem er ein Schöpfer, poietes, ist.«
In Leipzig: Vernunft, Witzkultur, Nüchternheit, Anlehnung an die Franzosen, in Zürich: Fantasie, Bewegung des Herzens, Enthusiasmus, Bewunderung Miltons - die Fronten des Leipzig-Züricher Literaturstreits lassen keinen Zweifel daran, wo der Fortschritt lag. Und schon bald erhob sich eine Stimme, deren Feuer jedes Argument noch übertraf. Am 10. August 1748 schreibt der junge Klopstock an Bodmer: »Und als Milton, den ich vielleicht ohne Ihre Übersetzung allzuspät zu sehen bekommen hätte, mir in die Hände fiel, loderte das Feuer, das Homer in mir entzündet hatte, zur Flamme auf und hob meine Seele, um die Himmel und die Religion zu singen.« Klopstock meinte damit seinen »Messias«. Mit ihm tritt er das Erbe der Schweizer an und eröffnet eine neue Epoche der deutschen Literatur.
Prof. Dr. Hans-Jürgen Schings
Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Band 6: Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik. 1740—1789, Beiträge von Sven Aage Jørgensen u. a. München1990.
Universal-Lexikon. 2012.