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Günter Grass
Günter Grass
 
Mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1999 wurde ein deutscher Schriftsteller geehrt, der sich Publikum und Kritik nie angedient hat, der nie vor unbequemen Fragen und provozierenden Antworten zurückschreckt, der durch seine Biografie prädestiniert war und ist, als Mahner und Einmischer die deutsche und die europäische Zeitgeschichte zu begleiten.
 
 Ausgangsort: Danzig
 
Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren. Die deutsch-polnischen Eltern hatten ein Lebensmittelgeschäft. Im Krieg war Grass zunächst Flakhelfer, wurde 1944 als Panzerschütze einberufen und diente an der Ostfront. Er wurde bei Cottbus verwundet und kam schließlich in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1946 entlassen wurde. Die Versuche, im Nachkriegs(west)deutschland zu überleben, als Landarbeiter, Bergmann, Jazzmusiker, führten ihn über eine Steinmetz- und Bildhauerlehre zum Studium von Grafik und Bildhauerei, 1949 bis 1952 an der Kunstakademie in Düsseldorf, dann bis 1956 in (West-)Berlin.
 
Neben die bildkünstlerischen Interessen waren früh die literarischen getreten - die Doppelbegabung war bereits früh von der Mutter gefördert worden -, die in der Berliner Zeit schon zu Publikationen führten: Die erste Buchveröffentlichung »Die Vorzüge der Windhühner« (1956) zeigt sowohl den Lyriker und Prosaschriftsteller als auch den Zeichner Grass. In dieser ersten Schaffensphase beschäftigte sich Grass auch mit dem Theater. Der Autor rückt diese am absurden Theater orientierten Stücke in die Nähe seiner Lyrik; sie stießen auf wenig Resonanz beim Publikum, allenfalls der Einakter »Noch 10 Minuten bis Buffalo« (1954) war ein Erfolg.
 
Von 1956 bis 1960 setzte Grass seine künstlerische Arbeit in Paris fort, publizierte aber weiter in Deutschland, u. a. Auszüge aus der »Blechtrommel«, die die Aufmerksamkeit der »Gruppe 47« auf ihn lenkten: 1958 erhielt er den »Preis der Gruppe 47«, mit dem er in die erste Reihe der deutschen Gegenwartsschriftsteller aufgenommen worden war.
 
 Der Welterfolg: »Die Blechtrommel«
 
Als der Roman »Die Blechtrommel« 1959 erschien, wurde er für den jungen Autor ein Sensationserfolg. Aus der Perspektive des Oskar Matzerath, der im Alter von drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen, entfaltet Grass ein Zeitgemälde der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das im Wechsel von realistischer und surrealistischer Darstellung, nüchterner Chronik und grotesker Fantasien, pikaresken Szenen und minutiösen Beschreibungen schonungslos mit dem deutschen Kleinbürgertum und seinem Versagen vor dem Nationalsozialismus abrechnet. Schauplatz ist vor allem die Heimatstadt des Autors, Danzig, das Leitmotiv die Blechtrommel, mit der Oskar gegen die Welt antrommelt und sie gleichzeitig interpretiert. Erzählt wird aus der Rückblende, als Beichte, die der unter Mordverdacht im Irrenhaus gelandete Trommler ablegt. Oskar Matzerath ist eine der einprägsamsten Figuren der deutschen Gegenwartsliteratur überhaupt, Symbol auch einer Epoche deutscher Geschichte und ihrer Reflexion im Nachkriegsdeutschland. Der Autor Grass erhielt damit - auch international - eine Stimme, die über den Literaturbetrieb hinaus gehört wurde. Die Verfilmung von Volker Schlöndorff 1979 brachte das Werk noch einmal nachdrücklich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.
 
  »Danziger Trilogie«
 
Der Schauplatz Danzig ließ Grass auch in den folgenden Jahren nicht los. Die Stadt wird ihm zum Modell deutscher Geschichte und Gesellschaft bis zum Zusammenbruch. Auf die »Blechtrommel« als den ersten Teil der »Danziger Trilogie« folgte 1961 »Katz und Maus«. Hier gestaltet Grass in der strengen Form der Novelle - durch den Protagonisten Mahlke - die Tragödie einer Jugend, die vergeblich die Erlösung durch kriegerische »Heldentaten« erhofft. Als dritter Teil erschien 1963 »Hundejahre«, wieder ein komplexer, vielschichtiger Roman, dessen nicht lineare Handlung, die von der Vor- bis in die Nachkriegszeit reicht, in viele Episoden zerfällt. Ihr symbolträchtiger zentraler Ort ist eine Fabrik für Vogelscheuchen (»nach dem Bilde der Menschen geschaffen«), der Titel bezieht sich auf eine Hundefamilie, die die Handlung begleitet und deren letzter Spross Lieblingshund Hitlers wird.
 
Klammer der »Danziger Trilogie« bilden über den Schauplatz hinaus das kleinbürgerliche Milieu, autobiografische Hinweise, die Erzählperspektive des Icherzählers und mehrere Personen, die wiederkehren. Der große Erfolg der »Blechtrommel« wiederholte sich bei den beiden anderen Werken allerdings nicht. Die Stadt Danzig dankte ihrem Chronisten mit der Verleihung der Ehrenbürgerwürde 1993.
 
 Politische Aktivitäten
 
Als einer von wenigen Schriftstellern der Bundesrepublik hat sich Grass mehr als ein Jahrzehnt lang aktiv in das politische Geschehen eingemischt. Für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Willy Brandt bestritt er vor den Bundestagswahlen 1961, 1965, 1969 und 1972 Wahlkampfauftritte, verfasste publizistische Texte und Reden, die in tagespolitische Auseinandersetzungen eingriffen. Der 1972 erschienene nicht fiktionale Text »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, der die Notizen und Beobachtungen des Wahlkampfes 1969 verarbeitet, erlaubt einen Einblick in diese direkte politische Arbeit. Der Erzähler Grass meldete sich in diesen Jahren kaum zu Wort, aber der Dramatiker trat wieder an die Öffentlichkeit, mit »Die Plebejer proben den Aufstand« (uraufgeführt 1966). Den Stoff für das »deutsche Trauerspiel« holte er sich aus der Zeitgeschichte; es geht um den Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953 in der DDR und um die Haltung Bertolt Brechts dazu, der im Stück als »Chef« auftritt. Grass verknüpft den Aufstand draußen mit einer Probe des Shakespeare-Stückes »Coriolan« im Theater und zeigt das Scheitern des Künstlers in der Konfrontation mit der Wirklichkeit. Obwohl das Thesenstück weder beim Publikum noch bei der Kritik auf große Resonanz stieß, blieb es sein bekanntestes, wohl, weil der Titel in die geflügelten Worte der deutschen Sprache einging.
 
Wenig Erfolg, wenigstens bei den deutschen Lesern, hatte auch der Roman »Örtlich betäubt« (1969), dessen Icherzähler (wieder eine Figur aus der »Danziger Trilogie«) sich auf dem Zahnarztstuhl Varianten seiner Biografie vorstellt, in die die aktuellen politischen Ereignisse (68er-Bewegung, Vietnamkrieg) eingebunden sind.
 
 Der erzählerische Neuanfang
 
1972 zog sich Grass aus dem öffentlichen Leben weitgehend zurück, von Berlin zog er nach Schleswig-Holstein, wo er seitdem lebt. Erst 1977 erschien ein neuer großer Roman, »Der Butt«. Der Icherzähler ist diesmal der Autor selbst mit genau fixiertem biografischem Hintergrund, der verwoben ist mit dem Märchen vom Butt. Grass entnimmt das Motiv des Fisches, der Wünsche erfüllt und damit Schicksale lenkt, dem Märchen »Von den Fischer un siine Fru«, deutet es aber um: Über alle Epochen der Menschheit hin hat der Butt die Geschichte als Männergeschichte beeinflusst, die nun in eine (Umwelt-)Katastrophe geführt hat. Grass stellt zwar die zivilisatorischen Leistungen der Frauen den zerstörerischen Taten der Männer entgegen, lässt aber offen, ob Frauen - in Machtpositionen gelangt - die Geschicke der Menschheit besser lenken können.
 
Die neu gewonnene Position des Erzählerichs nutzte er auch in seiner Erzählung »Das Treffen in Telgte« (erschienen 1979). In raffinierter, überzeugender Fiktion protokolliert er ein Treffen berühmter Dichter (auch der Musiker Heinrich Schütz ist dabei) am Ende des Dreißigjährigen Krieges, in der Nachbarschaft der Friedensverhandlungen von Münster und Osnabrück. Die Meistererzählung spielt souverän mit den Elementen der Barocklyrik, mit der Biografie Grimmelshausens, gleichzeitig aber mit den Ritualen der »Gruppe 47«, denn das Werk ist eine Hommage an Hans Werner Richter, der in der Person Simon Dachs porträtiert ist. Der schon 1980 folgende, mit politischen Botschaften zu allen Weltproblemen überfrachtete Prosaband »Kopfgeburten oder die Deutschen sterben aus« wurde kein Publikumserfolg. Der Schriftsteller Grass zog sich wohl deshalb für die nächsten Jahre hinter dem Grafiker zurück, der vor allem Radierungen und Lithographien vorlegt (u. a. »Nachruf auf einen Handschuh«, 1982).
 
Das nächste literarische Projekt, eine umfangreiche Prosaarbeit, trägt keine Gattungsbezeichnung, die der Autor selbst gewählt hätte. Er schreibt in »Die Rättin« (erschienen 1986) gegen die »Selbstzerstörung des Menschengeschlechts« an. Das Buch ist eine Collage aus mehreren Handlungsebenen, zusammengehalten von der Rättin, die aus den Träumen des Autors aus »posthumaner Zeit« Botschaften und Bilder schickt. Grass greift weit aus, um seine Ängste um die Zukunft zu artikulieren, die mögliche Vernichtung der Menschen durch die Neutronenbombe wird ebenso thematisiert wie das Sterben der Wälder und die Verschmutzung der Meere. Dabei tauchen Personen und Motive vorangegangener Werke auf: Oskar Matzerath, der nicht mehr trommelt, sondern Videos produziert, um die Menschen aufzurütteln, der Butt und andere Märchenfiguren sowie die vage Hoffnung, dass Frauen das Verhängnis abwenden könnten.
 
Und wieder zog sich Grass aus der - deutschen - Öffentlichkeit zurück. 1986/87 lebte er in Indien, vor allem in Kalkutta. Die deprimierenden Eindrücke dieser Monate, Schmutz, Gewalt, Tod und Vernichtung, gab er durch Zeichnungen, Notizen und Lyrik in »Zunge zeigen« (1988) wieder.
 
 Grass im wieder vereinigten Deutschland
 
Die Ereignisse des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs 1989/90 forderten den Zeitkritiker Grass heraus. In Reden und Interviews mahnte er unermüdlich vor (west-)deutscher Überheblichkeit, erinnerte an die deutsche Schuld und Verantwortung vor der Geschichte und vor neuer Großmachtsucht (»Deutscher Lastenausgleich. Wider das dumpfe Einheitsgebot. Reden und Gespräche«, 1990; »Gegen die verstreichende Zeit. Reden, Aufsätze und Gespräche 1989-91«, 1991; »Rede vom Verlust. Über den Niedergang der politischen Kultur im vereinten Deutschland«, 1992); in »Totes Holz. Ein Nachruf« (1990) warnte er vor der atomaren Katastrophe.
 
Aber auch der Erzähler Grass griff das Thema auf, zuerst in der Erzählung »Unkenrufe« (1992), die um die schwierige deutsch-polnische Versöhnung kreist, aber darüber hinaus, zum Teil in satirischer Überzeichnung, alle Zeitprobleme bündelt, von denen der Autor nicht loskommt. Leitmotiv ist diesmal die Unke, deren sprichwörtlich auf Unglück deutende Rufe vor dem Verhängnis warnen: Geschäftemacherei statt wahrer Versöhnung, nationale Vorurteile, Elend der Dritten Welt, Klimakatastrophe. Ausländerfeindliche Anschläge in Deutschland trugen zur pessimistischen Weltsicht des Schriftstellers bei (verarbeitet im Sonettenzyklus »Novemberland«, 1993).
 
1995 erschien der lang erwartete große Roman, der den historischen Umbruch verarbeitet: »Ein weites Feld«. Der kompliziert gebaute, komplexe Text hat zwei Hauptfiguren, die beide ihre Vorbilder in der deutschen Literatur haben. Theo Wuttke, genannt Fonty, ist ein Wiedergänger Theodor Fontanes, in seinem Gegenspieler Hoftaller lebt der Spitzel Tallhover aus Hans-Joachim Schädlichs gleichnamigem Roman (erschienen 1986) weiter. Durch diese Konstellation schafft Grass den Rahmen für Reflexionen über anderthalb Jahrhunderte deutscher Geschichte, von der Märzrevolution 1848 bis in die Jahre 1989/90, die sich in Gesprächen niederschlagen, die die beiden Männer im Berlin der Wendezeit führen. Wie schon der Titel auf Fontane weist (der alte Briest, Effis Vater, umschreibt damit einen Vorgang, über den kein endgültiges Urteil möglich ist), so enthält das gesamte Buch vielfältige Bezüge zu Biografie und Werk Fontanes. Obwohl der Roman ein Verkaufserfolg war, wurde er von der Kritik zwiespältig aufgenommen, zum Teil sogar scharf abgelehnt (so öffentlichkeitswirksam durch Marcel Reich-Ranicki im »Spiegel«).
 
Die persönliche Betroffenheit des Erzählers Grass schlug sich in der erneuten Hinwendung zur bildenden Kunst und zur Lyrik nieder, die 1997 den bibliophilen Band »Fundsachen für Nichtleser« hervorbrachte, der Gedichte und Aquarelle in chronikähnlicher Ordnung vereint. In diesen Jahren war in den Medien das bevorstehende Ende des 20. Jahrhunderts in Bilanzen, Rückblicken und Bewertungen allgegenwärtig. Der Zeitzeuge, Künstler und Schriftsteller, der scharfe Beobachter und treffsichere Sprachkünstler fügte diesen Stimmen mit »Mein Jahrhundert« (1999) eine bedeutende hinzu. Jedem Jahr dieses Jahrhunderts ist eine Geschichte gewidmet, die aus jeweils unterschiedlicher Perspektive erzählt wird, von Männern und Frauen aller Schichten und aller politischen Bekenntnisse.
 
Günter Grass hat vielfältige Ehrungen erfahren, nationale (so den Georg-Büchner-Preis 1965, den Fontane-Preis der Stadt Berlin 1968, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste 1994) und internationale (unter anderem den Premio Letterario Viareggio 1978, den Premio Principe de Asturias 1999). Er selbst stiftete Preise, um junge Autoren zu fördern (so den Alfred-Döblin-Preis). Besonders engagierte er sich für das Roma-Volk, für das er 1997 eine Stiftung errichtete. Die Verleihung des Nobelpreises für Literatur 1999 überraschte nicht. Er erhielt ihn für sein Gesamtwerk, besonders erwähnt wurde aber »Die Blechtrommel«. Das Preiskomitee würdigte den Autor, der »in munter schwarzen Fabeln das vergessene Gesicht der Geschichte gezeichnet« und sich als »Spätaufklärer« in einer Zeit bekannt habe, die der Vernunft müde geworden sei.

Universal-Lexikon. 2012.