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Zeitgeschichte
Zeit|ge|schich|te 〈f. 19; unz.〉 Erforschung u. Beschreibung des gegenwärtigen u. jüngstvergangenen polit. Geschehens

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Zeit|ge|schich|te, die:
1. geschichtliche Gegenwart u. jüngste Vergangenheit:
Persönlichkeiten der Z.
2. Geschichte (1 b) der gegenwärtigen u. gerade vergangenen Zeit (4).

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Zeitgeschichte,
 
allgemein der geschichtliche Zeitraum, der der Gegenwart unmittelbar vorausgeht (»jüngste Phase der Neuzeit«) und bei Historikern seit der Antike (z. B. bei Thukydides) Gegenstand des Interesses war; formierte sich als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft besonders nach dem Zweiten Weltkrieg; die Grenzen zur Politikwissenschaft sind fließend.
 
In der ersten Nummer der »Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte« (»Zeitgeschichte als Aufgabe«) definierte H. Rothfels 1953 Zeitgeschichte als »Epoche der Mitlebenden«. Im Gegensatz zu den in der französischen Geschichtswissenschaft gebräuchlichen Begriffen »histoire contemporaine« (Beginn um 1789) und »histoire du temps présent« (Beginn etwa 1939), der in Großbritannien üblichen Bezeichnung »contemporary history« (ursprünglich mit den britischen Reformgesetzen ab 1832 beginnend, heute für die Geschichte des 20. Jahrhunderts) und dem in der DDR ab 1945 datierten Begriff der Zeitgeschichte entwickelte Rothfels einen dynamisch angelegten Begriff, der an nichts gebunden ist als an die Zeitspanne der lebenden Generationen. Daraus ergibt sich die Frage der Grenzziehung zwischen der Zeitgeschichte und den früheren Geschichtsepochen. Als »Schwellendatum« für den Übergang von der neueren Geschichte zur Zeitgeschichte sah Rothfels den Zeitpunkt 1917/18, d. h. den Eintritt der USA in die Weltpolitik und den Beginn der russischen Oktoberrevolution oder - ideengeschichtlich betrachtet - die beginnende Auseinandersetzung zwischen demokratischem Staatsdenken, Faschismus und Kommunismus. Mit der fortschreitenden Zeit stellte sich die Frage nach einer Verschiebung des Schwellendatums auf einen späteren Zeitpunkt. Um diesem definitorischen Dilemma zu begegnen, führte K. D. Bracher den Begriff der »doppelten Zeitgeschichte« ein, d. h. die Unterteilung der Zeitgeschichte in die »ältere Zeitgeschichte« (1917/18-45) und die »jüngere Zeitgeschichte« (seit 1945).
 
Methodologische Probleme:
 
Im Vergleich mit der Erforschung der weiter zurückliegenden Vergangenheit hat sich die Zeitgeschichte als Wissenschaft mit drei methodologischen Problemkreisen auseinander zu setzen: mit der spezifischen Quellenlage, der mangelnden zeitlichen Distanz des Forschenden zu seinem Untersuchungsgegenstand sowie der Unabgeschlossenheit zeitgeschichtlicher Verhältnisse und Entwicklungen. Einerseits ist der Zugang zu Quellen teilweise durch eine langjährige Archivsperre sowie (neuerdings) durch Datenschutzbestimmungen eingeschränkt; andererseits stehen der Zeitgeschichtsforschung unter den Bedingungen einer erhöhten Publizität politischer Entscheidungsprozesse in einer pluralistischen Gesellschaft eine überreichliche Fülle von Quellen und neue Quellengattungen - z. B. Film, Fernsehen, statistische Erhebungen, Zeitzeugenbefragung (Oral History) - zur Verfügung. Angesichts der Tatsache, dass audiovisuelle Medien, besonders das Fernsehen, nicht allein den historischen Prozess widerspiegeln, sondern zugleich wirksame Einflussfaktoren auf den historischen Prozess selbst sind (z. B. die Wirkung der Fernsehberichterstattung auf den Rückzug der USA aus Vietnam oder der »Westmedien« auf die Geschichte der DDR, die Rolle der Medien in den politischen Revolutionen in Mittel- und Osteuropa 1989-91) wird deutlich, dass mit dem Heranziehen neuer Quellengattungen auch die quellenkrittischen Verfahren der Geschichtswissenschaft geändert oder erweitert werden müssen.
 
Die Frage nach der Distanz zum Forschungsgegenstand stellt sich in den Gesellschaftswissenschaften generell, besonders jedoch in der zeitgeschichtlichen Forschung. Dabei besteht die Gefahr, dass das Eingebundensein des Zeithistorikers in den Geschichtsablauf (z. B. in seiner ideologischen Orientierung, seinen parteipolitischen Präferenzen, seinem Engagement für gesellschaftliches Anliegen) den wissenschaftlichen Untersuchungsansatz, die Auswahl und Deutung der Quellen und die Art der Darstellung beeinflusst. Die Unabgeschlossenheit der Zeitgeschichte erschwert zusätzlich das Urteil über zeitgeschichtlichen Entwicklungen und handelnde Personen. Andererseits eröffnet die Beschäftigung mit der Zeitgeschichte der Geschichtswissenschaft verstärkt die Möglichkeit, methodische Anregungen anderer gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen (Soziologie, Politik-, Wirtschaftswissenschaft) aufzugreifen.
 
Entwicklung der deutschen Zeitgeschichtsforschung:
 
Unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Diktatur und ihrer Verbrechen begann in den 50er-Jahren - v. a. mit der Gründung des Instituts für Zeitgeschichte - die Zeitgeschichtsforschung in der Bundesrepublik Deutschland als Erforschung des Nationalsozialismus (einschließlich seiner Vorgeschichte), des Holocausts und des Zweiten Weltkriegs. Wenngleich dieser Forschungsbereich bis heute ein zentrales Thema der Zeitgeschichte geblieben ist (Historikerstreit, Vergangenheitsbewältigung), traten seit den 60er-Jahren Vorgeschichte und Verlauf des Ersten Weltkriegs (Kriegsschuldfrage; »Fischer-Kontroverse«), in den 70er-Jahren die Besatzungszeit in Deutschland sowie die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland und der DDR stärker in den Vordergrund. In den 80er-Jahren entwickelte sich die deutsche Spaltung vor dem Hintergrund ihrer internationalen Dimension zu einem weiteren Themenschwerpunkt. Herrschten in den 50er-Jahren besonders - auch von der Auseinandersetzung im Kalten Krieg geprägten - ideen- und ereignisgeschichtlichen Forschungsarbeiten vor, so traten in den 60er- und 70er-Jahren sozial-, wirtschafts- und strukturgeschichtliche Studien, in den 80er-Jahren alltags-, erfahrungs-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen in den Vordergrund. Mit der Prosopographie entstand ein neuer Forschungsansatz. - In der DDR wurde die Zeitgeschichtsforschung, institutionell v. a. gelenkt und betrieben von SED-Einrichtungen, in legitimatorischer Absicht besonders gefördert und blieb eindeutig von politischen Vorgaben bestimmt. Seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes (1989/90) kamen die Ergebnisse der Zeitgeschichtsforschung sowie Haltungen führender Vertreter selbst auf den Prüfstand, da nun neue Sichtweisen notwendig und neue Quellen zugänglich wurden (u. a. alle relevanten DDR-Akten, zum Teil und sehr erschwert russische Akten). - Inzwischen hat die Erforschung der SBZ/DDR beziehungsweise des Kommunismus sowie die deutsche Frage zur Zeit der deutschen Teilung (als Vorgeschichte des 1990 neu vereinten Deutschland) eine den Forschungen zum Nationalsozialismus/Holocaust vergleichbare Dichte und Breite angenommen. Forschungsmethodisch gewann - nicht unumstritten - der Diktaturvergleich neue Bedeutung und Dimension; inhaltlich standen die Totalitarismus- und die Transformationsforschung, aber auch - ansatzweise - eine komplexere alltags-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Betrachtung sowie biographische Arbeiten im Zentrum. Ungebrochen erscheint die politische Instrumentalisierbarkeit der »doppelten Vergangenheit« der Deutschen. (Geschichtswissenschaft, Osteuropaforschung)
 
Literatur:
 
Allgemeines: G. Ritter: Wiss. Historie, Z. u. »polit. Wiss.« (1959);
 H. Rothfels: Zeitgeschichtl. Betrachtungen (21963);
 B. Scheurig: Einf. in die Z. (21970);
 R. Beck: Wb. der Z. seit 1945 (1967);
 
Dokumentation zur österr. Z. 1938-1945, hg. v. C. Klusacek u. a., 2 Bde. (1971);
 E. Jäckel: Begriff u. Funktion der Z., in: Die Funktion der Gesch. in unserer Zeit, hg. v. E. Jäckel: u. a. (1975);
 
Objektivität u. Parteilichkeit in der Geschichtswiss., hg. v. R. Koselleck u. a. (1977);
 
Z. in Film u. Fernsehen, hg. v. K. F. Reimers u. a. (1982);
 K. D. Bracher: Doppelte Z. im Spannungsfeld polit. Generationen, in: Z. u. polit. Bewußtsein, hg. v. B. Hey u. a. (1986);
 
Dt. Geschichtswiss. nach dem Zweiten Weltkrieg, hg. v. E. Schulin (1989);
 M. Peter u. H. J. Schröder: Einf. in das Studium der Z. (1994);
 Gerhard Schulz: Einf. in die Z. (Neuausg. 1997);
 C. Kleßmann: Z. in Dtl. nach dem Ende des Ost-West-Konflikts (1998).
 
Bibliographien: Jahresbibliogr. der Bibliothek für Z., Jg. 32 ff. (1961 ff., früher u. a. T.); Bibliogr. zur Z., hg. v. T. Vogelsang u. a., auf mehrere Bde. ber. (1982 ff.);
 P. Malina u. G. Spann: Bibliogr. zur österr. Z. 1918-1985 (Wien 1985);
 
Bibliogr. Politik u. Z., bearb. v. I. Butt u. a., 6 Bde. (1993).
 
Zeitschriften: Gesch. in Wiss. u. Unterricht (1950 ff.); Aus Politik u. Z. Beilage der Wochenzeitung Das Parlament (1953 ff.); Vjh. für Z. (1953 ff.); Dtl.-Archiv (1968 ff.); Gesch. u. Gesellschaft (1975 ff.).
 
Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:
 
Zeitgeschichte: Wandel im 20. Jahrhundert
 

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Zeit|ge|schich|te, die <o. Pl.>: 1. geschichtliche Gegenwart u. jüngste Vergangenheit: Persönlichkeiten der Z. 2. Geschichte (1 b) der gegenwärtigen u. gerade vergangenen ↑Zeit (4).

Universal-Lexikon. 2012.