Literaturnobelpreis 1916: Verner von Heidenstam
Der Schwede erhielt den Nobelpreis für »in Anerkennung seiner Bedeutung als der führende Vertreter einer neuen Epoche in der Literatur«.
Verner von Heidenstam, * Olshammar (Schweden) 6. 7. 1859, ✝ Övralid (Schweden)20. 5. 1940; 1876-78 Reise nach Ägypten, Palästina, Syrien, Griechenland, ab 1879 Studium der Malerei in Rom und Paris, 1884 Bekanntschaft mit August Strindberg in der Schweiz, 1887 Rückkehr nach Schweden, 1909 Ehrendoktor der Hochschule in Stockholm; 1912 Aufnahme in die Schwedische Akademie.
Würdigung der preisgekrönten Leistung
Als Heidenstam 1916 der Nobelpreis verliehen wurde, hatte er den Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn überschritten. Zwar hatte er ein Jahr zuvor seine letzte Gedichtsammlung »Nya dikter« (schwedisch; Neue Gedichte) veröffentlicht, die von vielen mit zu den Besten seines Schaffens gezählt wird, aber seine wichtige Position innerhalb der schwedischen Literatur hatte er schon mehrere Jahrzehnte zuvor erreicht. Als er mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, bezog sich dies darauf, dass er als eine der Hauptfiguren die Literatur der 1890er-Jahre eingeläutet hatte, die sich von der des vorausgehenden Jahrzehnts so deutlich unterschied. War diese überwiegend von einer die aktuellen Probleme der Gesellschaft diskutierenden Haltung geprägt, forderte Heidenstam in seinen programmatischen Schriften »Renässans« (schwedisch; Renaissance; 1889) und »Pepitas bröllop« (schwedisch; Pepitas Hochzeit; 1890; gemeinsam mit seinem Freund Oscar Levertin) die Abkehr von den »grauen 80ern«, die Überwindung des »Schuster-Realismus«, der Schilderung des Alltags.
Ein neues ästhetisches Bewusstsein
Heidenstam verkündete Individualismus, wo vorher Gesellschaftskritik vorherrschte, Einfallsreichtum und Fantasie, wo bislang realistische Schreibweisen an der Tagesordnung waren, Schönheitskult, wo früher grauer Alltag geschildert wurde. Er verfolgte eine idealistische, romantische Tradition, er trat für eine farbenreiche, fantasievolle und lebensbejahende Dichtung ein, inspiriert vom europäischen Symbolismus. All dies war nach seiner Meinung in völliger Übereinstimmung mit dem schwedischen Nationalcharakter, den zu suchen er bestrebt und den zu finden er sicher war. Damit hatte er eine Saite angeschlagen, deren Ton immer lauter wurde: Das Jahrzehnt ist reich an nationalen und historischen Strömungen.
Vom Orient beeinflusst
Doch bevor Heidenstam sein Programm verkündete, läutete er die 1890er-Jahre durch sein poetisches Debüt ein: 1888 war die Gedichtsammlung »Vallfart och vandringsår« (schwedisch; Wallfahrt und Wanderjahre) erschienen. Hiermit war ein neuer Ton angestimmt. Zeittypisch ist dabei die Verherrlichung des großen Menschen und ein gewisser exotischer Orientalismus, der in seinem Fall auch dadurch bedingt war, dass er, der aus begüterten Verhältnissen stammte, in den Jahren 1876 bis 1878 den Vorderen Orient bereist hatte.
Diese Sympathie für den Orient wird auch in seinem Prosadebüt von 1889 deutlich, dem Roman »Endymion«, eine tragische Liebesgeschichte zwischen dem arabischen Helden Emin und der amerikanischen, im europäischen Geist erzogenen modernen Frau Nelly. Orientschwärmerei ist ebenfalls ein wesentlicher Zug seines nächsten Romans »Hans Alienus« (1892), einem komplexen Werk, das Vers und Prosa, Realismus und Symbolismus mischt, das Grenzen von Raum und Zeit aufhebt. Es handelt sich um eine Wanderung, eine Pilgerfahrt auf der Suche nach Schönheit. Hans, »der Fremdling«, begibt sich nach Rom, taucht dann in die Vergangenheit hinab, gelangt zu König Sardanapal von Ninive und erreicht danach das Land vermeintlich klassischer Schönheit, Griechenland. Doch auch hier begegnet ihm nicht die »edle Einfalt und stille Größe«. Sein Glück findet er am Ende erst zu Hause in der schwedischen Provinz. Vielleicht ist dieses Buch ein fantastischer Ideenroman aus romantischem Geist, die Revolte gegen Naturwissenschaft, Technik und Nützlichkeitsdenken und richtet sich gegen die ganze bürgerliche Kultur des 19. Jahrhunderts. An deren Stelle treten Individualismus, Schönheitskult und Hedonismus. Doch diese Form des Ästhetizismus ist zum Untergang verurteilt. Das Gefühl des Fremdseins, der Einsamkeit und der Schwermut, der entartete Sensualismus und der nachdrückliche Schönheitskult, der mit dem Abscheu vor dem Hässlichen einhergeht, lassen sich leichter verstehen, wenn man sie vor dem Hintergrund von Zarathustra, von Gustav Mahlers Symphonien, der Traumdeutung, der Dichtung von Mallarmé und des Lebensfrieses von Edvard Munch sieht.
Erwachen des Nationalgefühls
Die bis dahin höchste Anerkennung für ein Buch erhielt Heidenstam für »Karl XII. und seine Krieger« (1897/98), ein Kranz von Erzählungen um den schwedischen König Karl XII., der Schwedens Großmachstellung verspielt und sein Land ruiniert hatte. Hier tritt der König als tragischer Charakter auf und wird als ein typischer Vertreter des schwedischen Wesens gesehen. Hierdurch hat Heidenstam dem schwedischen Mythos von einstiger Größe neue Nahrung gegeben. Unter der großen Idee eines großen Mannes hatte seine Umgebung zwar zu leiden, wurde aber durch das Opfer und durch den Dienst für den König geadelt. Das Exotische war endlich durch das Vaterländische ersetzt worden. Durch die Bewunderung für den »Heldenkönig« war er zum Meister der national gesinnten Dichtung geworden. Diese Stellung festigte er 1899 durch eine neue Nationalhymne, »Schweden, Schweden, Schweden, unser Heimatland«, wodurch er endgültig die Oberschicht und den König auf seiner Seite wusste. Zustimmung fanden auch weitere historische Romane aus dem schwedischen Mittelalter wie »Folkungaträdet« (Der Stamm der Folkunger; 1905-07).
Heidenstam, der Nationaldichter
Die sorgfältig von ihm inszenierten Feierlichkeiten zu seinem 50. Geburtstag 1909 erhoben ihn in den Rang eines Nationaldichters, der glaubte, als geistiger Führer für das ganze Volk zu sprechen. In der großen Debatte dieser Zeit um die Aufrüstung Schwedens hielt sich Heidenstam auf der Seite der Konservativen — und konservativ ist er Zeit seines Lebens gewesen. Eben wegen seiner nationalen und konservativen Haltung ist er 1912 in die Schwedische Akademie aufgenommen worden, und wohl auch aus diesen Gründen wurde ihm der Nobelpreis verliehen. Heidenstams Schaffen war an sein Ende gelangt, seine Autobiografie »Als die Kastanien blühten« blieb Fragment und erschien erst ein Jahr nach seinem Tod. Seine Bewunderung für Mussolini und Hitler lag ganz in der Konsequenz seines nationalistischen Denkens.
Heidenstam ist eine Figur voller Widersprüche: Der Gesellschaftslöwe und Gutsherr schrieb in seinen Gedichten wie kaum ein anderer über Einsamkeit und Sehnsucht, dem sich so selbstbewusst gebenden und selbstsicher auftretenden Dichter waren Stimmungen von Vergänglichkeit und Melancholie nicht fremd.
H. Uecker
Universal-Lexikon. 2012.